Es scheint Schicksal zu sein, als sich in einem Supermarkt in den USA die Molekularbiologin Dr. Johanna Mawet und ein verstörter Mann im Hawaii-Hemd begegnen. Denn während Johanna Unsterblichkeit erforscht, ist er unsterblich. Oder sowas in der Art. Er fällt ihr besonders durch sein Verhalten auf. Sie fällt ihm auf, weil er meint in ihr den leibhaftigen Teufel zu erkennen. Ihre Wege kreuzen sich noch ein paar Mal bis er vorgibt Johann Wilhelm Ritter zu sein – ein deutscher Physiker, der vor über 200 Jahren gelebt hat. Anfangs glaubt Johanna ihm nicht, obwohl es ganz danach aussieht als hätte er gerade einen Selbstmordversuch überlebt. Es braucht eine Weile, viel gegenseitiges Hinterfragen, die Flucht aus den USA nach Deutschland und die Sequenzierung seines Genoms bis Johanna anders darüber denkt.
„[…] Dieses Gesicht war das merkwürdigste, das sie je gesehen hatte. Zumindest in echt. Allenfalls auf uralten, braunstichigen Photos […], in Gemäldegalerien, Abteilung finstere Ölschinken, mochte ihr so ein Gesicht begegnet sein. Solche Gesichter wurden heutzutage nicht mehr gemacht.“ p.15
Ritter gab es übrigens wirklich: er war ein Zeitgenosse von Brentano, Novalis und Goethe. Was die Leser nun auf über 500 Seiten erwartet ist ein wilder Ritt. Sowohl sprachlich, als auch thematisch, emotional und lokal. Johanna trifft den verstörten Ritter anfangs während ihres Forschungsaufenthalts in den USA. Bald fliegen beide nach Deutschland, da zuviele Fragen über Ritter und Johannas Forschung gestellt werden. Wenn die toughe Forscherin mit No-Bullshit-Attitüde auf den sich in Waldeinsamkeit verkriechenden Ritter trifft, dann klingt das schon nach dem Konflikt zweier Welten und der hat zwischendurch erstaunlich viel Comic Relief. Ritter hat sich allerdings auch offenbar seit einigen Jahrzehnten nicht wesentlich mit seiner Umwelt beschäftigt. Apple hält er für eine Sekte und das digitale age ist nicht so ganz bei ihm angekommen. Das erscheint etwas befremdlich – wie kann er das verpasst haben?
„Was weinte, konnte sterben.“
„Da er wie ein beleidigter Teenager schwieg, antwortete Johanna an seiner Stelle: ‚Richtig. Wir machen keinen Nostalgietrip. Sie erzählen mir nicht, an welche Ecke Sie mal zusammen mit Brentano hingekotzt haben, wo Goethe aus der Kutsche gefallen ist oder in welchem Gässchen Ihr Freund Novalis seinen ersten Blutsturz hatte. Wir fahren einzig und allein deshalb nach Jena, weil hier der Ort ist, an dem es Ihnen und Ihrer Clique gelungen ist, den Teufel zu beschwören. Right?“ p.468
Auch später ist Ritters weltfremde Art zumindest für mich schwer nachvollziehbar. Schließlich geht er ja auch „raus“ um zu arbeiten und „sieht“ Menschen mit Smartphones in der Hand. Dass er schwer durch seinen Zustand gezeichnet ist, wird aber im Laufe des Romans verständlich. Vielleicht ist es ja eben doch so, dass wir immer ein wenig diejenigen bleiben als die wir mal aufgewachsen sind!? Kinder unserer Zeit. Das kann jede*r Leser*in für sich selber evaluieren. Sprachlich hingegen ergibt es etwas mehr Sinn, dass sich Ritter nicht weitergebildet hat. Im Laufe seines über zweihundertjährigen Lebens ist er über Großbritannien und andere Stationen hinweg irgendwann in den USA angekommen und kennt daher manche deutsche Begriffe nicht. Den Kühlschrank kennt er nur als fridge. Seine Ausdrucksweise ist insgesamt im 18. Jahrhundert stecken geblieben.
Ähnlich Werken wie David Mitchells Der Wolkenatlas wählt Thea Dorn den Ansatz mehrere sprachliche Stile auftreten zu lassen. So Johannas „Gegenwartssprech“ mit ein paar Anglizismen, Ritters etwas geschwollene Sprache des 18. Jahrhunderts und dann wäre da noch die dritte Erzählstimme. Die lässt Thea Dorn in altertümlichem, ebenso geschwollenem Deutsch und sogar im Versmaß das Geschehen kommentieren. Zwar sind die Passagen kurz, können aber abschrecken, da der Prolog auch bereits so verfasst ist. Wer ist die Stimme? Der Teufel? Es gibt darauf eine Antwort, aber ich werde sie nicht verraten, wo bleibt denn da der Spaß?
Wer das Buch nach dem Prolog nicht fallen lässt, hat aber gute Chancen durchzuhalten und mit einem in vielerlei Hinsicht interessantem Buch belohnt zu werden. Denn bei diesen Stimmen wird es nicht bleiben. Sowohl Sprache, als auch Schriftbild bleiben abwechslungsreich. In Rückblicken schlägt sich Ritter mit altertümlichem Schwäbisch herum, irgendwie gibt es auch mal ein paar Sprechblasen und kleinere Passagen sind gar mal aus der Sicht einer Fledermaus erzählt. Auflockerung gibt es. Je nachdem wie emanzipiert sich Leser mit all diesen verschiedenen, teilweise fordernden sprachlichen Ergüssen fühlen, erfordert das Buch etwas Durchhaltevermögen.
Dafür werden an Wissenschaft und dem polarisierenden Thema Unsterblichkeit interessierte Lesende belohnt. Schließlich haben wir hier mit zwei Wissenschaftlern zutun. Es gibt sowohl Einblicke in Ritters frühe Forschung an der Elektrizität und dem Galvanismus, als auch in Johannas Forschung und dem Versuch das Altern aufzuheben bzw. die Regeneration zu fördern. Johanna versucht es in dem sie Zebrafische und Mäuse untersucht. Wir besuchen aber auch im Roman zusammen mit ihr und Ritter den Weltkongress der Immortalisten (den es wirklich gibt) und erfahren wie das Enzym Telomerase helfen soll das Altern aufzuhalten. Spätestens, wenn Johanna das Genom Ritters sequenziert und Chromosomen allel-genau analysiert, dann wollte zumindest ich das Buch nicht aus der Hand nehmen. Die Erklärungen waren für mich spannend zu lesen und machten den Roman gleich nochmal interessanter und gehaltvoller. Schade, dass CRISPR scheinbar noch kein Ding war als Dorn den Roman schrieb. Aber wenn Johanna langsam realisiert, dass Ritter der „real deal“ ist und ihm wirklich ein abgeschnittener Finger nachwächst, beginnt der Abwärtsstrudel der Dr. Johanna Mawet und der alte Konflikt des Menschseins: nicht gehen wollen.
„Demon King Purson: You’re my man.“
Plötzlich wird es für Johanna etwas persönliches. Die Wissenschaftlerin hat das Gefühl der Quelle der Unsterblichkeit so nah zu sein (genauer gesagt hat die Quelle wahrscheinlich gerade ihr Laptop zertrümmert oder einen gutbürgerlichen Braten verzehrt) und doch so fern. Die Suche nach der Lösung wie Ritter unsterblich wurde oder ob er einfach so als Laune der Natur zur Welt kam, wird Johanna (fast?) in den Wahnsinn treiben und mit ihrer eigenen Sterblichkeit konfrontieren. Sie erwägt sogar den Teufel höchstpersönlich anzurufen. Wenn die Anlehnung an Goethes Faust bisher nicht auffiel, dann spätestens jetzt. Und wer noch genauer hinsieht (oder recherchiert), entdeckt vielleicht gar, dass Die Unglückseligen auf Lateinisch infausti heißt. Irgendwann kommt Johanna an demselben Punkt an, an dem auch Ritter einst war. Wo die bloße Möglichkeit unsterblich zu sein fast im Zusammenbruch mündet:
„Wo wollte er Trost hernehmen? Sollte er ihr anvertrauen, dass er – […] einst den nämlichen Zorn, den nämlichen Schmerz verspürt? Bis zu jenem Tage, da er begriffen, dass einzig der Unglückseligen Unglückseligster dahin sich verirrte, des Menschen Teufelsverlassenheit zu beklagen?“ p.491
Bleibt es Johanna trotz all der Wissenschaft verwehrt unsterblich zu sein? Thea Dorns Roman adressiert den alten Wunsch nach ewigem Leben als Kampf gegen die Windmühlen der Veranlagung. Gibt es Unsterblichkeit nur durch Fortpflanzung? Wo ist der „Heureka-Moment“? Wir wissen doch soviel, warum nicht das? Inklusive der Auseinandersetzung, ob ewiges Leben vom moralischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Standpunkt überhaupt erstrebenswert ist. Aber auch das Thema Optimierungswahn vs Schöpfung wird adressiert. Für Ritter geht das Wunder des Lebens in Aufklärung verloren. Johannas Forschungsansatz versteht der Mann, der einst an sich Selbstexperimente durchführte ebenso wenig. Johanna demonstriert den Detailblick der Genwissenschaftlerin, während er als Universalgelehrter enttäuscht feststellt, dass noch niemand die Weltformel entschlüsselt hat – wie soll man denn Unsterblichkeit ergründen, wenn man nur in eine Richtung schaut? Kurzum: das Buch ist ein Füllhorn voll Diskussionsmaterial. Und das ist offenbar auch für viele Leser*innen ein Problem.
Zuviel? Zu elitär? Die Meinungen sind vielfältig. Gut ausgearbeitete Charaktere oder nicht? Tatsächlich verblüfft es auch mich bis gegen Ende, dass Johanna soviel Entwicklung durchmacht (und auch in was für einer Geschwindigkeit), während Ritter gerade mal seine Verstörung ablegt und ein wenig im „Hier und Jetzt“ ankommt. Aber die bloß Fülle an Themen ist faszinierend und hat mich trotz der sprachlichen Extravaganzen durch das Buch rasen lassen. Auch die Auseinandersetzung mit der „deutschen Seele“ gehört dazu. Der Detailreichtum und alles, was man an dem Buch deuten und analysieren kann, ist enorm. Thea Dorn hat ihre Hausaufgaben gemacht, auch wenn das Feuilleton schwatzt, dass nicht jeder Jambus reimt. Auf Details zu achten lohnt sich. So verstecken sich im unidentifizierten Genom Botschaften („Ekel“). Das Buch erscheint mir erschreckend gut als Serie adaptierbar, die dann auch für Leser zugänglicher wäre, die sich nicht für geschwollene Sprache begeistern können.
Letzten Endes hat Ritter vielleicht die einzige Lösung für das große Dilemma, indem er sagt, dass die Sterblichkeit das Leben lebenswert macht und daran, dass „die Unendlichkeit einzig in Augenblicken wie diesem zu finden war, in denen es kein Oben und Unten mehr gab, kein Hintern und Vorn, kein Vorher und Nachher, weil alles sich in Einem aufgelöst, des Daseins Schuld für einen Wimpernschlag getilgt?“ (p.401) Das Ende des Romans widerspricht dem vielleicht genauso wie Ritters bisherige Lebensweise. Aber mit der Botschaft kann ich gehen, wenn mich auch das Thema Unsterblichkeit auf ewig (haha) faszinieren wird. Also fangt an zu Leben, statt nach der Unsterblichkeit zu suchen. Wie Schön, dass auch Frauen sich an die großen Themen der Menschheit und Wissenschaft trauen können. Obwohl Thea Dorns Roman Die Unglückseligen durchaus sehr gemischt von der Leserschaft (im Netz, in der Presse, im Buchclub) wahrgenommen wurde, war es für mich eins der bisher interessantesten Bücher, die ich dieses Jahr gelesen habe und in dem Sinne ein Pageturner, da ich sehr gespannt war, was mich auf den nächsten Seitene erwartet.
Fazit
Sprachlich etwas fordernd und unter Umständen ermüdend, aber lohnenswert für alle, die das abkönnen und von den Hauptmotiven angetan sind
Besprochene Ausgabe: ISBN 978-3-8135-0598-6, Knaus Verlag
„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂
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