Der Buchbubble und Buchblogs sei Dank konnte ich im Laufe der Jahre viel wunderbare Literatur kennenlernen und mich dadurch (wie ich gern glauben möchte) als Leserin weiterentwickeln. Was sich auch weiterentwickelt hat ist meine To-Read-Liste. V.A. die Anzahl der Bücher darin. 🙂 Manchmal dauert es ein bisschen, aber vergessen werden all die Bücher nicht. So las ich neulich Die steinernen Götter, das ich einst innerhalb Sabines Reihe #WomeninSciFi und dort durch die Besprechung Birgits kennenlernte. Ohne, dass ich das damals wusste, „checkt“ das Buch „viele meiner Boxen“ wie man so schön sagt. Es ist Science-Fiction einer Autorin, fordert den Kopf, hat einen bissigen Humor, hat mich berührt und teilt einige Zukunftsvisionen, die erschreckend sind. Und v.A. erschreckend an unsere Gegenwart erinnern.
„Die Dinosaurier werden die Immobilienpreise drücken.“ (p.70)
Jeanette Wintersons Die steinernen Götter setzt sich aus vier Geschichten zusammen, die alle miteinander verbunden sind. Aber nicht geradlinig. Die erste Geschichte Der Blaue Planet handelt von einer hoch technologisierten Gesellschaft. Es gibt fast nichts, das noch nicht automatisiert ist. Ähnlich Terry Gilliams Zukunftsvision Brazil ist die Automatisierung soweit vorangeschritten, dass sich der Mensch ihr anpassen muss, sie nicht mehr hinterfragt und in einer geradezu lebensfeindlichen und widersprüchlichen Welt verharrt. Aber nicht mehr für lange. Der Planet ist ressourcentechnisch ausgelutscht, die Umwelt zerstört, er stirbt. Kommt uns bekannt vor? Offenbar haben sie aber einen neuen gefunden, der aber noch von Lebewesen bevölkert ist, die für die Menschen eine Gefahr darstellen. Dinosaurier ^^. Und so werden Raumfahrten zu diesem „blauen Planeten“ geplant, um ihn irgendwie zu terraformen und „erschließbar zu machen“. Unsere Protagonistin ist Billy, die auch an Bord der Mission soll und die Pläne mehr als kritisch sieht. Genauso wie Spike, eine sogenannte Robo sapiens, eine menschenähnliche Androidin. Beide verlieben sich ineinander und bezweifeln gleichzeitig, dass es Liebe zwischen einer Frau und einer „Maschine“ geben kann. Ist das Bedürfnis in Spike einprogrammiert? Ein Experiment oder ehrlich empfunden? Aber was ist schon unmöglich? Die Flucht ist für beide wünschenswert, ihr Leben in ihrer sterbenden Heimat war es nicht mehr. Auf dem blauen Planeten lockt ein neuer Anfang oder bleibt vielleicht nur ein Traum.
„Ich wurde in der Asche des Feuers geboren, und ich lernte, wie man brennt.“ p.161
Die erste Geschichte hinterlässt mit all den Zukunftsvisionen und der schon fast nihilistischen Weltsicht einen bleibenden Eindruck. Es gibt satirische Charaktere („Pink McMurphy“ ^^) und wenige wie Billy und Spike, die kritisch beäugen, wohin sich die Menschen entwickelt haben. Die sich scheinbar eines „vorhers“ oder „es ginge anders“ bewusst sind. Woher das? Eine der wenigen Fragen, die sich mir stellen und die das Buch nicht so gut beantwortet. Insbesondere die erste Geschichte hat einen bissigen, satirischen Humor, der mir sehr gut gefällt. Neben all dem bleibt aber die berührende Annäherung Spikes und Billys nicht außen vor genauso wie der nachvollziehbare Wunsch nach einem Ausweg und neuem Anfang.
Während der Raumfahrten der ersten Geschichte werden häufig Captain James Cook und seine Seefahrten erwähnt. In der zweiten Geschichte Osterinsel wird das Motiv aufgegriffen und Aufhänger der Erzählung, die nun eher Historiengeschichte ist. Jetzt befinden wir uns im Jahr 1774 mit dem auf der Osterinsel zurückgelassenen Schiffsjungen Billy, der irgendwie versucht dort klarzukommen. Die Rituale, Sprache und Kultur der Einheimischen versteht er nicht. Er wird aus einer brenzligen Situation von Spikkers gerettet, der zwar einheimisch ist, aber immerhin ein wenig Billys Sprache spricht. Auch dieser Billy und Spikkers werden füreinander mehr. Aber auch diese Welt ist nicht weniger brutal. Die letzten beiden Geschichten Nach WK3 und Wrack City spielen in einer Welt nach dem dritten Weltkrieg und wir werden erneut von einer Billie durch die Zeit und Gesellschaft begleitet, die den Krieg noch verarbeitet. Billie arbeitet in einer Forschungseinrichtung, die versucht Spike, die erste Robo sapiens, zu trainieren menschliches Verhalten und überhaupt die Welt zu verstehen. Bis Billie beschließt mit Spike abzuhauen. Die Tür stand offen.
„Um die Wahrheit zu sagen, es gibt überall Leben, sobald es Liebe gibt.“ (p.153)
Zu den Gemeinsamkeiten der Geschichten und ihrem roten Fäden zählen ganz offensichtlich Billy/Billie und Spike/Spikkers, die sich jeweils in einer Liebesbeziehung wiederfinden, die mehr oder weniger platonisch oder sexuell oder emotional wie sexuell ist. Und queer. Es ist jeweils Spike/Spikkers, der oder die in Billy/Billie den Wunsch nach einem neuen Anfang weckt. Nicht umsonst ist Billys Nachname in mindestens einer der Geschichten Crusoe und es gibt sogar mal eine Anspielung auf Freitag. Sie stranden in dieser plötzlichen Aussicht, dieser außergewöhnlichen Situation. Außerdem haben alle der Geschichten weitere wiederkehrende Motive. Allen voran den Wunsch nach zweiten oder dritten Chancen. Jede der Geschichten erweckt aber den Eindruck, dass wir Menschen es versauen. Dass es stets schon mal jemand vor uns probiert hat und scheiterte und wir es trotzdem immer wieder tun. Koste es, was es wolle. Da ist beispielsweise die Kultur der Einheimischen auf der Osterinsel. Sie haben steinerne Götter geschaffen, aufgerichtet, angebetet und es nun zum Ritual gemacht sie wieder einzureißen. Oder auch das Erschließen des blauen Planeten in der ersten Geschichte und der Plan die dortigen Wildtiere auszurotten, damit eine sichere Umgebung für den einfallenden Menschen geschaffen wird. Es lässt Raum für Spekulation, ob es sich bei dem Planeten nicht um die Erde handelt. Sind wir die zweite Chance? Oder der wievielte Versuch sind wir? Smart und folgenschwer.
Jetzt könnte man leicht zu dem Gedanken kommen, dass alle Geschichten in Reihenfolge erzählt werden. Tatsächlich lässt Die steinernen Götter viele Theorien zu. Und die letzten beiden Geschichten stellen all diese auf den Kopf. Forscherin-Billie findet darin nämlich ein Manuskript namens „Die steinernen Götter“, das sowohl die Geschichte von der Osterinsel als auch die des blauen Planeten beinhaltet. Ist alles was wir vorher gelesen haben also doch nur Fiktion? Die vier Geschichten sind damit gegenseitig referenzierend. Das ist genial, kommt aber mit einem Preis. Man kann da draußen kaum eine Buchbesprechung finden, in der nicht irgendwer sagt, das Buch nicht verstanden zu haben, es als anstrengend und verwirrend zu empfinden. Klar, ich war auch verwirrt, was ich glauben soll und ob ich vielleicht was fundamentales übersehe. Aber ich denke man lebt besser mit Entdeckungslust und Wissensdurst. Insbesondere die letzte Geschichte wirft Fragen auf. Wie kann das Manuskript, das Billie findet, Referenzen auf Pink bzw Mary McMurphy enthalten, wenn die doch erst ganz am Ende in Wrack City auftaucht? War das Manuskript zuvor unvollständig? Oder hat Jeanette Winterson sich verzettelt? Meine Erklärung ist, dass das Manuskript weder unvollständig ist und diese Verwicklungen absolut Wintersons Intention. Das Buch und Manuskript ist rekursiv und ein weiterer Ausdruck des Wunsch aus dem Hamsterrad auszubrechen. Dass neue Anfänge nicht auch irgendwann zu vertanen Chancen werden. V.A. durch das zerstörerische und selbstgerechte Wesen menschliche Natur.
„Ich schätze ihre Fixierung auf vierundzwanzig Jahre. Da jetzt alle jung und schön sind, sind viele Männer hinter Mädchen her, die eigentlich noch Kinder sind. Wo alles gleich geworden ist, wollen sie etwas anderes.“ p.28
„Sie ist quer durchs Universum gereist, und jetzt reist sie zum Recyclingwerk. Das Großartige an Robotern, selbst an diesem Robo sapiens, ist, dass niemand Mitleid mit ihnen hat. Es sind ja nur Maschinen.“ p.12
Nicht umsonst beinhalten viele der Geschichten fragwürdige menschliche Ideen und Entwicklungen. Der Hang zu Pädophilie in der ersten Geschichte ist bedenklich und erschreckend, kommt aber mit der Idee der Genfixierung. Jede:r kann durch einen Eingriff das eigene Alter fixieren lassen. Bei Frauen geht der Trend zu immer jünger. Mangelnde Empathie ist außerdem in allen Geschichten zu finden. Entweder wegen mangelnder Kommunikation und Statusdenken wie der Geschichte um die Osterinsel oder aus reiner Bequemlichkeit. In der ersten Geschichte und ihrer hoch-automatisierten Welt ist es schick Border-Collie-Roboter zu haben. Denn wenn das Bellen nervt, haben die immerhin einen Knopf zum stummschalten. In der letzten Inkarnation Billys/Spikes in der Post-WW3-Welt sind Emotionen gebrandmarkt als der Auslöser von Krieg und Gewalt. Dass Emotionen nicht mehr „in“ sind, resultiert in mangelnder Empathie, was die Geschichte an vielen Stellen schmerzhaft beweist. Und hoffentlich ein Mahnmal ist.
Viele Debatten und Ideen sind spannend. Man nehme nur „Es war eine Erleichterung als das Geld abgeschafft wurde.“, p.183. Andere ähneln unserer Gegenwart erschreckend, indem sie die Übermacht diverser Firmen adressieren, die quasi als Staat fungieren. Bei all dem könnte man denken, dass Die steinernen Götter nur voller grausiger Zukunftsvisionen und misanthroper Ideen steckt wie schlecht wir Menschen doch sind. Letzteres ist nicht ganz von der Hand zu weisen – es ist zivilisations- und gesellschaftskritisch. Aber gerade in Billy/Billies und Spikes/Spikkers erfrischend kritischer, schwelgerischer und rebellischer Weltsicht steckt der Funken Hoffnung. Sie bringen das Gefühl zurück in die Welt. Ihr bissiger Humor ist was wir brauchen („Hier kommt mein Chef Manfred. Er ist ein Mann, der dazu geschaffen wurde, immer weiter aufzusteigen: ein menschlicher Fahrstuhl.“, p.14). Ihr Trotz unser Trost und Wintersons Sprache ein Genuss. Dass Die steinernen Götter Lesende ein bisschen zum puzzeln veranlasst, kommt mir eigentlich gerade recht. Diese Besprechung ist außerdem Teil einer Reihe von Beiträgen anlässlich des Pride Monats Juni, in dem ich mich auf Medien mit queeren Protagonistinnen konzentriere. Wobei einige von Billy/Billies und Spike/Spikkers Inkarnationen die Labels dehnen. Das halte ich aber für willkommen. Ich hoffe ihr auch.
Fazit
Interessantes, aber sehr zynisches Buch und das vielleicht erste rekursive, das ich gelesen habe
Besprochene Ausgabe: ISBN 978-3-8270-0950-0, Berlin Verlag
„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂
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