Es ist bereits das dritte Mal, dass ich dem japanischen Filmfest „Nippon Connection“ beiwohnen durfte. Und davon das zweite Mal online. Jedes Mal bin ich vom Programm und der Themenvielfalt begeistert. Meist zieht es mich ja doch eher zur Fiction, statt zu Dokumentarfilmen, aber die „Nippon Docs“ waren auch dieses Jahr wieder vielfältig. So auch die Filme, die ich heute besprechen möchte. Zwei Stichworte: Volleyball, Sekte. Nicht im Zusammenhang miteinander 😉 Besprechungen sind spoilerfrei, soweit das sinnvoll ist.
The Witches Of The Orient
Uh oh – ein französischer Film im Programm der Nippon Connection!? Ja, und das aus sehr guten Gründen. Der Titel The Witches Of The Orient bezieht sich auf den Spitznamen von Nichibo Kaizuka, dem erfolgreichsten, japanischen Frauen-Volleyball-Teams (jap. „toyo no majo“). Denn so wurden die jungen Japanerinnern in westlichen Medien bezeichnet – davon kann man halten was man will. Junge Frauen, ein strenger Trainer, intensive Matches, über 70 Siege in Folge, weltweite Schlagzeilen. Das Team war auch das Vorbild für die in Deutschland als Mila Superstar bekannte Animeserie (jap. アタックNo.1, „Attack No. 1“), die weltweit den Volleyball-Boom noch mehr anheizte. Und wenn die Dokumentation die Szenen nicht teilweise übereinander legen würde, würden wir sie wahrscheinlich sogar eigenständig aus Mila Superstar wiedererkennen. Zuerst beginnt The Witches Of The Orient aber mit einem Treffen der inzwischen über 70 Jahre alten Spielerinnen, bevor sie zu Erinnerungen an hartes Training wechselt und in das großartige Finale der Olympischen Spiele in Tokio (1964) mündet.
„The Witches Of The Orient // Trailer“, via NipponConnectionTV (Youtube)
Die Realität des Volleyball-Teams hat wie so oft nicht den Heile-Welt-Charakter des Anime, aber auch nicht den sensationsgeilen Touch, den die Medien im Laufe der Zeit versuchten den Oriental Witches anzudichteten. Tatsächlich besteht das Team aus Fabrikarbeiterinnen, die im Nachkriegsjapan ein Rädchen im Getriebe des Wunsches nach wirtschaftlichem Aufschwung waren. Zeitig aufstehen, einen Tag lang in der Fabrik arbeiten, danach Training bis in die Nachtstunden. Am nächsten Tag dasselbe von vorn. Immerhin ein Tag pro Woche frei. Julien Faraut schildert das Training als das, was es ist: hart. Und als Parallele zu dem Strebens Japans zu Wachstum, Erfolg und Ehre, wo kein Platz für Jammern ist.
Neben der für Animefans und 90er-Jahre-Fernsehkinder angenehmen Mila-Nostalgie mischt sich damit eine schonungslose Realität in die Doku. Szenen aus dem Anime werden im Split-Screen, in Szenenwechseln oder Montagen mit Videomaterial aus den 60ern und 70ern nebeneinander gehalten. Dazwischen folgen die Berichte der Spielerinnen über Auslandsreisen, das Streben von der Ersatzbank ins Team befördert zu werden und ihren anspruchsvollen Trainer. Faraut triggert mit Split-Screen, Elektro-Soundtrack und Retro-Look Nostalgie und verpackt damit sowohl den Anime, als auch die alten Originalaufzeichnungen aus Training und Spielen in einen notwendigen, gleichförmigen Rahmen. Ansonsten würden Zuschauende wohl zu gewaltsam aus der Zeitreise ins Jetzt geschickt werden. Nur die rotierende Kamera und Negativ-Montagen sind etwas strapaziös für die Nerven. Der Rest ist der beste Sport-Dokumentarfilm, den ich bisher gesehen habe.
The Witches Of The Orient, Frankreich, 2021, Julien Faraut, 100 min, (9/10)
„The Witches of the Orient | Official UK Trailer | Available to Watch 16 July“, via Modern Films (Youtube)
Me and the Cult Leader
Am 20. März 1995 verübten Mitglieder der Sekte Aum Shinrikyo während der Rush-Hour einen Sarin-Anschlag auf die Tokyoter U-Bahn. Über 5000 Menschen wurden bei dem als Inlandsterrorismus bezeichneten Akt verletzt, 14 starben an den Folgen. Regisseur Atsushi Sakahara gehört zu den Überlebenden des Angriffs und leidet bis dato an den Folgen. Er trat mit Aleph in Kontakt, einer bis heute existierenden Splittergruppe der Glaubensgemeinschaft, die sich zuvor Aum Shinrikyo nannte. Zwischen seiner Anfrage und dem eigentlichen Filmen der Dokumentation verging ca ein Jahr wie der Beginn verrät. In Me and the Cult Leader verfolgen wir den Roadtrip Sakaharas und Hiroshi Arakis, einer Führungskraft innerhalb Alephs.
Die Reise führt Sakahara und Araki u.a. in ein Büro der Sekte, an die Universität, in der sowohl Sakahara als auch Araki das erste Mal von Aum hörten, den Geburtsort Arakis und sie treffen sogar Sakaharas Eltern. Währenddessen stellt Sakahara bewusst Fragen, die das Leben innerhalb der Glaubensgemeinschaft und über Aleph hinterfragen. Mal sehr objektive und rein informative, manchmal aber auch welche, die Araki empfindlich treffen und sehr persönlich sind. Die Reise in Arakis Heimat ist kein Zufall, denn Mitglieder der Glaubensgemeinschaft leben in Verzicht und „entsagen der Welt“. Dazu gehört auch, dass sie den Kontakt zu ihren Familien abbrechen. Zwischen diesen bohrenden Fragen und „Konfrontationstherapie“ Sakaharas bleibt aber jede Menge Raum. Über weite Strecken fühlt sich die Dokumentation dadurch tatsächlich wie ein Roadtrip zwischen Freunden an, die das Leben und die Welt diskutieren.
„Me And The Cult Leader // Trailer“, via NipponConnectionTV (Youtube)
Die sich über fast zwei Stunden erstreckende Dokumentation ist damit erwartungsgemäß ein Slowburner und nicht so zähneknirschend-bissig wie man es bei dem Beititel „The Banality of Evil“ erwarten würde. Der Fokus liegt klar auf banality, nicht auf evil. Araki gehörte nicht zu den Anhängern Aums, die den Anschlag verübten und damit einen dritten Weltkrieg oder eine Apokalypse oder was auch immer herbeiführen wollten, weswegen Sakahara ihn auch nicht zu hart in die Mangel nimmt. Das ist auch nicht sinnvoll, denn ansonsten wäre die Reise wohl eher früher als später zu Ende. Wer also eine drastische Auseinandersetzung und ein tiefes Eindringen in die Interna von Aum/Aleph erwartet, wird ggf. enttäuscht.
Viel mehr ist es ein persönliches Portrait über einen Mann, der versucht etwas zu verstechen und zu ergründen und einen Mann, der eine Überzeugung hat. Und die ist überraschend schwer in Worte zu fassen. Zwar befragt Sakahara Araki was ihn einst dazu brachte sich Aum anzuschließen, aber der Funke der Überzeugung bleibt uns allen genauso verschlossen wie die von Sakahara, allen anderen Opfern und Angehören und der Öffentlichekit ersehnte Entschuldigung. Die Dokumentation offenbart wie schwer der extreme oder extremistische Geist zu greifen ist. Wenn man zwischen den Zeilen lesen kann.
Me and the Cult Leader (OT: AGANAI-地下鉄サリン事件と私), Japan, 2020, Atsushi Sakahara, 114 min, (7/10)
Wow, was für Themen! Bei „The Witches of the Orient“ hat mich am meisten verblüfft wieviele Parallelen es zwischen „Mila Superstar“ und dem realen Team und ihren Matches gibt. Mir war zwar klar, dass der Anime sich einen gewissen Volleyball-Craze zunutze gemacht und weiter befeuert hat, aber nicht, dass es direkte Vorbilder gibt. Zu sehen wie stark der Alltag der Spielerinnen durch Fabrikarbeit und Training bestimmt war und wie ganz Japan sich für Wirtschaftswachstum und hoffentlich fettere Nachkriegszeiten mobilisierte, gibt dem ganzen einen plötzlich ganz anderen Touch. Was mich bei „Me and the Cult Leader“ am meisten verblüfft hat ist wie „persönlich“ und nah an den (beiden) Menschen der Dokumentarfilm ist, wo ich eigentlich mehr Einblicke in die Denke der Sekte erwartet hätte. Aber es ist schon verständlich: man will keinen Werbefilm für Aleph machen. Habt ihr zufällig beide Dokumentarfilme gesehen und wie haben sie euch gefallen? Womit überrascht und womit nicht?
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