Wir hörten … „Sprache und Sein“ von Kübra Gümüşay

Das fiel mir schwer. Keinesfalls das Hören von Kübra Gümüşays großartigem Buch- einem in Seiten gegossenen Wachrüttler. Sondern der Artikel darüber. Ganz außer der Reihe und relativ spontan, beschlossen nämlich Jana vom Blog Wissenstagebuch und ich uns das Buch in einem buddy read zu Gemüte zu führen. Nur hatte ich es schon als Hörbuch, wodurch unser Vorhaben ein „gemeinsames Hören“, statt „gemeinsames Lesen“, wurde. Dadurch, dass ich mir etwas schlechter Stellen markieren konnte und eigentlich sowieso nur die ganze Zeit zustimmend nickend das Hörbuch laufen ließ, hatte ich das Gefühl nichs beitragen zu können. Jedenfalls kann v.A. auf Janas Besprechung und Rückblick zur „Hör-Runde“ verweisen. 😉 Nach einer kleinen Pause aber, fallen mir doch einige Dinge ein, die gesagt werden können und sollen. Alle unsere Gedanken könnt ihr auf Twitter unter #DarüberSprechenUndSein rückblickend nachlesen.

Der Titel des Buches kommt nicht von ungefähr. Zuerst arbeitet sich Kübra Gümüşay durch Sprache mit all ihren sehr individuellen Gegebenheiten. Global, interkulturell, emotional, persönlich und auch weniger persönlich – vor dem Auge der Öffentlichkeit. Das erste Kapitel beginnt damit, was Sprache für die Autorin bedeutet und womit sie welche Sprachen verbindet. Auf emotionale, aber auch distanzierte Weise macht Gümüşay deutlich, was es bedeutet auf eine Sprache verzichten zu müssen. Sie sagt sie habe in der einen Sprache geliebt, in der anderen gearbeitet, in der einen ihr Buch geschrieben, in anderen Sprachen Gedichte. Alles hat einen Wert, der sich nicht aus ihrer Identität schnitzen lässt. Und hier kommen wir nach und nach zum Sein von Sprache und Sein. Selbst das Cover verdeutlich wie sehr sich diese Aspekte gegenseitig beeinflussen und Schnittmengen bilden.


Kübra Gümüşay – Sprache und Sein. Wie Worte unser Denken prägen | LIVE @ Reeperbahn Festival 2020, Reeperbahn Festival

In den weiteren Abschnitten ihres Buches kommt dazu die öffentliche Wahrnehmung und die Exponiertheit von Menschen, denen man beispielsweise ihren Glauben ansieht oder von BIPoC. Kübra Gümüşay schildert aus eigener Hand wie sie ständig aus ihrer Komfortzone gerissen wird, weil sie in dem, was eigentlich ihr „Feierabend“ ist, plötzlich aufgrund ihrer Kopfbedeckung dazu aufgefordert wird eine Meinung zu beziehen. Ist die muslimische Frau nicht unterdrückt? Muss sie, Kübra, gerettet werden? Wie steht sie zu Krieg und Glaube, zur Weltpolitik und Gesellschaftsfragen? Und der Knaller: wo komme sie denn her? Feierabend, Diskussionspause, innerer Frieden adé. Das Thema Sprache ist nie ganz weg – es ist immer Teil des Diskurses. Ob in sozialen Netzen, im Alltag oder als Teil unserer mehr oder weniger bewussten „Toolbox“.

So bezieht Gümüşay relativ früh im Buch Stellung zu genderneutraler Sprache. Diese ist für Inklusion und gegenseitigen Respekt unersetzlich. Ob es aber das Gendersternchen oder ein anderes Mittel sein muss, lässt Raum für Diskussion; das teile auch ich. Hier wird wohl auch klar, dass Benennung Lösung aber auch Problem ist. Benanntwerden ist dann schlecht, wenn wir Annahmen über jemanden treffen, die nur aus unserem Bias gespeist werden und anderen weh tun und Schubladen bedienen („Wo kommst du her?“). Benennen aus Respekt und Inklusionsgedanken (genderneutrale Sprache) ist wünschenswert. Wie vereinbart man das? Das erfordert Fingerspitzengefühl. Für mich eine der Kernaussagen aus Sprache und Sein, die mich fortan fast täglich beschäftigt wie auch schon vor der Lektüre.

All das trägt die Autorin mit sehr angenehmer, klarer und freundlicher Sprache in dem Hörbuch selbst vor. Auch mit entsprechend dringlicher Betonung oder Zurückgenommenheit in Passagen, in denen sie traumatische Erlebnisse wiedergibt. Denn ja, das Hörbuch hat zahlreiche Beispiele aus dem öffentlichen Diskurs (Beispielsweise Gaulands unnötige Fragestellung, ob Jérôme Boateng ein guter Nachbar wäre und die darauffolgende offensichtlich diskriminierende Debatte), aber auch sehr persönliche von Kübra Gümüşay selbst. Über den Hass, den Journalist:innen abbekommen und sie als Muslima und Privatperson. Über prekäre Situationen, in denen sie sich wegen der mangelnden Sensibilität und Aufklärung anderer wiederfand, öffentlich abgestempelt und stigmatisiert wurde. Es ist schmerzhaft. Man möchte beim Zuhören fast schreien, was für eine Ungerechtigkeit all dieses unreflektierte Verhalten ihr gegenüber ist. Und allen, die sie als Beispiel heranzieht.

All diese Beispiele sind schmerzhaft und stark und machen begreiflich, warum es so wichtig ist, sich am öffentlichen Diskurs zu beteiligen, den eigenen Bias zu hinterfragen und jeden Tag nachzujustieren wie wir denken und uns verhalten wollen. Es sind Erste-Hand-Erlebnisse und Wahrheiten aus einem Alltag, den jeder von uns beeinflussen kann. Zum besseren oder zum schlechteren. Besonders schockierend empfand ich darunter auch Gümüşays Erlebnisse als Journalistin. Als Profi und Expertin, der manchmal überhaupt nicht professionell begegnet wird und die insbesondere Fernseh- und Informationsformate als Sammelbecken von Interessen darstellt. Was ist schon die Informationspflicht? Was bedeutet schon reflektiert und alle Seiten zu sehen, geschweigedenn allen Raum zu geben im Angesicht dessen, was Quote macht? Drum prüfe deine Fakten. Was Sprache und Sein auszeichnet ist aber auch, dass Kübra Gümüşay eben nicht nur die abschreckenden Beispiele voll der Diskriminierung hat, sondern ebenso jene von Menschen, die es anders machen.

Vom wissenschaftlichen Standpunkt her hätte ich mir noch mehr zitier- und nachschlagbare Quellen gewünscht. Da Gümüşay einige Quellen nicht offenlegen kann und Namen nicht nennt, ist eben nicht alles nachschlag- oder nachweisbar. Zudem verfügt zumindest meine Hörbuchversion über keinen Anhang, der vielleicht Quellen enthalten hätte. Hier bin ich also sehr wankelmütig, ob die Wahl in Hörbuchform hier nicht für meinen Zweck und meine Bedürfnisse eher die falsche war. Das nächste Mal würde ich zu Print greifen. Das heißt übrigens nicht, dass das Buch über keine verfügt. Natürlich zitiert Gümüşay auch andere Personen direkt am Text mit Quellenangabe. Davon abgesehen sind einige geschilderte Situationen, Quellen und Denkmuster welche, die man schon kennt. Ähnlich wie Jana es in ihrem Beitrag über unsere „Hörrunde“ dargelegt hat, war für mich vieles bekannt. Setzt man sich nicht erst seit gestern mit Feminismus und geschlechtsneutraler Sprache, Diskriminierung und deren Strukturen auseinander, dann passiert das unweigerlich. Ein solches war für mich beispielsweise das Chirurgen-Rätsel. Ist das schlimm? Für mich nicht, nein .Einen Refresher kann man immer mal gebrauchen. Dass ich etwas schon kenne, schmälert nur sehr subjektiv für mich den Gewinn aus einem Buch. Was auch heißt: das müssen Lesende für sich selber entscheiden.

Bedenklicher wäre es für mich, wenn Gümüşay dem Bekannten nichts hinzuzufügen hätte. Aber durch ihren Scharfsinn und ihre Weltgewandtheit füllt sie das Bild weiter aus. Ich mochte sehr die Esstisch-Metapher, die Algorithmen und Netzkultur als Echokammer einer unscharg umrissenen „lauten Stimme“ aus der Gesellschaft entlarvt. Man stelle sich vor eine Gemeinschaft bei einem Dinner würde funktionieren wie ein Social Media Feed. Alle sitzen am Tisch, alle sollten gleichberechtigt sein, aber wundersamerweise ist eine Person viel leiser als all die anderen und geht im Gespräch unter. Wer entscheidet, wer gehört werden darf? Was kann nun nach all diesen Wachrüttlern die Botschaft sein? Und was die Lösung für all das, was die Autorin kritisiert? Jana und ich haben darüber einige Runden in der Diskussion gedreht, ob Kübra Gümüşay zu wenige Lösungen liefert. Letzten Endes adressiert das die Autorin selber und sagt, dass sie die Lösungen nicht liefern muss, um eine Ungerechtigkeit und ein Problem ansprechen zu dürfen. Das erscheint mir korrekt. Im Umkehrschluss ist es dann eben an uns diese Lösungen zu formen. Ich habe Sprache und Sein als wachrüttelnd und ermutigend empfunden. Es ist aber auch wahr, dass ich mich über mehr Lösungsansätze gefreut hätte. Arbeiten wir dran.

Im Nachgang an die Lektüre habe ich mich gefragt, was das Buch wohl für ein Echo in der Öffentlichkeit ausgelöst hat. In meiner Bubble war das nämlich überwiegend Begeisterung. So stieß ich aber beispielsweise auch auf die Emma-Artikel Alice Schwarzers, die Kritik an Gümüşay äußern. Ich muss gestehen, dass für mein subjektives Empfinden die Emma-Artikel wie eine sehr einseitige und negative Berichterstattung wirken. Auch ist aber bekannt, dass sich Gümüşay von der Nennung eines Dichters wiederum nachträglich distanziert hat. Im Print überarbeitet, war diese Empfehlung noch Teil meiner Hörversion. Dass es Kritik gibt, schmälert aber keinesfalls, was das Buch aussagt. Viel mehr ist es eine Erinnerung daran Fakten zu prüfen – die im Buch, aber auch die der Kritik! Davon abgesehen denke immer noch, dass Stellungnahme und Ändern der Ansicht ein Zeichen von genau dem ist, was Gümüşay uns in dem Buch nahelegt und ein Zeichen von Stärke. Auch wenn ich das Buch sehr empfehlen kann, ein gemeinsames Hören kann ich nicht so gut empfehlen. Zwar hat es mit Jana sehr Spaß gemacht, aber eine „Hörrunde“ allgemein ist doch zu umständlich. Passagen markieren geht, aber diese im Nachhinein nachzuempfinden ist mir selber zu umständlich. Auch die Quellenproblematik verleidet mir das Thema Hör-Sachbuch wieder etwas und ich werde wohl demnächst eher zum Print-Sachbuch greifen. Ob ich alleine lese oder in der Hörrunde. Hattet ihr schon mal eine Hörrunde? Kennt ihr das Buch und wie habt ihr es gelesen?

7 Antworten

  1. „Dass es Kritik gibt, schmälert aber keinesfalls, was das Buch aussagt. Viel mehr ist es eine Erinnerung daran Fakten zu prüfen – die im Buch, aber auch die der Kritik! Davon abgesehen denke immer noch, dass Stellungnahme und Ändern der Ansicht ein Zeichen von genau dem ist, was Gümüşay uns in dem Buch nahelegt und ein Zeichen von Stärke.“

    Mir kam der Name so bekannt vor. Ich habe in Berlin ab und zu von Senatsseite den Namen erhalten, aber ich erinnerte mich daran, dass da irgendwas mit Kritik war. Wenn man sich die Kritik anguckt, klingt es schon scheinheilig. Ich habe nicht viel von ihr mitbekommen, aber es schien nicht mit diesem Dichter (dessen Namen du nicht erwähnst..?) aufzuhören.

    Dazu gibt es einen… na ja… sehr peniblen Artikel dazu: https://schmalleunddiewelt.wordpress.com/2020/02/08/kubra-gumusays-argumente-uberzeugen-mich-nicht/

    Werk und Autor zu trennen, wird nicht jedem zugestanden. Wenn sie sich für eine Sensibilisierung der Sprache einsetzt, würde ich mich darüber freuen, wenn sie auch Leute aus ihrem Kulturraum mit ins Boot setzt. Denn meine Erfahrung ist, dass es oft bei der Kritik an der Mehrheitsgesellschaft bleibt. Dabei hat gerade ihr islamistisch kategorisiertes Umfeld, mit dem sich regelmäßig traf, bestimmt nicht die neutralste Sprache. Dazu gehört im Übrigen auch die eFrage „Wo kommst du her?“. Das fragen mich sowohl Deutsche als auch Migranten. Warum wirkt es so als werde nur eine Seite dafür kritisert?

    Mir fällt immer häufiger auf, dass du Bild- oder Videonachweise schreibst, aber nix zu sehen ist. Habe ich Halluzinationen? Da ist oben kein Bild von ihr beim Reeperbahnfestival, oder?

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Nein, mit dem Dichter hört es nicht auf. Ich habe noch einige Tabs offen um die Hintergründe besserzu verstehen. Mein Artikel bespricht nun letzten Endes das Buch und nicht Kübra Gümüşay. Ich habe den Absatz deswegen nicht weiter ausgebaut und weil ich das Gefühl habe noch mehr die Hintergründe verstehen zu wollen.

      Den Namen des Dichters habe ich nicht erwähnt, weil ich ihn nicht weiter verbreiten wollte im Sinne von „keine Plattform“ geben wollte. Darüber habe ich lange nachgedacht und weiß auch noch nicht ob das meine Lieblingslösung ist.

      Das kann schon sein, dass das „Wo kommst du her“ und die diskriminierungsfreie Sprache für beide Seiten gelten muss. Ich werfe auch mal den „Alman“ in den Raum. Ich fänds auch nicht gerade geil als „Alman“ bezeichnet zu werden. Aber sagen wir mal so – ich verstehe es. So wie meine männlichen Kollegen meine Monologe über Frauen in MINT aushalten, kann ich mal die Monologe anderer aushalten. Solange es dabei bleibt.

      Vieles von dem was Gümüşay sagt sehe ich und verstehe ich. Werk und Autor:in trennen mag so-so sein. Auch mir gelingt das nicht immer. Es gibt eine Menge Regisseure, die ich boykottiere beispielsweise. Und diverse Parteien. Aber ich denke hier lohnt es sich zu trennen.

      Ja, da oben ist eine Lesung mit Publikumsfragen als Video eingebettet. Das mit den eingebetteten Videos hatten wir schon mal. Ich kann es halt nicht bei mir nachstellen. In verschiedenen Browsern werden mir die Videos angezeigt. Ich kann mir vorstellen, dass du entweder einen Browser oder Plugin verwendest, der Videos nicht unterstützt oder Javascript ausgeschalten hat? Ich habe auch vor den Videos einen Opt-In-Dialog – vielleicht hast du den mal verneint? Dann würdest du dort aber meines Wissens ein Bild des Videos als Thumbnail sehen.
      Siehst du die Videos denn mit anderen Browsern auch nicht?
      Oder betrachtest du die Artikel durch einen Feedreader o.Ä.?

      1. Schade, der Feuerfuchs ist das Problem. Seit kurzem lässt er mich nicht mal einen Login (andere Website) machen. Ich muss mal gucken, ob das bei den anderen Blogs auch passiert.

        Vielleicht hättest du die Kritik nicht konkret ansprechen müssen mit dem „EMMA“-Artikel und dem Dichter. Es könnte ja reichen, darauf hinzudeuten, dass sie eine umstrittene Autorin ist und du eventuell einen eigenen Beitrag dazu schreibst, wenn du dir das zutraust. Hauptsache nicht in der Form, wie es einige Medien machen à la: „Sie wird für ihre islamistischen, antisemitischen und frauenverachtenden Aussagen kritisert“ und dann wird rein nix zitiert. Ich halte übrigens nicht viel von Deplatforming. Meiner Meinung nach hat sich das in eine gefährliche Richtung entwickelt, wo es nicht mehr um Guerilla-Attacken auf die Infrastruktur konkreter Gruppen geht, sondern um das Denken der Bürger zu beeinflussen. Menschen sollen selber denken können und das geht nur mit Erfahrungen machen.

        Du hältst also deinen Kollegen Vorträge? Oh je… ^^“

        1. Avatar von Miss Booleana
          Miss Booleana

          Ich schätze jede:r hält früher oder später Vorträge, wenn das Thema genug triggert 😉

          1. Hängt von der Person ab, würde ich schätzen. Sei vorsichtig; wenn man zu sehr nervt, erreicht man das Gegenteil.

  2. […] geht’s zu Steffis Beitrag auf dem Blog […]

  3. […] Jahr 2023 gab es „nur“ zwei Leserunden. Eine zu Sprache und Sein, die so spontan zustande kam, dass ich die gar nicht ankündigte. Die andere war zu Emily St. John […]

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