Ich wusste vor der Nippon Connection nichts über „Kontora“ oder Regisseur Anshul Chauhan, jetzt ist er einer meiner Festivalfavoriten. Gut, dass die Beschreibung von „Kontora“ so außergewöhnlich klingt und hängen bleibt. Ein Mädchen sucht nach einem „Schatz“ ihres Großvaters und ein Mann taucht in der Stadt auf, der stets nur rückwärts läuft. Die Besprechung ist spoilerfrei.
Als Sora (Wan Marui) die Sachen ihres kurz zuvor verstorbenen Großvaters durchgeht, findet sie sein Tagebuch. Trotz der engen Beziehung zu ihrem Großvater, hat er nicht viel vom Krieg gesprochen, nicht mal erwähnt wie gut er zeichnen konnte. Vor ihr entfaltet sich auf den Blättern ein ganz anderes Leben einer Person, die ihr doch so nahe stand. Zeichnungen von Krieg und dem Ende der Kindheit, Texte die von Entbehrung und Gräueln sprechen. Und eine Beschreibung, wo er seinen „metallenen Arm“ versteckt habe. Als Sora sich auf die Suche danach begibt, trifft sie auf einen rückwärts laufenden Mann (Hidemasa Mase). Er spricht nicht, er ist nicht von seinem Spleen abzubringen, er trägt zerlumpte Kleidung. Sora will ihm unbedingt helfen, während er bei ihrem Vater (Takuzo Shimizu) und der Gemeinde eher Misstrauen erregt.
„Kontora // Trailer“, via NipponConnectionTV (Youtube)
Schaut man auf den Inhalt ist Kontora ein Drama, eine Verbeugung vor Kriegsopfern, zu denen die gegen ihren Willen eingezogenen Studenten und Zivilisten zählen. Es ist ein Coming-of-Age-Film, der von Soras Orientierungslosigkeit handelt und am Beispiel ihrer Freundin Haru (Seira Kojima) vorausgreift, was Sora eventuell erwartet. Harus Traum von der Karriere als Tanz-Studentin in Tokyo ist nicht aufgegangen. Sie kam zurück aufs Land und arbeitet in der Fabrik ihres Vaters. Sora selber sieht auch nur für sich eine Zukunft, wenn sie den Ort verlässt. Aber selbst dann sieht sie keine rosige. Vielleicht auch, weil ihre wichtigste Bezugsperson gerade gestorben ist. Es fällt ihrem Vater schwer zu Sora durchzudringen. So als würden sie nur nebeneinander herleben. Trotzdem ist die Atmosphäre Kontoras so gar nicht Drama, sondern Mystery. All die Unbekannten in Soras Leben werden als bedrohlich dargestellt. Durch den Einsatz von Musik, von dramatischen Spitzen, die Verzweiflung aus der Mimik und Gestik des rückwärtslaufenden Mannes oder die schiere Ödnis, die aus Soras Gesicht spricht. Hinzu kommen die feindselige Atmosphäre in der Fabrik von Haraus Vater und die Nachbarn mit scheinheiliger Agenda. Dass es sich bei Kontora um einen Schwarzweißfilm handelt, hilft sicherlich auch. Kontora hat einen wertigen, träumerischen Look und Anshul Chauhan versteht es zwischen all diesen Stimmungen meisterhaft zu wechseln und sie in Balance zu halten.
Man könnte annehmen, dass v.A. der rückwärtslaufende Mann die teilweise mysteriöse Stimmung hält. Das vielleicht am Anfang, aber nachdem Sora und ihr Vater ihn bei sich aufnehmen, ist es mehr das, wofür er steht. Was er impliziert, treibt uns einen Schauer über den Rücken. Man sieht ihm von der ersten Sekunde an deutlich an, dass er gelitten hat. Alleine der Anblick frischer Wäsche, treibt ihm die Tränen in die Augen. Er isst als ob er seit Jahren nichts warmes, gekochtes, vernünftiges mehr gegessen hätte. Geschweigedenn von einem Teller oder aus einer Schüssel. Das geht nicht spurlos an den Zuschauenden vorbei. Auch nicht die Vermutung, um wen es sich bei dem rückswärtslaufenden Mann handelt. Gibt es eine Auflösung? Ja, die gibt es. Und was ist mit dem metallenen Arm? Ja, auch das wird verraten. Und eine der ältesten und hässlichsten Gefühlsregungen der Menschen zu Tage fördern: Gier und Neid.
Aber das noch längst nicht alles. Die kleine Ersatzfamilie aus dem schweigsamen, rückwärtslaufenden Mann; Sora und ihrem Vater, die langsam wieder füreinander erwärmen und auch Haru geht ans Herz, wenn sie miteinander rumblödeln. Wenn sie Geburtstag feiern und all die Unbekannten in ihrem Leben vergessen. Sogar der rückwärtslaufende Mann taut auf und lässt sich im Rahmen seiner Möglichkeit gehen (no pun intended). Kontora schafft es innerhalb seiner knapp über zwei Stunden Laufzeit alles gleichzeitig zu sein. Drama, Feelgood, Mahnmal, Mysteryfilm. Man spricht gern vom genreübergreifenden Film – das trifft hier nicht zu. Kontora ist nicht übergreifend, Kontora hat einfach alles. Vor Allem meisterliche Gegensätze und Parallelen zwischen Zukunft und Vergangenheit. Der rückwärtslaufende Mann scheint in der Zeit zurück gehen zu wollen. Vielleicht zu dem „früher war alles besser“. Zu der Zeit bevor er hungern musste und als er noch weniger Sorgen hatte. Sora will auch nicht in die Zukunft schauen, sie ist zukunftsmüde. Diesen Anshul Chauhan und das Team des Films müssen wir uns merken.
Kontora (OT: コントラ), Japan, 2019, Anshul Chauhan, 144 min, (9/10)
„Kontora“ ist Anshul Chauhans zweiter Spielfilm. Zuvor war er v.A. an Animationsfilmen beteiligt. Der Themensprung wirkt gewaltig! Im Interview mit der Japan Times lässt Regisseur Anshul Chauhan durchschimmern, dass die japanische Filmszene ein Club mit Einlasskontrolle ist. Als gebürtiger Inder scheint die Akzeptanz für ihn und damit auch seine Filme nicht groß genug zu sein, um „Kontora“ mit offenen Armen als japanischen Film zu empfangen. Sehr traurig, denn ich bin enorm begeistert! Die Zeichnungen im Tagebuch von Soras Großvater stammen laut Abspann des Films auch von Hidemasa Mase, der den rückwärtslaufenden Mann spielt. Über den ist verblüffend wenig zu finden. Awww, schade.
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