angelesen: „Boys Run the Riot“ Bd. 1, „The Most Distant Love“ Bd. 1 & „Wenn die Blüten Trauer tragen“ Bd. 1

Anlässlich Pride habe ich mir die Reviews für nachfolgende drei Mangas aufgehoben. Aber soviel ist natürlich auch klar: jeder Tag ist ein Tag für die LGBT+ Community, Allyship und ein respektvolles Miteinander. Wenn aber dann irgendwann um Frühjahr herum jeder mit den LGBT+ Listen um sich wirft, kommt man quasi nicht an „Boys Run the Riot“ vorbei. Inzwischen ist der Manga auch in Deutschland veröffentlicht worden und ich habe ihn Anfang des Jahres dann auch endlich angefangen zu lesen. Neben der Geschichte habe ich heute außerdem „Boys Love“ (BL) und „Girls Love“ (GL) Manga im Gepäck. Die Besprechungen sind spoilerfrei und konsequent erste Bände – da kann man noch nicht zu viel verraten.

„Boys Run the Riot“ Bd. 1, Keito Gaku, Carlsen

Für Ryo ist es unerträglich jeden morgen vor der Schule die Schuluniform zu tragen, die Ryo äußerlich als Mädchen „ausweist“. Eigentlich fühlt sich Ryo als Junge und versucht es zu umgehen, die Uniform zu tragen. Am Wochenende spielt das alles keine Rolle und Ryo kann Klamotten shoppen gehen und die tragen, die gefallen. Als Jin neu in die Klasse kommt, sind alle etwas von seiner gelebten und zur Schau gestellten Männlichkeit eingeschüchtert. Coole Klamotten, Bart, lässige Attitüde. Ryo wünscht sich auch jeden Tag so auftreten zu können. Als sich beide zufällig am Wochenende in Freizeitklamotten begegnen, stellt Jin fest, dass sie denselben Geschmack haben und Jin schlägt vor gemeinsam ein Label zu gründen.

Anfangs ist Ryo skeptisch. Niemand gründet in ihrem Alter ein Label. Das ist nur ein Umstand mehr, bei dem Ryo sich als jemand fühlt, der heraussticht. Es fällt die Redewendung „Ein Nagel, der heraussteht wird eingeschlagen“. Daher hat Ryo bisher auch mit niemandem darüber gesprochen, dass er trans ist und aus Angst vor Ausgrenzung wenig Freundschaften geknüpft. Kann das mit Jin anders sein? Boys Run the Riot widmet sich nicht nur Ryos Leben als Trans-Junge und der psychischen Belastung, sondern setzt oben drauf die Geschichte der Firmengründung von Ryo und Jins Label. Durchweg thematisiert der Manga damit Kleidung als Ausdrucksmittel des Selbst. Zuerst ist es Rock und Bluse der Schuluniform, die Ryo ablehnt, später die Freiheit zu tragen was man will – zu sein wer man will. Die Labelgründung hat die Chance ein Befreiungsschlag für Ryo zu sein. Natürlich stehen da jede Menge Dinge auf der Kippe – Coming-out als trans, die Freundschaft zu Jin, Reaktionen von Familie und Mitschülern. Einige der Etappen thematisiert der erste Band schon.

Was Keito Gaku sehr schön gelingt ist Streetstyle die Bühne zu geben und Ryos Gefühlswelt zu versinnbildlichen. Es sind eher die kleinen Momente, in denen die Illustration noch nicht ganz rund wirkt. Wenn Charaktere im Dreiviertelprofil beispielsweise mal so, mal so aussehen. Das Doppelleben der Schüler:innen wird auf dem Cover schon als dual dargestellt. Nach außen so wie die Gemeinschaft sie sieht oder gern hätte, aber auch halb als das, was sie sind. Generell ist Boys Run the Riot ein visuell solider Manga, der den wichtigen Thema der geschlechtlichen Identität eine empathische Stimme gibt. Die Labelgründung ist nicht nur eine aufgesetzte Nebenhandlung, sondern narrativer Kitt, der spannend ist und Tür und Tor für viele Eckpunkte der Handlung und Schicksale weiterer Jugendlicher öffnet, die einen Weg suchen sich auszudrücken und zu verwirklichen.

„The Most Distant Love“ Bd. 1, Mitsuaki Asou, Hayabusa/Carlsen

Die Welten von Ayumu und Toka könnten unterschiedlicher kaum sein, worauf der Titel des Manga schon anspielt. Ayumu ist Ende zwanzig, quasi gehörlos und arbeitet als Investor. Er schätzt seine Unabhängigkeit, aber fühlt sich auch durch seine hochgradige Schwerhörigkeit oft im Alltag außerhalb seiner Wohnung aufgeschmissen. Dass seine Lebensrealität und die der Menschen in seinem Umfeld so unterschiedlich sind, scheint ihn stets zu isolieren. Eher zufällig trifft er Toka, einen Violin-Studenten, der wegen seiner unkonventionellen Spielweise aneckt. Beide sind voneinander fasziniert. Ayumu davon wie er den Rhythmus von Tokas Spiel spüren und seine Leidenschaft sehen kann. Auch wenn ihm die eigentliche Musik zu hören verwehrt bleibt. Toka ist fasziniert davon wie unabhängig Ayumu ist und sein Leben in die Hand nimmt. Er entwickelt Gefühle für ihn, die Ayumu scheinbar nicht erwidern kann. Liegt es aber an ihren unterschiedlichen Welten oder fühlt Ayumu wirklich so?

Neben der schönen, einfühlsamen und stimmungsvollen Bilder in The Most Distant Love, ist es v.A. auch faszinierend und lehrreich zu sehen wie Ayumu durch das Leben geht. Welche Tools er hat, die ihn im Alltag unterstützen. Regelrecht erschüttert hat mich eine Situation Ayumus, die offenlegt wie wenig gut die alltägliche Infrastruktur auf seine Bedürfnisse angepasst ist. Ein anderer Aspekt ist Kommunikation. Ayumu und Toka können miteinander über Apps kommunizieren oder indem sie auf einen Block schreiben. Dabei werden viele kleine Details besprochen, die für Hörende vollkommen alltäglich erscheinen und auch Beziehungen formen. Toka bedauert beispielsweise, dass er nie Ayumus Stimme hört. Ayumu wiederum spricht nicht gern, da er nicht hören kann wie er selber klingt.

The Most Distant Love visualisiert und verbalisiert auf sehr ansprechende und empathische Weise das Aufeinanderprallen zweier Welten, einer geräuschlosen und einer, die um Musik zentriert ist. Wie Ayumu und Toka darin ihre Gefühle füreinander sortieren, greift überraschend gut ineinander. Aber eben auch auf eine Boys-Love-Manga-Weise, denn es wird nie wirklich adressiert oder gelabelt, ob sie hetero-, homo- oder bisexuell sind. Oder ob sie das nicht wissen und Labels irrelevant sind. Selbst ohne auch auf LGBT+ einzugehen, funktioniert das Will they won’t they schon sehr gut. Ich bin gespannt wie es weitergeht und freue mich über einen Manga, der eine gehörlose Person zentriert und Repräsentation schafft.

„Wenn die Blüten Trauer tragen“ Bd. 1, Tokuwotsumu, Hayabusa/Carlsen

Der Titel Wenn die Blüten Trauer tragen erinnert mich v.A. an einen Film, der in Venedig spielt und ist im Deutschen ähnlich frei übersetzt. Wenn ich den Originaltitel von gängigen Tools übersetzen lasse, kommt da eher sowas raus wie Der Frühling wird in diesem Raum durch Kirschblüten verkündet, was sicherlich sperrig, aber etwas hoffnungsvoller klingt. Tatsächlich hat Wenn die Blüten Trauer tragen nicht das leichteste Thema, aber ein sehr sensibel gehandhabtes. Wir lernen in dem Manga das Paar Haruki und Sakura kennen, die sich an der Uni trafen und verliebten. Zehn Jahre sind sie zusammen bis Sakura stirbt. Haruki kommt über den Verlust ihrer Geliebten nicht hinweg. Selbst nach 5 Jahren scheint das Leben für sie noch immer stehen geblieben zu sein. Wieso ist Sakura überhaupt gestorben? Haruki kann sich nicht erinnern und sucht Antworten in Sakuras Tagebuch. Leider hat sie das nicht mehr fortgeführt. Kaum, dass Haruki aber das Tagebuch aufschlägt, steht Sakura vor ihr. Dass sie ein Geist sein muss ist beiden klar – dennoch schlägt sie vor das Tagebuch um ein letztes gemeinsames Jahr zu erweitern.

Da will man am liebsten jetzt schon weinen, oder? Das kommt noch dicker. Durch das Tagebuch erleben wir rückblickend Etappen von Harukis und Sakuras Leben, genauso wie Harukis Spurensuche. Die führt sie manchmal zu einer Arbeitskollegin Sakuras, manchmal an Orte aus Sakuras Leben. Einerseits erfährt sie dadurch wie sehr Sakura sie geliebt hat, wie sehr sie von anderen geschätzt und gemocht wurde, aber auch Details, die ihr Sakura verschwiwgen hat. Mangaka Tokuwotsumu hat ein gutes Händchen für Stimmungen, wodurch Wenn die Blüten Trauer tragen nie zu schwermütig wird, sondern eher schwelgerisch, nostalgisch und romantisch. Als Sakura als Geist auftritt gar hoffnungsvoll, weil Harukis Einsamkeit sofort dahin ist. Es ist anzunehmen, dass all das ein Ausdruck von Harukis Trauerverarbeitung ist.

Als Girls Love Manga ist Wenn die Blüten Trauer tragen sehr einfühlsam und verzichtet auf Liebesszenen, die über einen Kuss hinausgehen. Es gibt keine größere Auseinandersetzung mit Outing und Akzeptanz, was Sinn macht, denn das Thema Trauer ist „Thema genug“. Tokuwotsumu Zeichenstil konzentriert sich sehr auf einige der Schlüsselmotive wie Kirschblüte (Sakuras Name bedeutet Kirschblüte) und wirkt daher zumindest hier noch sehr romantisch und blumig. Obwohl Hintergründe und Umgebungen visuell etwas zu kurz kommen und Profilansichten der Charaktere nicht zu den Stärken Tokuwotsumus gehört, ist der Manga sehr stimmungsvoll. Was sehr gut gelingt ist die Zeit, die beide zusammen verbracht haben zu versinnbildlichen. Zum Einen am Wechsel ihrer Lebenssituationen (erster Job und Unsicherheiten, gemeinsame Wohnung, etc.) und anhand ihrer wechselnden Frisuren. Weniger gut abfinden konnte ich mich mit dem Umstand, dass Haruki die Todesursache Sakuras nicht mehr weiß. Einerseits ist klar, dass sich daraus ein maßgeblich großer Plotpunkt entwickelt, andererseits hätte Haruki genug Gelegenheiten andere zu fragen wie Sakura umkam. Erscheint die Frage zu ungewöhnlich, würde ich doch zumindest erwarten, dass Haruki es selber deutlich merkwürdiger findet.

In Summe sind alle drei Manga gut, aber ich bin mir bei allen unschlüssig, ob ich sie weiterlesen will bzw. kann. „Boys Run the Riot“ hat mich visuell nicht ganz abgeholt, obwohl ich die Story und die vermittelten Gedanken klasse finde. Am ehesten würde ich es aus Allyship weiterlesen und ich bin mir nicht sicher, ob das nicht missgerichteter Eifer ist. Ähnlich empfinde ich über „Wenn die Blüten Trauer tragen“, wo mich das wenige Hinterfragen Harukis stört. Auch wenn ich gern wüsste, was nun das Geheimnis um Sakuras Tod ist und ob Haruki ihren Frieden machen kann. Sogar sehr gern würde ich „The Most Distant Love“ weiterlesen, bisher habe ich aber keine Ankündigung für den zweiten Band gesehen. Warten und hoffen. Welche der oben genannten Manga kennt ihr und wie haben sie euch gefallen? Habt ihr zum Thema Transsexualität im Manga noch mehr Lesetipps? Auch unter den Girls Love Manga habe ich bisher wenige Tipps gesammelt.

In „angelesen“ sammle ich die Eindrücke von Buchreihen, die ich lese. D.h. insbesondere von Manga und Comics, die ich noch nicht abgeschlossen habe und deswegen nur als Teil eines Ganzen betrachten kann. Wer andere Literatur sucht und die Meinung zu abgeschlossenen Reihen, findet die in ausgelesen, einer weiteren Rubrik hier im Blog. 🙂

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