Inhalt
Tsukuru Tazaki ist ein einfacher Mann. Er hat keine Hobbys, keine größeren Ausschweifungen, keine Freunde, keine Interessen. Bis auf Bahnhöfe. Die sind auch sein Job. Aber es war nicht immer so: er hatte 4 gute Freunde mit grundverschiedenen Charakteren. Sie waren die schillernden Farben in seinem Leben. Zumindest bis sie ihm eines Tag plötzlich die Freundschaft kündigten. Sie werfen ihm vor etwas getan zu haben, weswegen sie ihn nicht mehr sehen wollen und auf keine seiner Anrufe reagieren werden. Er fühlt sich, als ob man ihm sein Leben entrissen hätte. Jahre später begibt er sich auf eine „Pilgerreise“ um den Umständen auf den Grund zu gehen, warum er verstoßen wurde.
Hintergrund
Haruki Murakami ist auf dem besten Weg einer meiner Lieblingsautoren zu werden. Ursache dafür ist v.A. sein bildgewaltiger Schreibstil. Er haucht selbst den einfachsten Beschreibungen Leben ein. Ganze Absätze füllt er mit Dingen, die eigentlich trivial erscheinen. Womit sich eine Figur in der Geschichte die Zeit vertreibt: Wäsche waschen, schwimmen gehen, einkaufen, Wäsche bügeln. Aber er nutzt diese Trivialitäten und malt ein ganz klares Bild der Charaktere. Man kann sie schnell einschätzen, hat bald das Gefühl sie zu kennen. Trotzdem glaube ich, dass es einen bestimmten „Murakami-Leser-Typ“ gibt. Mal ehrlich: er kann noch so einen gehobenen und bildreichen Schreibstil haben, viele würde es mit Sicherheit langweilen. Was mich außerdem noch begeistert ist wie er den Surrealismus anpackt. Im Leben seiner Charaktere passiert schnell mal etwas unerklärliches. Die Realität wirkt aber nicht verzerrt oder fiktional, so wie man es empfindet, wenn man die eine oder andere Dystopie oder einen Sci-Fi-Roman liest. Man ist immer noch in ein- und derselben Welt mit diesen Menschen, die eben auch mal ihre Wäsche bügeln müssen. Und dann passiert etwas, das in diese Welt nicht zu passen scheint. Wir sind mittendrin. Das ist schon ein schlauer Surrealismus.
Soviel zu ‚meinem Hintergrund‘ mit Haruki Murakami. Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki sind keine dieser surrealistischen Erzählungen. Aber man erkennt deutlich andere scheinbar Murakami-typische Stilmittel. Zumindest rede ich mir das ein: ist nämlich erst mein 3. Buch von ihm. 😉 Da wäre beispielsweise seine Verwendung von bedeutungsvollen Namen. Es wird oft im Buch erwähnt, dass Tsukuru Tazaki einen klingenden Namen hat. Tsukuru (作る bzw. つくる) bedeutet „machen“, im Sinne von etwas herstellen – er baut Bahnhöfe, wie passend. Seine Freunde aus der Schulzeit heißen Kei Akamatsu (Aka 赤 = Rot), Yoshio Oumi ((Shio)Umi 潮海 = Meer –> „Blau“), Yuzuki Shirane (Shiro 白 = Weiß) und Eri Kurono (Kuro 黒 = Schwarz). Sehr sprechende Namen, denn das japanische Wort für Weiß bedeutet umgangssprachlich auch Unschuld, Schwarz auch Schuld und Verdacht. Und als ob das noch nicht genug wäre, haben auch alle Charaktere Eigenschaften, die durchaus zu diesen Farben passen. Tazaki selber sagt von sich selbst, dass er farblos wäre. Er hat nicht solche Eigenschaften wie seine Freunde und sagt sogar von sich selber, dass er keine Persönlichkeit habe. Klingt nicht spannend? Wie spannend das Buch war, verrate ich im nächsten Absatz. Jetzt wissen wir aber schon Mal, dass Japanischlernende ihre Freude an dem Buch haben 😉 Ein Hinweis noch: im Japanischen spricht man das z wie ein weiches s – wie bspw. in Sense. Sein Name wird also „Tasaki“ gesprochen.
Meinung
Ich habe noch nicht viele Murakamis gelesen, aber zu seinen Stärken gehört es fantastische Geschichten über normale Leute zu erzählen. Oder normale Geschichten über fantastische Leute. Mittels distinguierter Charakterzeichnung macht er aus jedem einen Typen, den man glaubt Jahre zu kennen. Das gelingt auch beim „farblosen Herrn Tazaki“. Ich habe schon sehr mitgefiebert und wollte unbedingt wissen, was seine Freunde sich dachten, als sie ihn verstoßen haben. Dass ich das Buch spannend fand, habe ich zum Teil auch meiner Neugier zu verdanken. Trotz aller Murakami-Vorschusslorbeeren. Ansonsten habe ich erhebliche Zweifel daran, dass das Buch etwas für jeden ist. Die eigentlichen „Pilgerjahre“ sind vielleicht eine Metapher dafür, dass er sich mit sich selbst auseinandersetzt. Aber sein tatsächliches Pilgern findet statt, als er seine damaligen Freunde aufsucht und zur Rede stellt. Und das beginnt tatsächlich erst etwa zur Hälfte des Buches. Ich könnte mir vorstellen, dass dieser Umstand dem einen oder anderen Leser viel abverlangt oder manche das Buch sogar weglegen. Bei mir war es nicht so – ich war sehr gespannt auf das Aufeinandertreffen zwischen Tazaki und seinen Freunden. Und ich finde auch nicht, dass dieser Mensch besonders farblos ist – er hat eine Meinung, eine Haltung, er ist vielleicht ein Normalo, aber nicht farblos.
Ansonsten finden sich im Buch v.A. viele Reflektionen über die Beziehungen, die Tazaki in seinem Leben hatte. Insbesondere seine Freundschaften haben mich irgendwie etwas betroffen gemacht. Auch ich fand mich in der Situation wieder, dass ich beschlossen habe Freunde hinter mir zu lassen. Weil wir uns nicht gut getan haben. Oder ich sehe mich um und frage mich warum manche Menschen so sang- und klanglos aus meinem Leben verschwunden sind. Genauso wie mich das privat beschäftigt hat, haben mich Tazakis Geschichten beschäftigt. Es ist nicht so ungewöhnlich oder abwegig wie man denkt. Man glaubt jemanden zu kennen. Aber oft kommt man an einen Punkt, an dem man nur zurückblickt und sich fragt: habe ich jemals gewusst was im Kopf der anderen vorging? Habe ich sie jemals richtig eingeschätzt? Was ist aus all der Zeit geworden, die wir zusammen verbracht haben? Das sind Situationen in denen man sich auch wie in einer anderen Realität fühlt. Unsicher. Surreal. Hat mir das Buch nun gefallen? Ich finde das Geschehen zu unkritisch. Nicht drastisch genug. Manches zu versöhnliches. Und viele Fragen zu offen. Aber irgendwie ist es so realer. Von daher würde ich sagen: ja, mir hat das Buch gefallen.
Fazit:
Für Fans von Murakamis Schreibstil, die das surreale nicht brauchen und stille, unaufgeregte Erzählungen voller Reflektionen über Beziehungen mögen.
„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂
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