Es war in der Messebuchhandlung der Leipziger Buchmesse, wo mir „Der Spieler“ auffiel. „Nie einen Dostojewskij gelesen.“ Und das wollte ich ändern. Tatsächlich lief mir aber in den letzten Monaten ständig „Schuld und Sühne“ (bzw. „Verbrechen und Strafe“ wie es in der Neuübersetzung heißt) über den Weg. In einem Artikel über die wichtigsten Fragen des Lebens und die Antworten darauf, hieß es man solle auf die Frage nach einer Buch-Empfehlung immer „Verbrechen und Strafe“ von Dostojewskij antworten. Egal, ob man das Buch gelesen hat. (Was für ein Bullshit.) Und in Paul Austers „4 3 2 1“ ist es DAS Buch, das den Protagonisten davon überzeugt, dass er schreiben will. Aber nun hatte ich mir in den Kopf gesetzt, dass mein erster Dostojewskij eben „Der Spieler“ sein sollte. Vielleicht keine gute Entscheidung.
„Roulettenburg“, oder: kein Russland-Roman?
Wir werden eiskalt in das Geschehen im fiktiven, deutschen Städtchen Roulettenburg geworfen und wissen anfangs wenig. Da sind zuerst einmal nur die Wirren um Schulden, eine erkrankte Großmutter, eine russische Familie in einer deutsche Stadt Ende des 19. Jahrhunderts und unseren Ich-Erzähler, der mal angehalten wird Roulette zu spielen, mal dafür gescholten. Erst nach und nach erfahren wir, dass unser fünfundzwanzigjähriger Ich-Erzähler Aleksej Iwanowitsch heißt und als Hauslehrer die Kinder eines russischen Generals unterrichtet, der in der deutschen Kurstadt residiert. Dass das Geld knapp ist, wird schnell deutlich. Der Generel ziert sich sogar Aleksej zu bezahlen. Nicht nur deswegen hat Aleksej für ihn wenig übrig. Wohl aber für dessen Stieftochter Polina, die ihm die kalte Schulter zeigt. Um die russische Familie schwirren alle möglichen Neureichen oder solche, die es gerne wären. Darunter der in der Tat reiche Franzose de Grieux, der Brite Astley und die Französin Mademoiselle Blanche, bei der nicht so wirklich klar ist, ob ihr Adelstitel echt oder erdichtet ist. Als man nervös auf ein Telegramm aus Russland wartet, wird Aleksej schnell klar warum. Die Familie muss inzwischen dank des Glücksspiels im örtlichen Casino nahezu bankrott sein und wartet auf die Nachricht aus Russland, dass die Großmutter das Zeitliche gesegnet hat und man das Erbe antreten kann. Kein Wunder, dass alle ganz nervös sind, als die Matrone plötzlich quicklebendig vor ihnen steht.
Wer spielt? Alle spielen.
Denn alte, reiche russische Großmutter kann nach einer Erkrankung nicht mehr laufen und hat wortwörtlich Träger, die sie überall hin befördern. Bis ins Casino, denn auch sie entdeckt das Glücksspiel für sich. Wer also anfangs wie ich angenommen hat, dass der Protagonist der titelgebende „Spieler“ sein muss, der liegt zwar nicht falsch, aber über mindestens zwei Drittel des Buches wirkt es eher so als ob es „Die Spieler“ heißen müsste, da alle spielen, nur Aleksej nicht oder zumindest nicht mit seinem eigenen Geld, sondern für Polina, die das Casino nicht betreten darf, weil es nicht schicklich für eine Frau ist. Die Großmutter sieht das wohl anders und bringt allgemein Schwung in den Laden. Zuvor wirkte die Erzählung etwas bieder und negativ, da alle Charaktere scheinbar einander hassen oder verachten. Selbst die Liebe Aleksejs zu Polina ist eine Hassliebe. Die Jagd nach dem Erbe der Großmutter und die sich langsam andeutenden, fragilen Beziehungsgefüge und Abhängigkeiten vom guten Willen anderer erinnern an Downton Abbey und Genrekollegen, die in „besseren“ Kreisen spielen. Und in einer Zeit, in der es noch durchaus passieren kann, dass man sich letzten Endes wegen eines Dumme-Jungen-Streichs duelliert und sein Leben auf’s Spiel setzt. Man fühlt sich etwas fremd in dieser Welt. Aber Hauptsache Fassung bewahren.
„Was nämlich ein echter Gentleman ist, verliert womöglich sein gesamtes Vermögen, aber niemals seine Fassung.“ p.22
Spätestens als die Großmutter mit ihrer forschen Art alle auf Trab hält und sich alle sehr um sie „sorgen“ (oder viel mehr in Sorge sind, dass sie deren Erbe verzockt), hat das Buch die Lacher auf seiner Seite. Später dann, wird aber Aleksej dem Titel gerecht und wird zum Spieler. Das Buch nimmt gegen Ende sehr an Fahrt auf und entführt uns von Deutschland sogar nach Frankreich und wieder zurück. Die Geschwindigkeit und das leidliche Ausbauen der Charaktere wird hier zum Problem. Warum sich Astley von einem Tag auf den anderen so feindselig gegenüber Aleksej verhält und was Polina scheinbar in den Wahnsinn treibt, mag erklärbar sein, aber kommt ohne viele Vorwarnungen und wirkt leidlich charakterisiert, vorbereitet, mehr skizziert. Dabei nahm sich Dostojewskij zu Beginn des Buches viel Zeit für die Entwicklung. Wer aufmerksam die vielen hilfreichen Anmerkungen und das Nachwort Alexander Nitzbergs liest, findet leichter Zugang zu dem Geschriebenen. Nicht nur um die vielen französischen Passagen zu verstehen (oder durchzustehen).
Dostojewskij und Nitzberg
Nitzberg erklärt viel zu Dostojewskij und der Entstehung des Buches. Dosto war selber eine Zeit lang in Deutschland auf Kur und verfiel dem Glücksspiel in Städten wie Bad Homburg oder Ems, die als Vorlage für das fiktive Roulettenburg dienten. Er schrieb den Roman in nur 26 Tagen, weil er das Geld brauchte und um eine fatale Deadline seines Verlegers zu erfüllen. Ist Der Spieler also ein Lückenbüßer? Vielleicht. In jedem Fall enthält es viel von dem, was Dostojewskij selbst erlebt hat. Spielsucht, die Freiheit alles verlieren zu können und eventuell doch irgendwie damit durchzukommen. Die knickerigen Deutschen kommen in dem Buch ebenso wenig gut weg wie alle anderen Nationen. Es hat keinen freundlichen Ton und seine Charaktere stehen am Rand der Verzweiflung oder der gesellschaftlichen Ausgrenzung. Allerdings wird die v.A. durch Geld bestimmt. D.h. wie gewonnen, so zerronnen, kann man den gesellschaftlichen Status mit ein bisschen Klimpergeld erkaufen. Ob sie es zugeben wollen oder nicht. Und auch psychische Labilität und unerwiderte Liebe hat Dostojewskij von sich auf seine Charaktere übertragen, die wiederum auch Menschen nachempfunden sind, die er getroffen hat. Zu schade nur, dass man den Schnellschuss dem Buch anmerkt. Selbst ohne Dosto vorher gelesen zu haben. Nichtsdestotrotz versprüht das Buch einen gewissen Geist in seiner Eile, den Übersetzer Alexander Nitzberg wie folgt in seinem Nachwort festhält:
„Indem der Mensch […] ausschert, nicht das von ihm Erwartete tut, ständig in Bewegung bleibt und nicht an äußerem Besitz festhält, entreißt er sich immer wieder dem Netz des Zweckmäßigen und der Herrschaft des Materiellen, stellt sich gewissermaßen über die Dinge und ist – und sei es nur für eine Sekunde – wirklich frei.“ (Alexander Nitzberg im Nachwort über Dostojewskijs Ideal vom Menschsein) p.205
Tatsächlich möchte ich fast soweit gehen, dass man Der Spieler am besten mit dem exzellenten Nachwort und den Anmerkungen liest, ansonst entgeht einem sehr leicht der Subkontext. Dank dem ist man Dostojewskij und den Spielern in dem Roman weitaus näher. Übrigens sollte das Buch zuerst Roulettenburg heißen, wurde aber vom Verleger Dostos abgelehnt und zu Der Spieler geändert.
Bisherige Artikel der Beitragsreihe
I: Ankündigung
II: Sachbuch-Besprechung zu „Russische Geschichte“ von Andreas Kappeler
III: Hörbuch-Besprechungen zu Sergei Lukjanenkos Wächter-Reihe Band 1 „Wächter der Nacht“
Header image photo credit: Stas Ovsky
Man könnte nach all dem also meinen, dass „Der Spieler“ nicht das idealste Buch für den „Russischen Herbst“ war, da es ja nun eben auch in Deutschland spielt. Das kam auch für mich überraschend, aber sowas passiert wohl manchmal bei Spontanentscheidungen und -käufen ohne lange Recherche. Aber es hat mich in jedem Fall einiges über Dostojewskij gelehrt und hat tatsächlich das eine oder andere aufgegriffen, was ich hier und da schon über die damalige russische Gesellschaft gelesen habe. Dass beispielsweise Französisch die Sprache des Adels war. Und streng genommen, war „Verbrechen und Strafe“ im Geiste nie weit weg, während ich „Der Spieler“ las. Denn „Der Spieler“ ist das Buch, dass Dostojewskij aus Geldnot geschrieben und wegen eines Zwists mit seinem Verleger schnell abgeben musste, während er sich eigentlich voll und ganz auf „Verbrechen und Strafe“ konzentrieren wollte. Und so habe ich doch (dank Alexander Nitzbergs Bearbeitung des Stoffs) überraschend viel über die Person Fjodor Dostojewskij gelernt, obwohl ich nicht danach gesucht hab. Beispielsweise: Dosto mag die Deutschen nicht. (Er hätte es bestimmt gehasst, dass ich Dosto sage. Ich werde es weiter sagen.)
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