Wir lesen … „Stories of Your Life“ #StoriesOfChiang – Zweites Zwischenfazit

Zu Erinnerung: Voidpointer, Kathrin, jetzt auch die BingeReaderin und ich lesen gemeinsam Ted Chiangs „Stories of Your Life and others“. Da ich die letzten zwei Wochen krank war und flachgelegen habe, kam ich oft zum Lesen. Sogar unverhältnismäßig oft im Vergleich zu sonst. Während ich das eigentlich sehr schön finde, ist das für ein gemeinsames Lesen unter Umständen ein bisschen hinderlich. 😥 Wie im letzten Zwischenfazit schon angekündigt, habe ich mich extrem auf die Kurzgeschichte „Story of Your Life“ gefreut, die als Vorlage für den Film Arrival diente. Die und die Geschichte „Seventy-Two Letters“ sind zwei der längeren Kurzgeschichten des Bandes und jetzt, da ich sie gelesen habe, rufen sie regelrecht nach einem Zwischenfazit. Wie immer könnt ihr auch unter dem Hashtag #StorieOfChiang auf Twitter unsere Gedanken mitlesen. Wir halten es weitestgehend spoilerfrei. 😉

Die Leserunde hat Zuwachs bekommen!

Ich habe schon so ein bisschen geahnt, dass die BingeReaderin vielleicht noch zu uns stößt. Zuerst hat Sabine heimlich mitgelesen 😉 und dann doch noch mitgemacht! Auch hier nochmal: herzlich willkommen in unserer Leserunde, ich freue mich, dass du dabei bist. Außerdem ist es jetzt glaube ich das erste Mal, dass vier zu Viert sind – also quasi Rekord

„Story of Your Life“

Da ist sie nun, die Geschichte auf die ich mich schon im letzten Artikel irre gefreut habe. Und sie hat meine Erwartungen erfüllt, wenn nicht sogar übertroffen. Ted Chiang schafft es ohne viel Aufhebens und ohne viel Vorgeplänkel eine komplexe Geschichte zu erzählen. Ich habe mich gefragt wie er soviel Story (die ich aus dem Film kenne) wohl in knapp 50 Seiten presst? Er kann’s! Er erzählt die Geschichte der Sprachwissenschaftlerin Louise Banks, die beauftragt wird einen Weg zur Kommunikation mit außerirdischen Lebensformen zu finden. Die verstehen offensichtlich keine menschliche Sprache und die Menschen finden keinen Weg die Laute der Aliens zu entschlüsseln. Und wie erwartet – was anfangs wie die Geschichte einer Wissenschaftlerin und des ersten Kontakts mit außerirdischer Intelligenz klingt, entpuppt sich stetig und langsam zu dem, was wir durch den Film und quasi auch durch den Titel der Geschichte gelernt haben: es ist in Wirklichkeit nur die Geschichte einer einzigen Person und die Geschichte über das Unvermeidliche. Die Zukunft.

Es ist verblüffend mit was für einer Wärme Ted Chiang über Familie und die Beziehungen der Menschen schreibt in einer Geschichte, die eigentlich so voller Ideen und Wissenschaft steckt. Man könnte fast sagen, dass er effizient schreibt. Soviel Story, so wenige Seiten. Er verzichtet fast komplett darauf die Welt um Louise zu schildern oder wie sie aussieht, wie irgendjemand aussieht. Aber das muss er auch nicht, das erledigt unser Kopf. Aber effizient klingt kalt, das ist es aber nicht.

Die Unterschiede zum Film sind definitiv da. Viele Kleinigkeiten machen auch eine Masse. Beispielsweise verzichtet Chiang komplett darauf die Reaktion der Menschen auf die Heptapoden zu schildern. Im Film bricht Panik aus, die unterschiedlichen Staaten fangen an mit den Säbeln zu rasseln – sowohl untereinander als auch mit den Aliens. Andere sind happy und schreiben WELCOME auf ihre Hausdächer. Allerdings ist das Setup im Buch auch anders. Die Aliens bleiben artig im Orbit und kommunizieren nur mit der Erde. Dadurch entfällt die ganze Zur-Schau-Stellung der schlechteren Eigenschaften der Menschen und der große Konflikt gegen Ende. Ob ich das schlimm finde? Nein. Film ist sehr gut. Buch ist sehr gut. Man erkennt das eine in dem anderen. Es ist wie zwei unterschiedlich gekochte Varianten eines Rezepts, die beide gut schmecken. Es gibt auch kleinere Unterschiede wie beispielsweise die gesprochene Sprache der Heptapoden und die geschriebene, die im Buch als Heptapod A und Heptapod B bezeichnet werden. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass das im Film so unterschieden wurde. Um nur eins von wenigen Beispielen zu nennen. Aber: ich finde die Liebesgeschichte kommt im Buch viel einfühlsamer rüber und fügt sich sehr natürlich.

„Seventy-Two Letters“

An der nächsten Geschichte des Bandes habe ich erstaunlicherweise sehr viel länger gelesen als an allen anderen. Dabei hat sie auch wieder nur rund 50 Seiten. Ich denke es lag hauptsächlich daran, dass er relativ viele wissenschaftliche Formulierungen enthält – seien es auch Begriffe aus der ganz eigenen Welt der Geschichte. Denn die Welt hier ist eine, in der Alchemie betrieben wird. Eins der Produkte sind Golems, die hier Automata genannt werden. Wie in der Legende vom Prager Golem und Golems generell genügt es einen auf Papier geschriebenen Namen in den Lehm zu stecken und der Golem erwacht scheinbar zum Leben. Je nachdem wie man den Namen formt ist der Automat(a) in der Lage bestimmte Aufgaben zu verrichten. Die Wissenschaft besteht also u.a. darin zum Einen den Golem zu bauen, zum anderen den richtigen Namen zu bilden – die sogenannte Wissenschaft der Nomenklatur. Der Titel der Geschichte bezieht sich dabei auf die Kombinationen, die als Name festgelegt werden können.

Unser Titelheld Robert versucht Automaten (ich weiß nicht wie sie Automata ins Deutsche übersetzen) zu bauen, die schwierige Tätigkeiten verrichten können und gibt ihnen den Menschen ähnliche Hände. Damit zieht er den Hass von Kollegen auf sich, weil sie befürchten, dass er damit u.a. ihren eigenen Beruf obsolet macht, denn Automaten könnten sich dann ja gegenseitig bauen. Und das ist nur einer von einer Vielzahl von fantastischen Gedanken, die Chiang auf wenig Platz in eine anspruchsvolle viktorianisch angehauchte Welt mit einem kleinen Funken Magie gepackt hat. Und trotz des krassen world buildings voller solch interessanter Ideen wirkt die Geschichte nicht gehetzt, aber aufgrund des etwas offenen Endes wirkt sie auch eher wie der Anfang einer Saga. Ehrlich … es ist wie Harry Potter für Erwachsene gemischt mit ein bisschen Children of Men. Wieso letzteres? Weil die Geschichte um Robert und die Automaten noch eine sehr biologische Wende nimmt. Mehr sage ich nicht. Außer: ich finde die Geschichte genial!

Dieser Ted Chiang …

Nachdem nun zwei Drittel des Buches gelesen sind, ist doch sehr auffällig wie sehr sich Ted Chiang auf das Wesentliche konzentriert. Den Grundgedanken seiner Geschichten. Und alles was überflüssig erscheint lässt er wenig. Manchmal sogar den Namen der Charaktere, das Aussehen meistens. Die Umgebung fast nie. Trotzdem gelingt es ihm sehr komplexe kleine Welten zu bauen. Die Handlung baut sich meisens um mindestens einen interessanten wissenschaftlichen Gedanken auf. Und damit fährt er ganz gut – ich finde die Geschichten hier komplexer als vieles andere was ich gelesen habe, das auf 600, 800 oder mehr als 1000 Seiten erzählt wurde. Smart.

Zu den bisherigen Artikeln der Leserunde

20.08. Ankündigung von Kathrin
21.08. Ankündigung Miss Booleana
28.08. Erstes Zwischenfazit Miss Booleana
03.09. Erstes Zwischenfazit Kathrin

Normalerweise mache ich kein drittes Fazit, sondern schließe mit einer Gesamt-Buchbesprechung nach dem letzten Drittel bei solchen Leserunden. Diesmal lasse ich wahrscheinlich meinen Redebedarf entscheiden. Die letzten Kurzgeschichten haben schon viel davon erzeugt, ich nehme an, dass es mir mit den kommenden wieder so gehen wird. Wie siehts mit euch aus? Kennt ihr die hier besprochenen Kurzgeschichten? Und wie haben sie euch gefallen? Gibt es noch mehr, dass euch an Ted Chiangs Schreibstil aufgefallen ist außer dass er Aussehen und Umgebung so großzügig ausspart?

11 Antworten

  1. Oh, das klingt wirklich famos. Nun habe ich noch mehr Lust darauf seine Kurzgeschichten zu lesen.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Kennst du das Gefühl, wenn du eine ganz ganz feste Ahnung hast, dass das was du gelesen/gesehen hast jemandem den du kennst bestimmt extrem gut gefallen würde? Und du unbedingt möchtest, dass sie mal reinschauen, damit ihr darüber schnacken und philosophieren könnt? 😉 In dem Sinne … ich habe das Gefühl, dass dir das extrem gut gefallen würde.

  2. Melde mich später in Ruhe noch mal, schnelle Grüße aus Berlin und ganz ganz lieben Dank für diesen großartigen Zwischenbericht….

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Ebenso schnelle Grüße aus Magdeburg! Es ehrt dich sehr, dass du trotz Stress/keine Zeit so fix vorbeischaust 😉 Ist er großartig?? Das freut mich sehr, danke!

  3. Danke für das Review, ich bin gespannt auf die nächsten Geschichten.
    Nach den Geschichten die ich bis jetzt gelesen habe, empfand ich es als passend, dass Ted Chiang Informatik studiert hat. Auch kommen mir die Geschichten relativ fixiert vor. Das introspektive Gerüst der Geschichten scheint mir deutlich sichtbar zu sein und wirkt auf mich durchdacht konstruiert. Beim Titel des Buches scheint mir auch jedes Wort treffend gewählt, besonders wohl das and. Ich bedaure, dass ich zur Zeit so wenig zum Lesen komme.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Oh ja – so logisch wie sich alles fügt, könnte man meinen, dass er den Storytelling-Algorithmus entdeckt hat mit einem flag für überraschende Konzepte, Ideen und Wendungen. Muss man erstmal machen. Was mich aber am meisten verwundert ist in wievielen wissenschaftlichen Gebieten er firm zu sein scheint oder zumindest viele interessante Themen aufgreift und so „natürlich“ darüber schreibt. Große Klasse – es gefällt mir extrem gut.
      Mach dir nix draus – so ist das … man nimmt sich was vor und kommt zu nix, weil der Rest der Welt auch beschlossen hat, dass man jetzt was vor hat.

  4. Ich habe deinen Beitrag bislang ohne die Gedanken zu „72 Letters“ gelesen, aber kann mich dir anschließen: Sowohl Film als auch Buch sind grandios – in den zentralen Punkten stimmen sie überein und jede Version hat ihre eigene Interpretation, setzt ihre eigenen Schwerpunkte und hat dadurch ihre eigenen Stärken. Beide sind einzeln für mich ideal, in Kombination miteinander perfekt. Ich bin allerdings froh, erst den Film gesehen zu haben, da er mir beim Vorstellen der Schrift und der Heptapoden doch sehr geholfen hat. 😉

  5. […] lassen. Unter den Büchern ist es der teure Wein. Aber der, der trotzdem schmeckt. Nach meinem letzten Fazit bleiben mir drei Kurzgeschichten, die unterschiedlicher nicht sein könnten und die ich hier in der […]

  6. […] zu Ted Chiangs Stories Of Your Life And Others und Teil der gemeinsamen Leseaktion mit Miss Booleana, Kathrin […]

  7. […] Miss Booleana 28.08. Erstes Zwischenfazit Miss Booleana 03.09. Erstes Zwischenfazit Kathrin 06.09. Zweites Zwischenfazit Miss Booleana 17.09. Zweites Zwischenfazit Kathrin 24.09. Erstes Zwischenfazit von Voidpointer 13.10. Fazit von […]

  8. […] Chiangs Kurzgeschichte Seventy-Two Letters handelt von Wissenschaftlern, die damit experimentieren nach jüdischem Glauben unbelebtes zu […]

Schreibe einen Kommentar zu Wir lesen … „Stories of Your Life“ #StoriesOfChiang (Ankündigung) | Miss Booleana Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert