Kouki ist Anfang dreißig, arbeitet in einem Konbini und weiß nicht, warum er morgens aufsteht. Die Tage wirken auf ihn belanglos und er hängt Schulden der Vergangenheit nach. Eines Tages zettelt ein rauer Kunde einen Streit im Konbini an und Kouki wird fast zu Tode geprügelt. Als er einen Engel sieht, denkt er: „So, das war’s also. Auch gut.“ Aber nix da: Kouki wacht auf, hat eine dicke Krankenhausrechnung an der Backe und wird wieder in seinen tristen Alltag entlassen. Nur als er zuhause ankommt, sitzt dort der Engel, den er gesehen hat. Und der hat ein relativ loses Mundwerk und macht keine Anstalten wieder zu gehen.
Im Frühjahr 2021 startete Hayabusa als Ausgründung aus dem Carlsen Verlag mit wie folgt beschriebenem Themenspektrum „Neben einer großen Vielfalt an Boys-Love-Manga erscheinen hier besondere Liebesgeschichten, Slice-of-Life zum Wohlfühlen und vieles mehr.“ (carlsen.de, 12.12.2021) Mit einem Überhang zu Boys-Love-Geschichten und der Kurzzusammenfassung von One Room Angel könnte man nun auf den Gedanken kommen, dass sich zwischen Kouki und besagtem Engel was entwickelt und die Geschichte früh abschreiben, weil man meint zu wissen, in welche Richtung das alles geht. Tatsächlich ist One Room Angel aber in die Schublade Slice of Life zu stecken. Kouki lässt den Engel bleiben, da er sagt, dass er sich an nichts erinnern kann. Sein einziger Anhaltspunkt ist Kouki und die Gasse, in der Kouki fast zu Tode geprügelt wurde.
So unternehmen Kouki und der Engel einige Versuche herauszubekommen, wer der Engel ist, seine Erinnerungen zurückzubekommen oder seine Aufgabe herauszukriegen. Der Engel mag zwar ziemlich jung und unschuldig aussehen, stellt aber während ihres Zusammenlebens in der Einraumwohnung Fragen, die treffen. Nicht selten rückt er den offenkundig lebensmüden Kouki zurecht. Auf so wenig Platz kann man eben auch wenig verstecken. Er stellt Koukis Lebenseinstellung in Frage, warum er fast enttäuscht wirkt, dass er nach der Prügelei nicht gestorben ist und ob er niemanden hat? Keine Familie, keine Freunde? Obwohl Kouki eine Gangster-Vergangenheit hat, groß, breitschultrig und finster wirkt, sieht es in ihm ganz anders aus und die Antworten auf all die Fragen bewirken etwas in ihm. Er lernt das erste Mal sich zu öffnen. Das Zusammenleben beider bewirkt was bei dem jeweils anderen.
Könnte kitschig sein, wurde aber von Harada angenehm langsam und mit einer guten Portion an schwarzem Humor entwickelt. Ich denke da nur an die zum Schreien komischen Szenen, wenn Kouki auf Jobsuche geht oder die Situationen in denen Kouki und Engel irgendwas draußen unternehmen und nicht selten dabei in abstruse Situationen geraten. Man bemerke, dass nur Kouki den Engel sehen kann. 🙂 Das mag alles nicht neu sein, aber die Mischung aus naseweiß-frechem Engel und vom Leben weichgeklopften Gangster kommt einfach echt gut. Haradas Stil ist zudem sehr facettenreich. Die Autorin hat sowohl sehr düstere oder actionreiche Szenen auf Lager ebenso wie nachdenkliche, einfühlsame. Ihr gelingt es Szenen auf Papier zu bannen und nachfühlbar zu machen, die einiges an Stilmitteln bedürfen Schweißnasse, schwüle Sommerhitze und Enge eines Einraumapartments wird genauso einfach nachfühlbar wie auch die nächtliche Schlaflosigkeit, wenn Kouki wach liegt und sich fragt, was er tun würde, wenn der Engel verschwindet und er wieder alleine ist?
Einsamkeit ist ein großes Thema in One Room Angel für das die Enge des Einraumzimmers eine erschreckend gute (Anti-)Metapher ist. Kouki mag sein Leben wieder auf die Reihe bekommen, aber wie würde das weitergehen, wäre er wieder alleine? Ihrer beider Beziehung ohne Labels zeigt, dass egal wie groß unsere Bürde sein mag, wir viel davon mitnehmen, wenn wir andere in unser Leben lassen und uns unseren Ängsten stellen. Vor Allem aber unser Leben nicht aufzugeben und in die Hand zu nehmen – wer weiß, wieviel Gutes wir verpassen? Denn das ist das andere große Motiv. Es geht nicht nur um die Empathie für unsere Mitmenschen und den Umgang mit ihnen, es geht auch um die Beziehung von uns zu uns selbst: „Sei gut zu dir.“ Durch die Botschaft rund um Empathie und Vergebung gepaart mit der tragikomische Note wurde One Room Angel einer meiner liebsten Manga und Lieblingsbücher 2021 allgemein. One Room Angel ist ein Oneshot, d.h. in einem Band abgeschlossen.
Fazit
Einfühlsames Plädoyer für das Leben und sich anderen zu öffnen
Besprochene Ausgabe: ISBN 978-3-551-62135-1, Hayabusa/Carlsen Verlag
Wie gern hätte ich hier soviele Schlüsselmomente des Manga besprochen und Szenen gezeigt. Aber all das wären Spoiler gewesen oder hätte wirkungsvolle Abschnitte der Erzählung vorweg genommen, was nicht fair wäre. Auf ein Motiv in „One Room Angel“ konnte ich um Spoiler zu vermeiden nicht eingehen. Vielleicht konnte ich trotzdem in Worte fassen wie unheimlich gut und rührend ich den Manga empfunden habe. Jetzt muss ich dringend mal schauen, ob es noch mehr von Harada auf dem deutschen und wenn nicht wenigstens englischsprachigen Markt gibt. Hier und da liest man übrigens, dass „One Room Angel“ in 2022 erscheinen würde, tatsächlich ist der Manga aber seit Oktober draußen.
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