Literarische-Fundstücke: Die Manga Satoshi Kons

Anlässlich des Welttags des Buches am 23. April kann ich gar nicht anders als die ganze Woche im Blog Büchern zu widmen. 🙂 Angefangen heute mit dem wohl nischigsten Thema – den Manga eines ganz bestimmten Künstlers, der zudem vorrangig  als Anime-Regisseur bekannt ist. Der leider viel zu früh verstorbene Satoshi Kon dürfte den meisten als Filmschaffender hinter Animeklassikern wie dem Psychothriller Perfect Blue, der Serie „Paranoia Agent“ oder (einem meiner Lieblingsfilme aller Zeiten) Millennium Actress bekannt sein. Seine Manga stehen seinem filmischen Schaffenswerk in nichts nach.

„Tropic of the Sea“ (aka „Kaikisen“)

Dieses Jahr wurde durch Carlsen Manga das Werk Satoshi Kons unter dem Namen Kaikisen veröffentlicht. Ich selber habe vor Jahren die englische Ausgabe mit dem Titel Tropic of the Sea geschenkt bekommen und das als Anlass genommen, nun endlich mal reinzulesen. Der in einem Band abgeschlossene Manga handelt von Yosuke Yashiro, dessen Familie traditionell einen der lokalen Tempel des Küstenorts führt. Zudem passen sie seit Jahren auf ein angebliches Ei einer Meerjungfrau auf, das gut behütet in einem Schrein verwahrt wird. Als aber die Region als Tourismuszentrum erschlossen werden und großflächig umstruriert werden soll, schlagen Investoren und Bauherren mit allerlei Plänen auf. Dazu gehört das Ei und die Meerjungfrauensage zu vermarkten. Yosukes Vater spielt mit dem Gedanken einzulenken. Obwohl Yosuke den Sagen nie viel Glauben schenkte, macht ihn der Verrat wütend und er fürchtet die Konsequenzen, sollte an der Sage was dran sein. Denn es heißt, dass wenn die Familie nicht auf das Ei aufpasst, das Meer zornig wird.

Satoshi Kon spielt hervorragend mit der Sage. Nicht selten lässt er Yosukes Blick bei der Fahrt über’s offene Meer schweifen – hat er gerade eine Meerjungfrauenflosse gesehen oder war das nur seine Fantasie? Tropic of the Sea spielt mit der Beziehung zwischen Mensch und Natur in Form eines beiderseitigen Vertrags. Droht der zu brechen, gerät das Gleichgewicht aus den Fugen. Dem gegenüber steht die überalternde Küstenregion, die den Bewohner:innen kaum noch Jobs anbieten kann. Ehemalige Schulkamerad:innen sind entweder in die wenigen lokalen Berufszweige aufgegangen oder kommen nur für kurze Besuche mal in die Heimat. Satoshi Kon macht heimlich das Meer zu einem Charakter. Die Strand- und Wellenpanel machen, dass man Lust bekommt zu schwimmen und die eigenen Fußspuren am Strand zu sehen. Dankbarerweise gibt er auch den Charakteren, die man schwer nachvollziehen kann wie Yosukes Vater zumindest später im Manga Profil und erklärt ansatzweise ihre Beweggründe.

Tropic of the Sea spitzt sich in einem spannenden Finale zu und hat ein atemberaubend schönes Artwork. Das funktioniert sicherlich auch für diejenigen, die dem „Große Augen“-Mangastil nicht viel abgewinnen können, da der Zeichenstil sehr realitätsnah ist. Auch der Umstand, dass der Manga in einem Band abgeschlossen ist, macht es zu einem guten Einsteigermanga. Zweimal hinschauen lohnt sich: Kons Handschrift als Anime-Regisseur ist gut erkennbar. So wenn beispielsweise im einem Panel der Küstenort abgebildet wird, nur um im nächsten zu erkennen zu geben, dass es nur eine Postkarte war oder ein Modell. Kon liebte damit zu spielen – und stellt hier die Realitäten eines Lebensraums im Wandel dar.

„Seraphim: 266613336 Wings“

Seraphim: 266613336 Wings ist das (leider unvollendete) Gemeinschaftswerk der Anime-Regisseure Mamoru Oshii und Satoshi Kon. Kommen zwei solche Legenden zusammen, dann kann das nur großartig werden. Was es auch ist. Was aber eben auch nie beendet wurde. Dark Horse Comics brachte es als Einzelband heraus und Seraphim … macht in Gänze klar, dass uns hier ein Meisterwerk entgeht. Der Manga handelt von einer Pandemie, die Menschen optisch in Engel verwandelt, aber auch willenlos und halluzinierend zurücklässt. Zeitgleich gibt es eine Art Vogel-Manie, in der sich Riesenschwärme bilden. Die Menschen sehen ihrer Ausrottung entgegen und verfallen in Panik. Es kommt zu Verbrechen gegen die Menschheit, um die Krankheit einzudämmen. Drei „Weise“ sollen ein Mädchen auf der Suche nach einem Heilmittel begleiten und geraten in ein politisches Spannungsfeld aus zahlreichen Interessengruppen.

Naaa? Das spielt doch noch ansatzweise in die Worst-Case-Szenarien, die wir zu beginn der Corona-Pandemie hatten. Seraphim… hat ein fantastisches Artwork. Die Charaktere sind (was nicht so oft im Manga anzutreffen ist) durchweg international. Es gibt zahlreiche Actionszenen und optisch verblüffende Momente wie die der Vogelschwärme, die Flugzeuge blockieren – oder begleiten. Allein die Symptome der „Engel-Krankheit“ sind ein Anblick, der faszinierend und schaurig gleichermaßen ist. Genretechnisch ist es schwer einordbar. Es ist zu realistisch für Fantasy und Science-Fiction, zu nachdenklich für Action, zu actionreich für Drama. Was für ein Jammer, dass es nie beendet wurde. Besonders schlimm ist, dass es keine Kompromisslösung wie bei Opus gibt. Der Manga stoppt einfach an einer Stelle, an der man der Beantwortung einiger Rätsel nah war.

Ich hatte mir von den beiden(!) Nachworten der englischen Printausgabe ein paar Hinweise erhofft, wo das ganze noch hingegangen wäre. Die bekam ich leider nicht. Das Nachwort des englischen Editors war zwar clever , witzig und gut recherchiert, aber auch extrem ausufernd. Musste ich die Geschichte Chinas so im Detail wissen, um dem Manga folgen zu können? Nein. Ob Oshii das Schweigen über die Zusammenarbeit und den Ausgang des Manga nochmal bricht? Ich glaube nicht dran, aber ich verbleibe in Bewunderung für beide.

„Opus“

Sein jüngstes Werk lässt sich zurückdatieren auf die Jahre 1995 bis 1996 und ist gleichzeitig das erste, das (meines Wissens) in Deutschland veröffentlicht wurde und daher der erste Manga Kons, den ich las. Im Blog gibt es bereits eine ausführliche Besprechung, weswegen ich mich hier nur kurz halte. Opus handelt von einem Mangazeichner, der in sein eigenes Werk gezogen wird. Dort begegnet er den Charakteren, die seinem Geist und seiner Feder entsprungen sind. Stand er eben noch vor der Entscheidung eine auftretende Person zu töten, ist er nun hin- und hergerissen. Genauso wie angesichts der Fähigkeiten, die er ihnen gegeben hat. Auch davon abgesehen spielt Satoshi Kon mit der Metaebene und sprengt Rahmen und Panel seiner Fiktion – im wahrsten Sinne des Wortes. Man wartet nur darauf, dass die Charaktere auch aus den Seiten des Buches treten, das wir mit Opus in Händen halten. Leider ist auch dieser Manga unvollendet geblieben, aber zumindest findet Satoshi Kon einen smarten Mittelweg am Ende von Band 2, um uns die Unvollständigkeit vergessen zu lassen.

Es ist schon eine gewisse bittere Ironie, dass einer der Manga Satoshi Kons zeigt wie ein Mangazeichner seinen Kreationen begegnet. Auch der Titel Opus und dass dieser unvollendet bleiben musste stehen sinnbildlich für den Struggle der Manga-Industrie. In der Sekundärliteratur und beispielsweise auch im Nachwort zu Tropic of the Sea findet sich eine Erklärung wie Satoshi Kon mit Deadlines und Arbeitsumständen kämpfte. Nicht selten schildert er wie er zwar einerseits mit (zu)viel Selbstbewusstsein an die Projekte ranging, während seine Zeitgenossen erzählen (u.a. in der ihm gewidmeten Doku), dass er immer aus allen das beste herausholen wollte und sehr fordern war.

Dieses Streben und die hohen Ansprüche spiegeln auch seine Manga und Anime wieder – sie sind einfach das Beste, was es auf dem Markt gibt und haben ihn zu einer Legende gemacht. In diese Tragik fügt sich sein früher Tod in Folge einer Krebserkrankung. Andererseits hat Kon auch davon abgesprochen teilweise körperlich unter den Deadlines gelitten zu haben. Ist es ein persönliches Schicksal? Oder ist es ein Zeichen, dass die Manga-Industrie zu hart ist?

Header image/photo credit: Janko Ferlič

Kon hinterlässt ein Erbe. Neben seinen beeindruckenden Werken, auch in Form denen anderer Filmschaffender (z.B. Darren Aronofsky), Mangaka und Illustrator:innen, die er beeinflusst hat. Trotzdem bleiben selbst seine unvollendeten Manga für mich wie Schätze. Kennt ihr ein paar der Manga oder anderer Werke Satoshi Kons? Hier geht es übrigens zu allen anderen Literarischen Fundstücken.

8 Antworten

  1. Ich muss gestehen, dass ich bisher noch nichts von Satoshi Kon kannte. Aber Tropic of the Sea klingt unglaublich gut. Danke für die Empfehlungen!

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Und! Es ist abgeschlossen ^^
      Gern.

  2. Avatar von voidpointer
    voidpointer

    Ich habe von ihm bisher nur Anime gesehen. Danke für die Empfehlungen!

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Gern 🙂

  3. […] art zu Agnès Varda oder die Erlebnisse aus dem Schreiben einer App. Nicht ganz ohne Feedback blieb Literarische-Fundstücke: Die Manga Satoshi Kons. Der Artikel war sehr lang in der Mache. Die anderen Manga habe ich früher gelesen, aber Seraphim: […]

  4. […] Booleana macht uns neugierig auf die Mangas von Satoshi Kon, die der Mangaka und Anime-Regisseur leider nicht alle zuende erzählen […]

  5. […] den man sich dann nach Feierabend weiter durch das Sitzen am Rechner kaputt macht. 🩹 In Die Manga Satoshi Kons ging es um eben gerade jene, da die meisten ihn doch eher als den Anime-Regisseur […]

  6. […] Seraphim: 266613336 Wings … Manga (unvollendet) […]

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