Am 2. Juni endete die Nippon Connection, das japanische Filmfestival in Frankfurt am Main, mit einem Rekord von ca. 19.000 Filmfans. Wahnsinn! Ich bin drin in dieser Zahl. Für einige Tage war ich in Frankfurt am Main, besuchte das Festival, sah insgesamt 9 Filme und der erste war „Yoko“. Die Besprechung ist spoilerfrei.
Yoko (Rinko Kikuchi) hat ihre Wohnung schon eine Weile nicht verlassen und arbeitet freudlos von zuhause aus im technischen Kundendienst. Eines Tages erreicht sie aber die Nachricht, dass ihr Vater gestorben ist und wirft sie komplett aus der Bahn. Ihr Cousin (Pistol Takehara) bietet ihr an sie mit seiner Familie und dem Auto in die Heimat zur Beerdigung mitzunehmen. Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände wird Yoko aber ohne funktionierendes Smartphone und kaum Bargeld an einer Raststätte zurückgelassen. Ihr bleibt keine andere Wahl als per Anhalter die lange Reise anzutreten. Die Herausforderung ist für Yoko aber besonders groß angesichts des inneren Tumults, den der Tod ihres Vaters in ihr auslöst und des Umstands, dass Yoko wahrscheinlich eine Hikikomori ist.
Als Hikikomori werden in Japan Menschen bezeichnet, die sich stark isolieren, d.h. den Kontakt mit anderen Menschen auf ein Minimum reduzieren und mitunter ihre Wohnung nicht mehr verlassen. Im Falle von Yoko wird im Laufe des Films erklärt wie es zu ihrer Isolation kommt. Die scheint wie sicherlich im Falle vieler Hikikomori von außen betrachtet selbst gewählt zu sein, was aber nicht heißt, dass es dafür keine Ursachen gibt. Im Falle Yokos spielt die Beziehung zu ihrem Vater dabei eine große Rolle, die sie während der Reise aufarbeitet. Dadurch wird die Tour im wahrsten des Wortes eine Herausforderung und Reise Yokos zu sich selbst. Als sie aber ihre Wohnung verlässt, ist sie so in ihrer eigenen Isolation und den Begleiterscheinungen gefangen, dass sie es kaum schafft mit anderen zu sprechen. Schwierig, wenn man per Anhalter fahren will.
Regisseur Kazuyoshi Kumakiri hat u.a. mit Manhole und dem umstrittenen My Man v.A. Filme im Bereich Thriller und Mystery gedreht. Eine gewisse Liebe zu extremen Situationen, Beziehungsgeflechten und emotionalen Berg- und Talfahrten erkennt man allerdings ebenso – so auch in Yoko. Er schickt Rinko Kikuchi (in einer ihrer wenigen Hauptrollen in einem japanischen Film) als Yoko durch eine wahre tour de force. Sie wird während der Reise zwangsläufig Begegnungen mit Menschen machen. Einige davon werden bereichernd, schmelzen ihre an Menschen kaum noch gewöhnte Fassade und geben ihr vielleicht sogar ein wenig die Möglichkeit mit der Beziehung zu ihrem Vater abzuschließen. Closure zu finden. Andere Erlebnisse werden schräg, unangenehm, frustrierend.
Ganz überraschend beginnt der Film mit viel lakonischem Witz, der trotz der ernsten Ausgangssituation eine abwechslungsreiche, nie zu schwere Atmosphäre schafft. Mittig im Film aber kommt es zu einer furchtbaren Situation, bei der auf der Hand zu liegen scheint: davon erholt sich die Stimmung nicht mehr. Dankbarerweise findet der Film aber zu seinem Charakter irgendwo zwischen Drama und Tragikomödie zurück. Obwohl es auch befremdet, das Yoko nach all dem was sie erlebt hat, weitermachen kann. Aber ihre Verzweiflung steigert sich – die Zeit läuft, die Zeremonie ist schon bald und damit auch ihre letzte Gelegenheit sich von ihrem Vater zu verabschieden. Rinko Kikuchi spielt die gesamte Klaviatur der Emotionen und macht insbesondere hier die Entwicklung Yokos und ihre pure Verzweiflung greifbar. Der lange Weg, all das erlebte, all die Begegnungen, das kann doch nicht umsonst gewesen sein?
So sitzt man im Saal und fühlt alles mit. Zwischendurch zeugt der Film von der oft zitierten Freundlichkeit von Fremden und der Dankbarkeit – dass Fremde ihr so viel und so weit geholfen haben. Der Originaltitel ist auch „658km、阳子的旅途“, das kann gelesen werden als „658km, Yoko no Tabi“ – 658 km, Yokos Reise. Ein langer, ereignisreicher und hart erkaufter Weg.
Yoko (OT: 陽子の旅), Japan, 2023, Kazuyoshi Kumakiri, 113 min, (9/10)
Ich bin mal gespannt, ob der Film im deutschen Verleih dann wirklich „Yoko“ heißt. Ich hatte mal aufgeschnappt, dass Titel nicht doppelt vergeben werden und Yoko scheint belegt zu sein … . Das erste Mal war mir der Film übrigens auf den Listen der Top-Filme 2023 eines Magazins für asiatische Filme begegnet. Daher war es schnell beschlossene Sache, dass ich den schauen würde. Offen gestanden reiste ich dafür sogar früher an als geplant. Und ich habe es nicht bereut. Hattet ihr auch schon Gelegenheit den Film zu schauen?
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