Unser Buchclub hat die Aufgabe ernst genommen und uns zum Jahresende noch ein gemeinsames Lesen beschert, dass 1. viel Diskussionsstoff bietet und 2. sehr winterliche Gefühle weckt. Am besten zu Lesen mit einem Heißgetränk in der Hand. Im Buch der erst vor vier Jahren verstorbenen Ursula K. Le Guin entführt sie uns auf den fernen Planeten Winter. Von den Einwohner:innen wird er auch Gethen genannt und sie in der englischen Ausgabe als Gethenians bezeichnet. Auf Gethen herrschen eisige Temperaturen, die zumindest meine Vorstellungen von Winter übersteigen. Genly Ai lebt dort inzwischen seit bereits zwei Jahren, geduldet als Diplomat. Er versucht die Gethenians davon zu überzeugen der interstellaren Vereinigung des Ekumen beizutreten. The Left Hand of Darkness schildert wie er in einen Sog aus politischem Ränkespiel gezogen wird. Nebenbei thematisiert das Buch aber auch eine Gesellschaft, die keine Geschlechterrollen kennt. Die Gethenians sind nur einmal im Monat sexuell aktiv. Im sogenannten kemmer nehmen sie zufällig die Geschlechtsmerkmale einer Frau oder eines Mannes an, ansonsten sind sie weder das eine, noch das andere. Welches Geschlecht sie im kemmer annehmen ist nicht steuerbar.
„Though I had been nearly two years on Winter I was still far from being able to see the people of the planet through their own eyes. I tried to, but my efforts took the form of self-consciously seeing a Gethenian first as a man, then as a woman, forcing him into those categories so irrelevant to his nature and so essential to my own.“ p.12
„The king was pregnant.“ (p. 106)
Für Genly ist das Konzept fremd. Er sucht ständig in ihrer außerhalb des kemmer androgynen Erscheinung nach männlichen und weiblichen Merkmalen. In Ermangelung eines Pronomens redet er die Gethenians mit Namen an oder verwendet das generische Maskulinum. Die regierende Person der Region, in der er zu Beginn des Buches residiert, nennt er König. Dissonant – so klingt das Zitat, das ich hier als Überschrift gewählt habe und legt unseren Gender-Bias offen. Genly kämpft damit. Der Umstand nicht klassifizieren zu können, legt auch seine unterschwellige, ihm vielleicht nicht mal bewusste Frauenfeindlichkeit offen. Wann immer ihm ein:e Gethenian spitzfindig, als Lästermaul oder ähnliches vorkommt, schreibt er der Person weibliche Züge zu. Genly ist dabei keinesfalls ein unsympathischer Protagonist, aber das wohl beste Beispiel für Bias. Wie auch die Gethenians einen Bias haben.
Dadurch, dass Genly immer sexuell aktiv ist, sehen sie ihn als Perversen. Nennen ihn genetisches Monster und sexual freak. Glücklicherweise scheinen sie häufig aber zu höflich zu sein um ihm solche Begriffe um die Ohren zu hauen. Seiner Aufgabe kommt er u.a. mit Hilfe Estravens nach. Estraven ist Premierminister:in und hat Genly lange dabei unterstützt Gehör beim „König“ zu finden. Als Genly letzten Endes nicht weiterkommt, geht er. Parallel dazu wird Estraven als Verräter aus dem Königreich verbannt. Was ist hier wirklich vorgefallen und hat Estraven etwas damit zutun, dass Genly unverrichteter Dinge weiterziehen muss? Wer ist Freund? Wer ist Feind?
„[…] never to let them use you, for they will not use you well.“ (p.141)
Ab da beginnt eine faszinierende Reise über den Planeten. Während Genly versucht in anderen Regionen Gethens Gehör zu finden, versucht Estraven die eigenen Pläne aus der Ferne voranzutreiben. Ihre Wege werden sich wieder kreuzen und eine gewisse Feindseligkeit entsteht. Genly fühlt sich sabotiert. Lesende stecken in derselben Klemme wie Genly wie sich später offenbart. Zwar kennen wir eine Menge Regeln Gethens, weil sie uns spielerisch nebenbei erklärt werden, aber im Verständnis füreinander fehlt etwas. Ein feiner Schleier zwischen den Weltanschauungen und Mentalitäten. Es ist Ursula K. Le Guins ganz eigene Meisterinnenhaftigkeit, dass wir mit der Zeit verstehen. Auch Genly, für einen hohen Preis. The Left Hand of Darkness eskaliert nach einem ruhigen Beginn über diplomatisches Unterfangen schnell. Es wird manchmal körperlich, manchmal moralisch brutal.
„[…] I knew it was time to turn to my enemies, for there was no more good in my friends.“ p.198
„Banished men should never speak their native tongue; it comes bitter from their mouths.“ p.141
„Nusuth“
Nusuth ist ein Begriff in der Landessprache, der soviel heißt wie „macht nichts“. Nusuth reiht sich wie so vieles sehr natürlich in die Handlung ein. Zwar hat man beim Lesen anfangs jede Menge Fragezeichen über kemmer, die Gethenians und Ekumen, aber Ursula K. Le Guin überfordert nie. Wir werden nie mit zu vielen Eindrücken und typischen Begriffen Gethens überhäuft. Zwischen den Kapiteln gibt es Tagebucheinträge, Sagen und Überlieferungen, anhand derer wir einen Eindruck von den Herausforderungen und Glauben auf Gethen bekommen. Meine liebste Geschichte oder Sage war „The Nineteenth Day“. Für all das muss Ursula K. Le Guin nur wenige Worte aufwenden. Ihre Beschreibungen sind knapp und prägnant. Die Oneliner bleiben hängen. The Left Hand of Darkness ist wie ein Handbuch aus Weisheiten und entlarvenden Reflektionen über das Zusammenleben der Menschen. Wie auch Ideen, die sie einstreut, beispielsweise mit welcher Leichtigkeit wir etwas als normal erachten. Beispielsweise, dass es normal ist, dass wir die Welt in „nur“ zwei Geschlechter einteilen. V.A. lehrt uns das Buch, dass andere „ihr normal“ eben auch als „normal“ ansehen und das respektiert werden muss. Letzten Endes sind alles ausgedachte Regeln. Warum ist es so schwer etwas zu ändern, was letzten Endes eh nur ausgedacht ist?
„To learn which questions are unanswerable, and not to answer them: this skill is most needful in times of stress and darkness.“ p.164
So betrachtet ist der Planet Gethen genderfluid und ambisexuell. Würde ich auf die Straße gehen und über diese Begriffe mit x-beliebigen Menschen reden, würden viele abwinken, vermute ich. Kenne ich nicht, weiß ich nicht, will ich nicht, lass mich damit in Ruhe. Wie ging das Ende der 60er Jahre als der Roman erschien? Da war es Teil der Science-Fiction. Nur, dass dieser Teil nicht nur Fiction ist, sondern Realität. Jetzt verstehe ich, warum Ursula K. Le Guin kein wahnsinnig großer Fan der Einordnung in Genres ist. Müssen wir nun unbedingt die Science in dieser Science-Fiction auseinandernehmen, dann beschränkt sich diese zum Einen auf gesellschaftliche und sozio-ökonomische Aspekte; aber auch die Raumfahrt. Zwar bleibt die Gemeinschaft Ekumen für mich bis zum Schluss wie eine Black Box, aber mehr muss sie wahrscheinlich auch nicht. The Left Hand of Darkness ist der 4. Teil des Hainish-Zyklus K. Le Guins. Sicherlich findet Ekumen darin mehr Erwähnung. Wirklich kennen muss man das alles aber nicht, um sich in dem Roman, Genlys und Estravens Reise zurechtzufinden. Nusuth.
„[…] to darkness I must entrust myself, and him.“ (p.207)
Wie ein eigenständiger Nebencharakter reiht sich in die Erzählung allerdings Gethen und der eisige Winter. Es wird eine markante und lange Passage geben, in der Genly und Estraven gemeinsam auf der Flucht sind und versuchen in diesem Winter zu überleben. Gemeinsam. Dieses letzte Drittel des Buches ist wohl der beeindruckendste Teil. Sowohl was die sehr zehrende Charakterreise betrifft als auch die fast physisch spürbare Kälte, die K. Le Guin schildert. Mir fröstelte. Am Ende erkennen Genly und Estraven, dass Gegensätze uns stark machen. Und damit ist keinesfalls ihr Geschlecht gemeint. Sondern ihre Denkweisen und Charaktere. Wir erkennen die Stärken der linken Hand der Dunkelheit und der rechten Hand des Lichts, einem Konzept ähnlich Yin und Yang. Ich war sehr gerührt und betroffen von allem, was die beiden durchstehen – auf ihre jeweils sehr unterschiedliche Weise. Das macht das Buch letzten Endes nicht nur zu einem voller spannender Ideen, sondern auch zu einem ausgezeichneten Roman.
Bahnbrechend ist auch wie Ursula K. Le Guin fallen lässt, dass einfach mal alle Charaktere in der Handlung dunkelhäutig sind. Ein Statement gegen den „ewig weißen, heldenhaften Protagonisten“. Es gibt aber neben all dem auch vertane Chancen, die sich zwangsläufig auftun, wenn man so früh so viel versucht. Im Nachwort meiner Ausgabe wird so sehr viel das generische Maskulinum erörtert. Verübeln kann ich es K. Le Guin nicht, dass sie darauf verzichtet hat komplett genderneutral zu schreiben. Schaut uns an. Es ist 2022 und wir debattieren immer noch darüber, ob oder ob nicht und wenn ja wie man genderneutral spricht und schreibt. Eine andere vertane Chance sehe ich darin, dass in diesem Konzept aus geschlechterrollenloser Gesellschaft Homosexualität kein Teil des Konzepts ist. Trotzdem ist The Left Hand of Darkness ein Buch, dass mich von Seite 1 an fasziniert hat und dass ich kaum aus der Hand legen konnte wegen all der Augenöffner darin. Vielleicht sollte es von allen gelesen und bewundert werden. Nicht nur vielleicht, sondern es sollte. Dass ich übrigens diese Ausgabe gefunden habe, war mehr Glück, da viele Ausgaben inzwischen vergriffen sind. Der Buchhändler meines Vertrauens hatte noch diese Jubiläumsausgabe. Allerdings erscheint im Januar meines Wissens auch eine Neuausgabe auf Deutsch.
„The only thing that makes life possible is permanent, intolerable uncertainty: not knowing what comes next.“ p.75
Fazit
Unbedingt Lesen und den eigenen Bias hinterfragen.
Besprochene Ausgabe: ISBN 978-0-441-47812-5, ACE/Penguin Random House
Kennt ihr K. Le Guins Roman? Oder vielleicht andere des Hainish-Zyklus? Ich bin jetzt schon etwas neugierig und hätte Lust die anderen zu lesen, befürchte aber, dass meine Erwartungshaltung jetzt ziemlich hoch ist. ^^ Vielleicht muss ich das erstmal korrigieren. Das ist das nun schon 22. Türchen im Booleantskalender.
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