ausgelesen: Claire Kohda „Woman, Eating“ (engl.)

Lydia ist hungrig. So fasst es der Klappentext zusammen und das ist auch die kürzeste und beste Beschreibung für Claire Kohdas ersten Roman. Lydia ist eine Vampirin und das erste Mal auf sich allein gestellt. Nachdem ihre Mutter anfing an Alzheimer-ähnlichen Symptomen zu leiden, überließ sie sie einem Pflegeheim, löste den Haushalt auf und zog weg. Es ist als ob ihre Mutter, ebenfalls Vampirin, plötzlich ein Mensch geworden wäre. Zahnlos, krank, verwirrt. Ist es das Happy-End für ihre Mutter, die nie eine Vampirin sein wollte? Sie war aber auch die Versorgerin. Nun sucht Lydia nach kreativen Wegen, um an Blut zu kommen ohne im Dunkeln Menschen zu überfallen. Was sich als schwieriger gestaltet als man denken könnte. Zudem hat sie gerade erst ihr Kunststudium abgeschlossen und beginnt ein Praktikum in einer Galerie, in der sie wie Dreck behandelt wird. Das Zusammenreißen und funktionieren zehrt an ihrer eh schon ausgelaugten Physis. Woman, Eating ist eine Erzählung über viele verschiedene Formen von Hunger.

Wenn man jemandem erzählt, dass diese Vampirin gern Buffy schaut, dann könnte man hier einen Comedy-Roman vermuten – was nicht so ist. Die Atmosphäre von Woman, Eating ist eher melancholisch. Wir wandern mit Lydia zusammen durch die Stadt, in der es sehr schwer ist ein gutes Mädchen zu bleiben, wenn man hungrig ist und Vampirin. Gleichzeitig ist überall die Versuchung. Jemand behandelt sie schlecht? Es wäre ein leichtes sich dieser Person zu erledigen und den Hunger zu stillen. Vor Allem, wenn man im Dunkeln sehen kann und auf Meter Entfernung Pulsschläge wahrnimmt wie Lydia. In Rückblicken erleben wir wie sie die Erfahrung anders zu leben als andere geprägt hat, wie sie zur Vampirin gemacht wurde, was sie über ihre Eltern weiß und was nicht. Kohda nimmt sich Mythen um Vampirismus vor und gestaltet sie um. Lydia kann keine Gedanken lesen, aber sie kann viel aus Blut herausschmecken. Sonne schadet ihr nicht, aber es ist auch nicht angenehm. Sie schläft nicht in einem Sarg. Sie schläft eigentlich gar nicht.

„I’m more comfortable in the dark. It’s not even that the lights in here would burn me; it’s that sometimes too much is overwhelming, especially after a day filled with things I’m not used to doing much of – packing, moving, travelling. It’s too much input, almost painful for the brain, not necessarly the skin.“

p.10

Dabei ist Lydia im Umgang mit anderen manchmal sehr unsicher wie sie sich verhalten soll, obwohl smart und wortgewandt. Ob es ihr Charakter oder ihre Lebensweise ist, die sie introvertiert macht, kann man schwer auseinander halten. Aber in der Weise wie sie sich manchmal lieber zurückzieht und eine Folge Buffy schaut, wenn die Welt mal wieder viel ist, ist sie sehr „relatable“.

Und sie ist besessen von Essen. Zum Einen leidet sie das erste Mal in ihrem Leben Hunger. Zum Anderen sind Essgewohnheiten das, was sie sozial von anderen trennt. Was sie verheimlichen muss und weswegen sie nicht am netten Beisammensein am Esstisch teilnehmen kann. Keine gemeinsame Mittagspause, keine Einladung zum Essen annehmen. Sie schaut zum Zeitvertreib Videos auf Youtube, Vlogs mit dem Titel „What I eat in a day“ und fragt sich wie all die Dinge wohl schmecken. Auf p. 67 heißt es „I suppose food is a part of life that most humans can control.“ Ein Level an Kontrolle, dass ihr fehlt, da sie auf so vieles verzichten muss. Und das ist nachvollziehbar. Lydias sehr physischer Hunger hat aber auch noch eine zweite Seite. Den Hunger nach Anerkennung und gesehen zu werden. Sich zu verwirklichen und ernst genommen zu werden. Die Begierde nach einem Platz in der Welt.

Dass der nicht einfach zu finden ist, macht Woman, Eating für die Generation junge Erwachsene nochmals nachbarer. Der erste Job, wie soll man all die Seitenkommentare deuten? Und war das gerade sexuelle Belästigung? Soll sie sich wehren? Was, wenn sie den Job verliert? Was bedeutet es eine Frau zu sein und gleichzeitig in Opferrollen gedrängt zu werden, wenn man auch Jägerin ist? Sie erinnert sich wie sie ihre Mutter fragte, ob ihre speziellen Sinneswahrnehmungen Teil ihrer Vampir-Seite sind. So würde sie beispielsweise wahrnehmen, wenn sie jemand verfolgt. Woraufhin ihre Mutter entgegnet, dass das eher ihrer menschlichen Seite, speziell ihr als Frau, zuzuschreiben ist. Es wäre ein Sinn, den Männern nicht haben, weil sie ihn nicht brauchen. (p.27) Es sagt manchmal weniger über Vampirinnen aus, als über Frauen. Und darüber, was Männern nicht bewusst ist, die Verhalten von Frauen als Überreaktion abtun.

Aber es gibt auch die angenehme Note von Lydias Sehnen und den seichten Comic Relief, wenn sie mit anderen zusammenkommt. Es ist zudem sehr angenehm was für eine große Rolle Kunst in dem Buch spielt. Kohda erwähnt viele Gemälde, beispielsweise von William Blake oder Amrita Sher-Gil. Auch geht es um den Kunstbetrieb. Lydia begegnet anderen Künstler:innen. Welchen, die damit hadern oder die gerade beginnen kommerziell erfolgreich sind. Was all diese Leute an Kunst machen, klingt faszinierend und fühlt sich an wie über die Biennale zu schlendern, sich zu fragen, was wohl als nächstes ausgestellt wird, das komplett anders ist als das, was man eben gesehen hat.

„I think art comes to mean something different to people when it becomes something they can posses.“ (Lydia)

p.173

Claire Kohda hat einen wunderbaren Spagat geschafft. Den nicht kitschigen oder romantisch verklärten Vampirroman. Einen der von Zugehörigkeitsgefühl handelt und zeigt, dass es bei weitem nicht so einfach ist als dieses fiktionale, brutale Etwas zu leben, wenn man versuchen muss in diese Welt zu passen. Obwohl sie damit ein sehr ansprechendes und spannendes Konzept liefert, macht nicht alles um Lydias Vampirdasein Sinn. Ich fand zwischenzeitlich Gefallen an dem Gedanken, dass Lydia sich eventuell nur einredet ein Vampir zu sein. Dass es eine Psychose ist, die sie von ihrer Mutter eingeimpft bekam. Es gibt aber genug Beweise dagegen.

Woman, Eating macht hungrig. Und ähnlich überwältigt wie Lydia, wenn sie es endlich schafft etwas zu sich zu nehmen und in einem Hochgefühl aufgeht. Claire Kohda schafft es auf großartige und einfühlsame Weise Lydias Innenwelt abzubilden. Das aber eben auch sehr introspektiv. Eigentlich passiert wenig, was wohl auch Kritikpunkt sein kann. Lydia geht zur Arbeit, ist hungrig, geht nach Hause, hat ein Gespräch mit dem netten Nachbarn, der leider eine Freundin hat, schaut Buffy und dazwischen versucht sie ihren Hunger zu vergessen. Sie träumt davon ein Mensch zu sein und leben zu können wie andere, sie stellt sich vor wie Dinge schmecken, wie sie lieber reagiert hätte, wie sie deuten soll, was um sie herum passiert. Darin liegt die Unsicherheit und die Wachstumsschmerzen des Erwachsenwerdens, die mit Sicherheit jeder von uns in einem bestimmten Maße fühlt, gefühlt hat oder noch an den Punkt kommen wird.

„I couldn’t tell whether I was beginning to like him and wanted to be with him, or whether I was hungry and wanted to eat him.“

p.94

Fazit

Schönes, melancholisches Buch über das Erwachsenwerden – nicht notwendigerweise als Vampir:in

Besprochene Ausgabe: ISBN 978-0-349-01561-3, Virago Verlag

Dieser Beitrag ist Teil des Booleantskalenders 2023 mit vielen weiteren Besprechungen und buchigen Themen. „ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂

Eine Antwort

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