Einen Autorinnenschuber bekomme ich spielend hin. Aber in anderen Belangen habe ich noch Nachholbedarf. So lese ich zwar viel von nordamerikanischen, europäischen und asiatischen Autor*innen, was aber ist mit afrikanischen und südamerikanischen? Klar, was den Marquez betrifft, habe ich meine Hausaufgaben gemacht. Aber es gibt noch soviel zu entdecken. Was mir da sehr gelegen kam war der Vorschlag im Buchclub „Zwei alte Frauen“ von Velma Wallis zu lesen. Wenn mein Gedächtnis niemanden unterschlägt, ist sie die erste alaskisch-indigene Autorin, die ich lese. Oder in diesem Fall höre.
Der 1993 erschienene Roman von Wallis erzählt eine alte von Familie zu Familie überlieferte Geschichte nach. Vor vielen Jahren soll sich das Erzählte tatsächlich bei den Gwich’in, einem athabaskischen (d.h. kanadisch-amerikanischen indigenen) Stamm, zugetragen haben. Als sich abzeichnet, dass der bevorstehende Winter hart wird, beschließt der Häuptling, dass die beiden ältesten Frauen des Stammes verstoßen werden um damit die Chancen zu vergrößern, dass die Nahrung für die jüngeren Stammesmitglieder ausreicht und die Wahrscheinlichkeit größer ist, dass die um zwei verkleinerte Gruppe durchkommt.
Sowohl die 75 Jahre alte Sa‘ als auch die 80 Jahre alte Ch’idzigyaak sind verletzt, fürchten sich; kennen aber das Ritual aus ihrer eigenen Jugend. Allerdings dachten sie, dass der Kelch an ihnen vorüber gehen würde. Vor Allem Ch’idzigyaak ist tief verletzt, da ihre Familie sich nicht auflehnt und Einspruch erhebt. Mit den wenigen Gaben, die ihre Familie entbehren kann, ziehen Ch’idzigyaak und Sa‘ los. Unter großen Anstrengungen, vielen Ängsten und bangen Stunden, mobilisieren die Beiden aber Wissen, Erfahrungen und Fähigkeiten, die sie für verloren hielten.
Velma Wallis stammt selber von Gwich’in ab und wurde sogar noch in den entsprechenden athabaskischen Sprachen und Traditionen aufgezogen. Sie kennt aus ihrer eigenen Familie Überlieferungen vom Durchstehen harter und entbehrungsreicher Winter. Wir reden hier nicht von Dimensionen wie „die Heizung viel mal einen Nachmittag aus“, sondern von der blanken Angst um das Überleben und Hungersnot. Es wird keine Zeitangabe gemacht wann genau Zwei alte Frauen spielt. Es könnte jetzt sein, es könnte Jahrhunderte zurück liegen. Spürt man aber Velma Wallis Familiengeschichte etwas nach, wird deutlich, dass die Nöte und der Überlebenskampf der indigenen Völker Alaskas bei Weitem nicht so lange zurück liegt wie man meinen könnte.
Wallis Buch könnte an die Geschichte ihrer Großmutter und Tante angelehnt sein. Wallis selber hat (vielleicht, vielleicht auch nicht gerade deswegen) das Leben als Selbstversorgerin in der Wildnis ausprobiert – war Fischerin, Jägerin und Fallenstellerin. Sie holte zuvor in Eigeninitiative einen Schulabschluss nach, der in etwa einem Highschool-Abschluss entspricht. Englisch lernte sie, hatte aber laut Nachwort beispielsweise noch Probleme mit der Kommasetzung, weshalb sie die kurzerhand wegließ. 🙂 Eine charmante Anekdote. Sie schrieb die Geschichte der zwei alten Frauen auf, um sie weiterzugeben, wie sie an sie weitergegeben wurde. Wie das Nachwort verrät, wäre das Buch fast im Zuge einer Art Crowdfunding-Aktion von Lesern und Unterstützern veröffentlicht worden – in letzter Minute fand sich aber noch ein Verlag.
Inzwischen wurde es in viele Sprachen übersetzt und ist ein Zeugnis der Ansichts- und Lebensweisen der indigenen Völker, die eng verbunden mit der Natur sind, aber auch untern den Gewalten der Jahreszeiten, Wetter und Elemente leiden. Dabei gibt Wallis einen Einblick in die Denke derer, die damit aufgewachsen sind das Wohl der Gruppe über ihr eigenes zu stellen. Sie lässt uns aber in die Köpfe und Herzen der beiden Alten schauen und gestattet ihnen Gefühle die dieser „Vernunft“ trotzen. Denn in erster Linie sind sie und wir Menschen. Die Enttäuschung und Angst, die Beide empfinden geht nicht spurlos an einem vorbei. Wallis hat dabei einen schnörkellosen, sehr geradlinigen Schreibstil ohne viele literarische Figuren oder Stilmitteln. Es fühlt sich stellenweise wie ein nüchterner Bericht mit etwas Introspektion an.
Ich habe es mir als Hörbuch aus dem Steinbach sprechende Bücher Verlag zu Gemüte geführt. Gesprochen wird es von Ursula Illert und ist mit 2 Stunden und 45 Minuten Spieldauer recht kurzweilig. Illert spricht das Buch genauso wie sich der Inhalt anfühlt: angenehm und unaufgeregt. Stellenweise hätte ich mir gewünscht, dass Velma Wallis noch etwas mehr Farbe und Spannungspotential in die Beschreibungen und Handlung gebracht hätte. Die Situation ist beklemmend – man stelle sich alleine den Moment vor, indem ein Stamm verkündet, dass man zum Sterben zurückgelassen wird und die Gesichter der Menschen, das brennende Gefühl des Verrats in einem selber. Das ist der Stoff der ganz großen moralischen Zwickmühlen und bitterer Gefühle. Andererseits kann man auch dankbar sein, dass der Stoff nicht unnötig dramatisiert und verkitscht wurde.
Ein bisschen mehr Zeitgeist hätte mir in der Erzählung auch gut gefallen. Ich bin was alaskische indigene Völker betrifft vollkommen unbefleckt. Habe sicherlich inakkurate Vorstellungen über Gebaren, Sprache, Kleidung und Kultur im Kopf. Wem es ähnlich geht, sollte wahrscheinlich zum Buch greifen, das wie ich von einer Freundin weiß Abbildungen enthält. Zumindest aber hat mir das Buch und Wallis sehr spannende Lebensgeschichte auch so Anhaltspunkt gegeben. Wo es übrigens wiederum eine gute Entscheidung ist zum Hörbuch zu greifen: man erfährt wie man die Namen unserer Heldinnen ausspricht.
Kennt ihr Velma Wallis oder ihre Erzählungen? Vielleicht sogar „Zwei alte Frauen“? Welche Bücher indigener Autor*innen habt ihr gelesen und könnt sie empfehlen? Was sind die Länder, Lebensweisen oder sonstige Schubladen, aus denen ihr gern mehr lesen würdet? Ich bin tatsächlich etwas angefixt, interessiert und irritiert gleichzeitig, seitdem ich über die Alaska Athabasken gelesen habe. Ein ganzer Kulturkreis, Geschichte, Lebensweise und Sprache, von der ich vorher nicht mal wusste, dass sie existiert. Wenn ihr also Tipps habt (gern auch für Filme oder Dokus), bin ich ganz Ohr.
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