ausgelesen: Robert Seethaler „Der Trafikant“ #FranzlUndSiggi

Wow! Mein erster Seethaler! Bei all dem Lob für seine Bücher hat es doch etwas gedauert, bis auch ich mal zu einem davon gegriffen habe. Als Erstkontakt nahm ich mir „Der Trafikant“ vor, weil ich mich für die Freudsche Lehre der Psychoanalytik interessiere und eine Weile damit beschäftigt habe (lang ist’s her). Sigmund Freud tritt als Nebencharakter in dem Buch auf, das dann in meiner Liste der 21 Buchvorsätze für 2021 landete. Und darauf gab es unter dem Artikel Resonanz. Bahnt sich da ein gemeinsames Lesen an? 🙂 Recht kurzfristig hakte ich dann via Twitter nach und es formte sich eine so schon bekannte Gruppe aus notorisch Lesehungrigen. 🙂 Bingereaderin Sabine, Kathrin (Phantasienreisen.de), Matthias alias @_quoth_ und ich fingen so Mitte November an den „Trafikant“ unter dem Hashtag #FranzlUndSiggi zu lesen. Und das mit sehr unterschiedlicher Seethaler-Vorgeschichte. In einem waren sich die Seethaler-Bewanderten unter uns übrigens alle einig:

„Ich hab ein bisserl nachgedacht, Franzl“ (p.15)

So in etwa beginnt Franz Huchels Geschichte – mit dem Rauswurf seiner Mutter. ^^ „Franzl“ soll zum Arbeiten nach Wien gehen. Seine Mutter hat schon alles arrangiert. Er wird bei ihrem Bekannten Otto Trsnjek den Beruf eines Trafikanten erlernen. Den Begriff Trafik kannte ich vor dem Lesen des Romans nicht und verstehe ihn als einen Kiosk. So erklärt Otto seinem Lehrling Franz alles rund um Tabakwaren, Zeitungen und Magazine, Schreibwaren, etc. und was noch zum Job gehört. Kundenbindung, Buchhaltung, Beschaffung, etc. Als Franz aber Fuß in die flirrende Hauptstadt des Sommers 1937 setzt, sind die Eindrück fast überwältigend, so wie die Möglichkeiten, die Liebe, das Heimweh.

„Die Stadt brodelte wie der Gemüsetopf auf Mutters Herd. …“

„… Alles war in ununterbrochener Bewegung, selbst die Mauern und die Straßen schienen zu leben, atmeten, wölbten sich. Es war, als könnte man das Ächtzen der Pflastersteine und das Knirschen der Ziegel hören. Überhaupt der Lärm: Ein unaufhörliches Brausen lag in der Luft, ein unfassbares Durcheinander von Tönen, Klängen und Rhythmen, die sich auflösten, ineinanderflossen, sich gegenseitig übertönen, überschrien, überbrüllten. dazu das Licht. Überall ein Flimmern, Glänzen, Blitzen und Leuchten: Fenster, Spiegel, Reklameschilder, Fahnenstangen, Gürtelschnallen, Brillengläser, Autos knatterten vorüber. Ein Lastwagen, Ein libellengrünes Motorrad. […] Eine Geschäftstür wurde aufgerissen, Wagentüren zugeschlagen. jemand trällerte die ersten Takte eines Gassenhauers, brach aber mitten im Refrain wieder ab.“ p.20

Seethaler schreibt für alle Sinne. Töne, Gerüche, Farben – beim Lesen hat sich vor meinem inneren Auge sofort das geschäftige Treiben auf Wiener Straßen entfaltet. Auch wenn, das muss ich zugeben, ich leider noch nie in Wien war. Seethalers Stil wurde in unserer Leserunde auch durchaus unterschiedlich wahrgenommen, hat mich aber sofort gekriegt. Insbesondere die Leichtigkeit seiner Sprache und die nahbaren Charaktere.

Franz muss erst einmal alles einordnen und verarbeiten, was er in Wien erlebt. Das Heimweh plagt ihn doch stärker als gedacht. Als er im Wiener Prater isst, trinkt und von Fahrgeschäft zu Fahrgeschäft springt, trifft ihn bei all der bunten, ausgelassenen Stimmung die Erkenntnis, dass er das mit niemandem Teilen kann. Er fühlt sich einsam. Die Szene in der er auf einem der Karussells oder Fahrgeschäfte sitzt und weint, hat mir das Herz auch ein bischen schwer gemacht. In unmittelbar derselben Zeit macht er auch zwei weitere Begegnungen. Zum Einen mit einer schönen Unbekannten, in die er sich verliebt und die er später als Anezka kennen lernen wird. Zum Anderen mit niemand geringerem als Sigmund Freud. Von denen einen hoch angesehen, von den anderen als „Deppendoktor“ verlacht.

Sigmund Freud tritt nur wohl dositert auf. Das erscheint mir als gute Entscheidung, denn schließlich hat das Buch nicht den Anspruch eine Freud-Biografie zu sein und bei der Darstellung historischer Persönlichkeiten ist die Gefahr groß sie falsch zu umschreiben. Ich stelle mir die Masse an Ressourcen zur Recherche schier unendlich vor – gerade bei Freud. Aber wenn er dann auftritt, dann ist er Franzl eine Art Mentor (oder Psychotherapeut?) und lässt uns Leser*innen auch etwas hinter seine Fassade blicken. So fragt er sich zwischendurch „Was für ein Teufel hatte ihn geritten, den Großteil seines Lebens der Krankheit, der Bedrückung und dem Elend zu widmen?“ (p.117) Kurze Zeit später heißt es aber auch als Freud seine Patientin und ihren aufgewühlten Zustand beobachtet „Irgendwas daran rührte Freud. Gleichzeitig ärgerte ihn seine eigene Rührung. Es waren immer diese scheinbaren Kleinigkeiten und Nebensächlichkeiten, die ihn die mühsam aufgebaute Distanz zu seinen Patienten vergessen ließen: das zerknüllte Taschentuch in der Hand eines Generaldirektors, die verrutschte Perrücke einer alten Lehrerin, ein offener Schuhriemen, eines leises Schluchzen, ein paar verlorene Worte oder eben jetzt Mrs Buccletons zitternde Nase“.

Man kann nicht leugnen, dass sich das anfangs etwas von oben herab und etwas herb liest. Tatsächlich habe ich mir aber Freud nie sentimental oder weich vorgestellt. Später spricht aus den Zeilen natürlich aber auch Empathie (denn ohne das und ja sicherlich auch wissenschaftliche Neugier würde er den Job wohl nicht machen?). Es wird gemenschelt. Und das was die Menschen rührt, rührt Freud. Wir sind halt alle Menschen. Das was die Nazis um’s Eck offenbar vergessen haben. Freud wird uns sogar noch menschlicher als er sagt (p.122) „Eigentlich hatte er sich in Gegenwart sogenannter „einfacher Leute“ immer ein wenig unbeholfen und deplatziert gefühlt. Mit diesem Franz aber verhielt es sich anders. Der Bursche blühte.“ Es war zwar ein Schnellschuss, aber es kommt nun im Nachhinein gesehen nicht von Ungefähr, dass der Hashtag unserer Leserunde #FranzlUndSiggi heißt. Auch wenn beide letzten Endes gar nicht soviel Zeit miteinander verbringen. Wenn sie das tun, geht es nicht selten um die großen Dinge des Lebens wie die Liebe und was Franz umtreibt.

„An den Klippen zum Weiblichen zerschellen selbst dei Besten von uns, hatte der Professor gesagt. Das wird schon so sein, dachte Franz, aber dann ist es halt so. Mochte er eben zershellen – esolange es nur an Anezkas steiler Küste geschah.“ p.94

Franzls Einstellung zur Liebe und seine anfangs naive und unbekümmerte Art hat in unserer Leserunde für Gesprächsstoff gesorgt. Ich finde Franz ganz sympathisch. Er ist ein guter und hat viel Moral und Gerechtigkeitssinn. Wie er durch die Liebe erstmal ganz kopflos und aufgelöst in seinen Gedanken an Anezka durch die Gegend läuft, seufzend und sehnend, hat mich an meine erste unglückliche Liebe erinnert.

„Das ist nicht der Kanal, der da stinkt […] Das sind die Zeiten. Faulige Zeiten.“ p.21

Während Franz so mit seiner ersten Liebe beschäftigt ist, hin und wieder der Mutter einen Brief schreibt, ist er einigermaßen, aber nicht völlig, abgelenkt vom Zeitgeschehen. Schließlich arbeitet er in einer Trafik und wird damit tagtäglich konfrontiert. Und Franzl merkt ganz gut, das hier was schief läuft. So wie auch die Leser*innen. Zu Beginn des Buches sind es noch die geschäftigen bis idyllischen, manchmal nicht so gut riechenden Wiener Stadtszenen, die Seethaler schildert. Mit Fortschreiten der Handlung mischen sich plötzliche braune Hemden und Hitlergrüße in die Situationen – fast beiläufig erwähnt er sie in seinen vielfarbigen Aufzählungen. Es ist wie eine Metapher darauf wie scheinbar schleichend sich die ätzende und menschenfeindliche Ideologie der Nationalsozialisten in die Gesellschaft eingeschlichen hat. Auch in den Wiener Alltagssituationen von Franzls Peripherie häuft sich das immer mehr und uns wird klar: das ist das Ende.

„Mit dem Zeitungslesen hatte er beinahe gänzlich aufgehört […] Es war als ob die Redaktionen sich jeden Tag zu einer einzigen, riesigen Konferenz versammelten, um zur Wahrung einer scheinbaren Objektivität wenigstens die Überschriften untereinander abzustimmen und hie und da ein paar Textunterschiedlicheiten in die ansonsten völlig gleichlauten Artikel einzubauen.“ p.166

Wie der Seethaler das macht ist höchst effektiv und clever. Er wirft uns in den Zeitgeist hinein und macht uns zum Zeugen wie nach und nach die Gesellschaft von dem schädlichen Gedankengut durchseucht wurde. Franzl hat ein gutes Herz, viele wache Mentoren um und eine liebende Mutter. Er verfällt dem nicht. Nicht nur durch sein Umfeld, sondern auch seinen Moralkompass. Aber wie wird sich die drohende Machtergreifung auf sein Umfeld auswirken? Unsere Wahrnehmung wird an Beispielen wie der offensichtlichen Kontrolle von Medien und Post geschärft. Wir erkennen: Es ist ein Privileg zu streiten, viele Meinungen zu hören und zu lesen – es ist Freiheit. Ganz im Gegensatz zu dem was Franz in 1937-38 erlebt.

An vielen unterschiedlichen Personen adressiert Seethaler die Auswirkungen. Einerseits ist da die Ohnmacht, die den „einfachen Leut“ Franzl und dem „nicht so einfachen Leut“ Sigmund Freud gleichermaßen trifft. Andererseits das Schicksal derer, die sich auflehnen und mittendrin „Überlebenskünstler“, die zum überleben einiges in Kauf nehmen. Wer das Buch gelesen hat, kann sich mal überlegen, wen ich meine. Der Trafikant ist der Erklärungsversuch abzubilden wie eine Gesellschaft reagiert. Auch wie Mitläufertum entsteht. Wie es sich angefühlt haben muss mittendrin zu leben. Mir ist auch der Briefträger in Erinnerung geblieben, auch wenn er nur zwei, drei Mal kurz auftritt. Anfangs noch grummelig über das frühere Aufstehen unter der neuen Staatsspitze, lässt auch er sich irgendwann mitreißen. Unterschwellig weiß er vielleicht, das das nicht gut ist. Aber warum was riskieren – sagt er. Und Franzl? Und Siggi? Die reagieren auf ihre Weise. Aber sie reagieren.

Fazit

Ein Buch über ein schweres Thema, das sich überraschend leicht und angenehm liest

Besprochene Ausgabe: ISBN 978-3-0369-5909-2, Kein & Aber

„Ein kleines Trafikantenstillleben.“ p.193

Zu den Artikeln der Leserunde

… wird noch ergänzt …

Neben der Schachnovelle war es nun das zweite Buch, in dem mir das Hotel Metropol begegnet. Ich stelle mir vor wie die Potagonisten in unterschiedlichen Zimmern eingesperrt waren, aber nah beeinander in einem „shared universe“, das leider nicht so fiktiv ist. Mit so ähnlichen Ängsten und Hoffnungen. Gute Bücher … ich möchte sehr gern wieder was von Seethaler lesen. Der Stil gefällt mir sehr gut. Was könnt ihr empfehlen? Habt ihr den „Trafikant“ gelesen und wenn ja, wie hat er euch gefallen? Schaut doch gern in den Hashtag #FranzlUndSiggi zu unserer Leserunde auf Twitter – wir sind dort Stand heute auch noch nicht fertig mit Auswerten und Diskutieren. 🙂 Und wer Lust auf eine Leserunde um die Weihnachtszeit hat: Interesse an Dickens „A Tale of Two Cities“? Einfach mal melden. 😉

8 Antworten

  1. Oh das freut mich, dass Der Trafikant dir auch so gut gefallen hat 🙂 War damals mein Roman 2018 😉 Es gibt auch eine Verfilmung, die mich aber nicht ganz so begeistert hatte.

    Mein erster Seethaler war Ein einfaches Leben. Diesen Roman kann ich auch sehr empfehlen https://nummerneun.de/2017/02/17/robert-seethaler-ein-ganzes-leben-2014/

    Seit Jahren habe ich mir eigentlich auch schon einen dritten Seetaler vorgenommen. Vielleicht klappt es ja 2022.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Die Verfilmung habe ich noch vor mir – steht zumindest schon auf der Merkliste. Der Trailer sah ganz gut aus. Mal schauen wie der Rest so wirkt. Franzl wirkt zumindest im Trailer erstmal noch nicht so naiv und Anetzka etwas weniger berechnend/gedankenlos. Kann aber auch nur das Werbeversprechen sein …

      „Ein ganzes Leben“ wurde mir jetzt schon so oft empfohlen … vielleicht muss das dann doch mein nächster Seethaler werden,
      Hast du schon einen dritten im Blick? Ein Arbeitskollege von mir fand wohl „Das Feld“ gut, wenn auch nicht ganz so gut wie „Ein ganzes Leben“

      1. Ein konkretes Buch noch nicht. Der Trafikant und Ein ganzes Leben sind glaube ich so seine großen Werke, wie es um die Qualität dahinter bestellt ist, weiß ich nicht.

  2. Avatar von donpozuelo
    donpozuelo

    Danke für diesen Artikel. Dieses Buch und ich, wir begegnen uns immer wieder, ohne das wir so recht zueinander finden. Aber möglicherweise ist es jetzt dann doch mal an der Zeit. Das klingt schon echt interessant

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Na aber gern doch. 🙂 Das freut mich gerade in solchen Situationen, wenn es hilft rauszukriegen, ob es sein soll oder nicht. Ich wusste vorher nichts über Seethaler, außer dass alle immer irgendwie begeistert sind. Mein einer Seethaler-Eindruck sagt: zu recht.

  3. Eine sehr treffende, wunderschöne Zusammenfassung!
    Vieles, worüber wir uns auf Twitter gar nicht unterhielten, deckt sich in unseren Rezensionen. ZB. die Gedanken zu Freud. Aber klar, auf Twitter teilt man oftmals nur das „Extreme“: Dinge, die aufregen, die irritieren oder ünberwältigen. Die schlichteren, leiseren Sachen entfalten ihre Wirkung erst nach und nach und haben keinen „Aufhänger“ für Tweets (so mein Eindruck).

    Und auch wenn ich Franz sehr naiv fand und ich oft die Augen über ihn gerollt habe, mochte ich ihn auch irgendwie. Eine Person wie er ist in dieser Zeit selten und kostbar.

    Mich hat das Buch nicht ganz so aus den Socken gerissen, wie euch und alle anderen. Aber ja, auch ich möchte noch mehr von Seethaler lesen. Bei „Ein ganzes Leben“ wär ich dabei.

    „Wir sind halt alle Menschen. das was die Nazis um’s Eck offenbar vergessen haben. “ Diesen Satz habe ich beim Lesen übrigens sehr gefeiert! 😀

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