Den gestrigen #ThrowbackThursday nehme ich mal als Anlass um zwei Buchbesprechungen in die Welt hinauszuschicken, die ich sehr lange vor mir hergeschoben habe. Die Bücher, die ich hier bespreche, hatte ich nämlich vor einem Jahr in Japan im Gepäck. Die Idee liegt auf der Hand: „in Japan Bücher japanischer Autoren lesen“. Die Aktion habe ich mir von Sabine abgeschaut, die auf Reisen öfter Bücher von Autoren des entsprechenden Landes liest, was ich sehr cool finde und rotzfrech nachgemacht habe. 😉 Beide Bücher habe ich in Japan tatsächlich hauptsächlich während langen Shinkansen-Fahrten gelesen – zumindest wenn ich nicht Bentō gegessen oder in Staunen oder Aufregung aus dem Fenster geschaut habe.
Haruki Murakami „Wenn der Wind singt / Pinball 1973“
Wenn der Wind singt erschien 1979 und war Haruki Murakamis Debüt, das er sehr lange nicht übersetzt und weiter verbreitet sehen wollte. Und wenn man den Roman liest, dann merkt man auch sehr schnell warum. Murakamis Einschätzung, dass es aus einer eher unreifen Phase seines Daseins als Autor stammt, ist realistisch. Und realistisch ist überraschenderweise auch der Roman. Kein Surrealismus, kein magischer Realismus – man folgt den Alltagserlebnissen und Gedanken eines 21-jährigen Mannes und seines besten Freundes Ratte. Beide hängen viel in einer Jazzkneipe rum und philosophieren über das Leben und vergangene Beziehungen. Zwischen den Zeilen kann man eine deutliche Entfremdung der Freunde von ihrer Umwelt erkennen, eine ansatzweise Orientierungslosigkeit. Der Zufall schreibt ihre Geschichte, so beispielsweise wenn unser Boku-Erzähler (Ich-Erzähler) seine Ex-Freundin im Radio erkennt, die ihm einen Song widmet. Episoden derart werden nicht erklärt und beinhalten damit eine seltsam melancholische-realistische Note. Es ist manchmal wie im echten Leben, wo man trotz des Wunsches nach Wahrheit und Erklärung nicht immer eine bekommt. Auch wenn der Rest der Geschichte sehr unreif erzählt ist, kennt zumindest jeder ansatzweise diesen Reiz der scheinbaren Ordnung, dem die Dinge unterliegen und bei der man selber darin verloren ist, sich ihr entweder unterzuordnen oder … eben nicht. Ich denke das ist ein großer Reiz, der vielen Murakami-Romanen und denen seiner Generation unterliegt. Es schimmert also durchaus schon ein wenig Murakamis Stil durch.
Unreif ist der Roman aber deswegen, weil er zu zusammenhangslos erzählt ist. Fans kohärenter Geschichten mit gut eingeleiteten Charakteren, Fortschritt und einem Ende ohne offene Fragen werden hier nicht glücklich. Auch die Charaktere sind etwas eigenwillig, da zumindest für mich als Leser nicht die sympathischsten. Sie werfen Dosen ins Meer und fahren betrunken Auto. All das mag ein Ausdruck dessen sein, dass sie scheinbar keinen wirklichen Platz in der Welt haben. Sorgt aber auch dafür, dass man als Leser auf Distanz bleiben will. Das wohl schwierigste ist aber, dass die Fortsetzung Pinball 1973 nicht kohärent wirkt. Ratte und den Ich-Erzähler gibt es immer noch. Aber die Lücken in ihrer beiden Geschichten sind so groß, dass man die Fragezeichen nicht ignorieren kann. Er war verheiratet und … was ist dann passiert? Ein großes Ereignis, über das kein weiteres Wort verloren wird.
Auch scheint Pinball 1973 an einigen Stellen auf der Zeitachse Wenn der Wind singt zu widersprechen. Andererseits sind die zu verortenden Fakten so rudimentär, das man sich nicht mal unbedingt sicher ist, ob man es nicht selber falsch einordnet. Im Gegensatz zu Wenn der Wind singt scheint Pinball 1973 einen Plot zu haben, dadurch dass sie versuchen einen Pinball-Spielautomaten ausfindig zu machen, in dem ein nahezu legendärer Highscore (und vielleicht?) damit verbundene Erinnerungen abgespeichert sind. Insofern hat Murakami schon auch recht, auch wenn man es anfangs nicht glaubt: es geht eben um Pinball. Und gerade dadurch um die immer noch anhaltende Entfremdung zweier Freunde von ihrer Umwelt, obwohl sie älter und weiser werden. Lieber eine Obsession mit Pinball eingehen – wenn ich an manchen Tagen Nachrichten höre, kann ich es ihnen nicht verübeln. Bemerkenswert ist, dass der Ich-Erzähler Biologie studiert hat, aber beide ein Übersetzungsbüro aufmachen – wirkt „sehr Murakami“. 😉 Befremdlich und irgendwie nur als „Guilty-Männerfantasien-Pleasure“ tauglich ist hingegen, dass der Ich-Erzähler eine zufällig eingestreut wirkende Beziehung mit einem Zwillingspärchen eingeht. Selten hat sich „was ich gut finde“ und „was nicht“ so die Waage gehalten.
Die beiden Romane gehören zur Ratten-Tetralogie Murakamis, die mit Wilde Schafsjagd und Tanz mit dem Schafsmann fortgesetzt wird. Zwar gefiel mir der Ton beider Geschichten gut, aber ich bin nicht warm genug mit den Protagonisten und der narrativen Löchrigkeit geworden als dass ich in näherer Zeit die Fortsetzungen lesen würde. Am besten hat mir eigentlich das Vorwort gefallen, in dem Haruki Murakami unverblümt von einer Zeit redet, in der er vor dem finanziellen Ruin stand und einen auf der Straße gefunden Geldschein als Geschenk des Himmels betrachtete. Und davon wie er einfach so anfing zu schreiben und nicht damit gerechnet hätte, dass das den Grundstein für eine Autorenkarriere legt. Wenn ich so darüber nachdenke ist es vielleicht sogar sehr wichtig, dass er doch noch der Übersetzung und weiteren Veröffentlichung zustimmte. Zumal die beiden Geschichten auch so ihre Fans finden werden, auch wenn ich nicht dazu gehöre, und man Zeuge eines Anfangs wird.
Fazit
(Zu) löchrige Erzählung, in der aber schwach der Zeitgeist einer ganzen von der Gesellschaft entfremdeten Generation durchscheint
Besprochene Ausgabe: ISBN 978-3-8321-9782-7, Dumont
Yōko Ogawa „Das Geheimnis der Eulerschen Formel“
Meine erste Begegnung mit Yōko Ogawa war spät, schließlich schlich ich seit einer Weile um ihre Bücher herum. Dafür aber hallte sie eine Weile nach. Das Geheimnis der Eulerschen Formel handelt von einer alleinerziehenden Mutter, die als Haushälterin von einem neuen Arbeitgeber engagiert wird. Genauer soll sie den Haushalt eines ehemaligen Mathematikprofessors schmeißen, der einsam und zurückgezogen lebt. Seine Erscheinung und Gebaren bedürfen einiger Fußnoten.
Seit einem Verkehrsunfall ist sein Kurzzeitgedächtnis in Mitleidenschaft gezogen. Er vergisst alles, was länger als 80 Minuten zurückliegt. Um sich selbst an bestimmte Dinge zu erinnern, heftet er Post-its an seine Kleidung. Tragischerweise muss er sich jeden Tag nach dem Aufwachen neu daran erinnern, dass sein Leben vollkommen anders ist als er es erwartet und dass er „Zeit verloren“ hat. Auch muss er sich jeden Tag daran erinnern wer seine Haushälterin ist. Aber beide kommen mit der Lage klar. Desto länger sie bei ihm arbeitet, desto mehr gewöhnt sie sich an seine Eigenarten und seine Konstitution. Als sie ihren zehnjährigen Sohn ab und zu mitbringt, scheinen die drei zu einer kleinen Familie zusammenzuwachsen. Er hilft ihm bei den Hausaufgaben und weckt sowohl bei ihm als auch seiner Mutter die Faszination für Mathematik.
Die drei, die sich wenn nicht unter diesen Umständen, wohl nie getroffen hätten, geben sich gegenseitig etwas, von dem sie wohl selber nicht dachten es zu finden. Ogawa erzählt gefühlvoll und herrlich unaufgeregt und unterhaltsam von den Dreien. Neben der Lebensgeschichte des Professors spielt auch das Leben der Haushälterin eine Rolle, die wegen ihrer ungeplanten Schwangerschaft von ihrer Familie verstoßen wurde. Ganz nebenbei webt die Autorin Anekdoten über Primzahlen oder die Faszination der Eulerschen Formel ein.
Es ist keinesfalls anstrengend das Buch zu lesen, da es nie wirklich tiefergehend mathematisch wird. Viel mehr bekommt man mal ein paar interessante Denkanstöße oder erlebt eine angenehme Auffrischung von Fakten. Vor Allem demonstriert es anhand der Mathematik wie unglaublich frustrierend es für den Professor sein muss sich jeden Tag der eigenen Lage aufs Neue stellen zu müssen. Da sind die Zahlen unumstößlich – zuverlässig. Und sein Gedächtnis, das ihn im Stich lässt. Ein Leben voller unausgeschöpfter Möglichkeiten. V.A. zumal er nach wie vor versucht Beweise für mathematische Probleme zu erbringen – und das obwohl er über Nacht quasi stets die Gedanken des letzten Tages verliert. Seine Veranlagung hat ihn außerdem zu einem von der Gesellschaft vergessenen gemacht. Umso mehr geht einem die Geschichte der „zu Außenseitern erklärten“ ans Herz und hat auch mich sehr berührt. Obwohl Ogawas Sprache sehr geradlinig und schnörkellos ist, weckt die Geschichte an sich viele Gedanken und auch Ängste: was ist ein Leben ohne Erinnerung? Ist es eine gute Tat wert, getan zu werden, auch wenn sich nach einem Tag der „Empfänger“ nicht mehr daran erinnert? Sind Gefühle verschenkt, weil sie nicht von Dauer sind? Sind Beziehungen und eine Familie „da“, auch wenn sich einer nicht mehr daran erinnert?
Fazit
Eine sehr berührende Geschichte, die es trotz reichlich tragischer Elemente zum Feelgood-Buch bringt
Besprochene Ausgabe: ISBN 978-3-935890-88-5, Liebeskind
Jetzt stellt sich wohl die Frage, warum ich so lange damit gewartet habe die Bücher zu besprechen bzw die Besprechungsrümpfe endlich fertig zu stellen, aus Notizen Beiträge zu formen und sie zu veröffentlichen? Das kann ich selber nicht so richtig sagen. Zumindest nicht bei Ogawas Buch. Beim Murakami kann ich das genauer sagen: es war der erste Murakami (unter vielen die ich gelesen habe), den ich nicht mochte. Mir war der Inhalt zu beliebig und ich erkenne hier das erste Mal die platten Männerfantasien, für die Murakami so oft kritisiert wird, die ich in vorherigen Bücher nie als so beliebig empfunden habe.
Das kann einen schon mal treffen, wenn man erkennen muss, dass einer der Lieblingsautoren auch nur ein Mensch ist und mal was gemacht hat, was man nicht so toll findet. 😉 Nee Scherz. Das lag schon auf der Hand, dass das eben kommen würde. Aber ich dachte lange, wenn ich die Besprechung von „Wind / Pinball“ noch etwas aufschiebe, dass ich vielleicht einen erhellenden Gedanken habe und plötzlich mehr Sinn in der Geschichte entdecke. Dass mir bisher die große, allumfassende Botschaft nur untergegangen war, weil ich zuviel aus dem Shinkansen-Fenster geguckt habe. Aber nach einem Jahr bin ich mir jetzt sehr sicher, dass es die gar nicht gibt.
„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂
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