ausgelesen: Yōko Ogawa „Der Ringfinger“

Ich weiß es nicht mehr, wo ich von Yōko Ogawas Der Ringfinger las. Sicherlich war es in der Blogbubble. Jedenfalls war fasziniert von der Prämisse des Romans. Leider war die Ausgabe vergriffen, ich bekam das Buch aber noch irgendwo gebraucht. Stilecht mit Kaffeefleck auf dem Schutzumschlag. (Ließ sich abwischen.) Der Roman hat nur knapp über hundert Seiten und ich meine er war an einem Tag weggelesen, zumal die Seiten auch sehr großzügig bedruckt sind. Der Ringfinger ist aus der Perspektive einer namenlosen Protagonistin geschrieben. Sie beginnt im Labor von Herrn Deshimaru als Bürokraft zu arbeiten. Deshimaru ist ein Präparator und macht den Löwenanteil der Arbeit, während sie ihre Aufgabe im Büro interessant, aber nicht besonders anspruchsvoll findet. Am spannendsten ist wohl noch, wenn Kunden vorbeikommen und ihre Geschichten erzählen. Denn Deshimaru präpariert nicht irgendwas. Sondern Dinge, die ihren Kunden ungemein wichtig sind. Manchmal Dinge, die wohl niemand anderes für sie konservieren, präparieren oder auch die Wichtigkeit derer verstehen würde.

„Sie hatte die Idee meines Labors genau richtig verstanden. Das wußte ich, als sie das Wort ‚einschließen‘ gebrauchte.“ (Herr Deshimaru) p.22

Diese Dinge sind ganz unterschiedlicher Art. Mal sind es Pilze, die dort wachsen, wo eine Kundin ihr Familienhaus und ihre ganze Familie bei einem Brand verloren hat. Leben, das dort sprießt, wo ihr eigenes auf eine gewisse Weise endete. Mal sind es Klavierpartituren. Für den Leser ist dieser kaum in Worte zu fassende Wunsch etwas zu bewahren und die Beweggründe dafür surreal und schwer greifbar, aber faszinierend. Wir blicken durch die Augen der Protagonisten und entwickeln eine ähnliche Neugier auf die Geschichten der Kunden. Oder den wortkargen Herrn Deshimaru und wie er wohl zu dieser speziellen Profession gekommen ist. Der Klappentext des Buches und die Zusammenfassungen, die man im Internet findet, vermitteln noch eine ganz andere Note. Hier liest man häufig, dass unsere Protagonistin Wind davon bekommt, dass Deshimarus bisherige Assistentinnen irgendwann plötzlich verschwanden und nie mehr gesehen wurden.

„Er sagte nichts mehr. Wir hatten uns schon so lange nicht bewegt, daß ich mir schon selbst wie ein von ihm eingeschlossenes Präparat vorkam.“ p.56

Ist Deshimaru eine Art König Blaubart, dessen Mitarbeiterinnen plötzlich in Bakelit eingeschlossen hinter irgendeiner Tür in einem dunklen Flur auftauchen? Darauf wird es keine Antwort geben und Leser sollten hier keinen in Horror ausartenden Roman erwarten. Es ist viel besser, denn es sät Brotkrumen und erlaubt Lesern sich selbst ihren Teil zu denken. Auch was die Anziehung zwischen Deshimaru und der Protagonistin betrifft. Die Atmosphäre des Buches hat viel von nicht ausgesprochenen Geheimnissen, die man ergründen möchte. Wer es aber nicht mag die Geschichte im Kopf fortzusetzen und Antworten zwischen den Zeilen zu suchen, wird vielleicht nicht glücklich mit dem Roman.

Der Titel des Buches bezieht sich auf den Ringfinger der Protagonistin, an dem sie aus einer alten Verletzung eine Narbe davon getragen hat. Sie verbindet damit ein seltsames Gefühl und auf gewisse Weise scheint es ihr wenn auch nicht auffälligstes, aber markantestes Merkmal zu sein. Sowohl ihre Aufmerksamkeit als auch Deshimarus wandern immer mal wieder zu der Narbe, dem Ringfinger und der Frage, was sie gern konservieren würde. Das hinterlässt ein brutales Bild. Geht das nur mir so? Eine über der Handlung schwebende Gefahr. Oder ein gemeinsames, geteiltes Empfinden. Eine Erwartung zwischen ihr und Deshimaru, die nie in konkrete Worte gefasst wird, aber wie ein Elefant im Raum steht. Eine vielversprechende und etwas verängstigende Spannung. Und dann ist da die Frage: was möchte ich bewahren? Und was wäre mir das wert zu tun? Was würde ich konservieren wollen? Was verbinde ich damit? Das ist ein so perfektes, surreales, nachdenklich stimmendes und neugierig machendes Gesamtpaket, dass ich doch etwas enttäuscht war, als es dann plötzlich vorbei war. Aber auch das ist wohl ein Teil der herrlichen Empfindungen, die zu einem solchen Buch dazu gehören.

„Eine Person, die kein Präparat braucht, existiert nicht.“ p.53

Fazit

surreale Geschichte, die eine spannende, Slow-burn-Atmosphäre aufbaut, aber einiges offen lässt (Fluch und Segen)

Besprochene Ausgabe: ISBN 3-935890-07-9, liebeskind Verlag

„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂

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