Ukrainischer Herbst: Buch-Besprechung zu Serhij Zhadan „Internat“

Es war glaube ich auf der Leipziger Buchmesse 2017 als ich in einem Panel Ukrainischer Autoren Serhij Zhadan (Сергій Вікторович Жадан) das erste Mal sah. Er las Gedichte. Ich war beeindruckt und beschämt. Beschämt, weil mir mein Freund, gebürtiger Ukrainer, steckte, dass Zhadan in der Ukraine sehr bekannt ist und im Publikum saßen so erschreckend wenig Leute. Leere Sitze vor mir. Ich schaut mich um: leere Sitze hinter mir. Haben die Menschen die Ukraine vergessen? Seit 2014 tobt ein Krieg in der Ukraine zwischen russischen und ukrainischen Truppen und Milizen unterschiedlicher Interessen. Auch wenn niemand das Wort Krieg verwenden will. Ist ein Ende in Sicht? In der Gegend von Donetzk und Luhansk leben Menschen, versuchen einen Alltag aufrecht zu erhalten. Seit vier Jahren. Wie? In der Gegend um Donezk, fährt schon lange keine Post mehr. Und so muss ich nochmal fragen: Haben die Menschen die Ukraine vergessen? Als auf der Leipziger Buchmesse 2018 Zhadans Buch „Internat“ vorgestellt wurde, nahm ich es mir fest vor für den Russischen Herbst zu lesen.

„Fahr und hol ihn“, brüllte der Alte

Paschas alter Vater beginnt brüsk seine Sporttasche zu packen und will selber losgehen und den Jungen holen. Das braucht es, bevor Pawlo „Pascha“ Iwanowytsch den Arsch hochkriegt und selber zu seinem Neffen aufbricht. Der sitzt in seinem Internat in der Stadt fest, die bombardiert und beschossen wurde und inzwischen besetzt ist. Niemand weiß so richtig, ob das Internat und der Junge überhaupt noch da sind. Aber darüber redet keiner, das will niemand. Schon gar nicht Paschas Schwester, die Mutter des Jungen. Sie ist gefühlt immer nur arbeiten. Als Pascha dann losgeht, hat er sich bei Weitem nicht träumen lassen wie schlimm die Lage ist. Es fahren quasi keine Busse mehr, er kommt nicht weit. Ein Taxifahrer mit ledriger Haut, der Pascha den Leguan nennt, erbarmt sich seiner und bringt ihn soweit er sich traut. Pascha lernt, dass er sich vor Soldaten ab jetzt verstecken muss. Vor welchen? Am besten allen. Er geht die meisten Strecken zu Fuß. Nur um eine Stadt vorzufinden, in der man von „Leben“ kaum noch sprechen kann.

„Die Blondine trägt Turnschuhe, löchrige Jeans und eine orange Jacke. Wenn sie schießen, dann fangen sie mit ihr an: Sie leuchtet am grellsten.“ S. 76

Menschen verstecken sich in Kellern, in Bahnhöfen; scharen das wenige, was sie mitnehmen konnten um sich. Misstrauen überall. Er will doch nur den Jungen holen. Man erwartet irgendwie von dem Buch, dass Pascha ein zerbombtes Internat vorfindet und keinen Jungen mehr. Oder dass er gar nicht bis dahin kommt. Aber soviel Spoiler werden mir sicherlich verziehen: er findet den Jungen. Aber der Rest der Reise wird immer mehr an ihnen zehren. Wenn Sie tagelang unterwegs sind und in den wenigen mitgebrachten Klamotten durch Schnee und Eis stapfen, dann erinnert das an Bilder von Flüchtlingsströmen. Wie konnte Pascha die Lage so unterschätzen? Er lebt doch dort.

Abgestumpft

„Der Alte schaut die Wettervorhersage, als müsse dort sein Name erwähnt werden. […] Pascha schaut nicht fern, vor Allem im letzten Jahr nicht mehr, seit die Nachrichten nur noch Angst machen.“ S. 7

Pascha wird mehrmals gefragt, warum er das Kind nicht früher geholt habe, ob er denn nicht fernsehen schaue? Nein, sagt er darauf. Und er mag auch Politik nicht. Valeri Petrowytsch, der Sportlehrer des Internats, der sich dort mit den Kindern und der Direktorin verschanzt hat, redet sich und Pascha gewissenhaft ein, dass sie nichts unrechtes getan haben und man ihnen dementsprechend nichts tun wird. Dass sie das alles nichts angeht und irgendwann wird sich schon alles beruhigen. Er und Pascha sind Beispiele dafür wie sich die Leute mit aller Macht einreden, dass es nicht ihr Konflikt sei und schon wieder alles gut werden wird. Dass der Konflikt eine Erfindung von „denen da oben ist“. Auf die Frage der Direktorin, wann er das letzte Mal zur Wahl gegangen sei, erwidert Valeri trotzig, dass er grundsätzlich nicht zur Wahl geht.

„Sie blättern in Paschas Ausweis, grunzen unzufrieden, als sie auf der ersten Seite die Flagge sehen. Haben sich noch nicht daran gewöhnt, dass hier alle Einheimischen einen Ausweis mit der für sie feindlichen Flagge haben.“ S. 179

Zhadan demonstriert an den Charakteren eindrucksvoll wie die Ohnmacht der Menschen in Gleichgültigkeit mündet. Das ist aber die Reaktion, das Ergebnis, der Ausgang. Wo ist die Ursache? Ist es die Perspektivenlosigkeit und das Gefühl keinen Unterschied zu machen, nichts bewirken zu können, die zu einer stumpfen, störrischen Abneigung wird, nicht handeln zu wollen, weil sich die Anderen doch mal darum kümmern sollen, dass alles gut wird? Zu dumm nur, wenn man dann nicht mal zur Wahl geht um sich einen Vertreter zu wählen, der es vielleicht kittet. Es macht fassungslos mit welchen starken Worten sich beispielsweise Valeri, aber auch Pascha, verteidigt. Pascha sagt mehrmals „Mitleid mit niemandem“, um nicht nach rechts und links schauen zu müssen. Seine Haut und die des Jungen zu retten. Aber Pascha ist kein schlechter Kerl. Er hilft den Menschen um sich herum. Aber es braucht nur eine starke Meinung in seiner Nähe, dann knickt er ein, wird ein Ja-Sager. Ja, sicher, du hast recht, natürlich. Natürlich. Ja, du hast Recht, Mitleid mit niemandem. Wie damals als sowohl Schüler als auch Lehrer zuschauen wie ein Junge auf dem Schulhof übel schikaniert wird, sogar letzten Endes von seinen Mitschülern auf dem Schulhof lebendig vergraben wird. Natürlich holt man ihn aus, aber erst als die Schaufel ihn getroffen und verletzt hat. Und alle haben zugesehen. „Mitleid mit niemandem“. Pascha ist zu weich, knickt ein, sobald Stärkere um ihn herum sind. Und was die Stärkeren sagen, muss ja Gesetz sein, oder? Sein Neffe ist erstaunlich zäh und konfrontiert Pascha damit. Nennt ihn Feigling. Kein Wunder: auch er ist einer mit dem man kein Mitleid hatte. Als er auffällig wurde, gesundheitlich angeschlagen, schwer zu erziehen, wurde er in das Internat abgeschoben. Er ist zäher vom Leben geschmiedet worden als Pascha, der als Lehrer eigentlich eine andere Figur abgeben sollte und einen klaren Blick bewahren müsste. Müsste. Könnte. Sollte. Aber Pascha wächst an dem Weg, den er zu dem Jungen gegangen ist und dem Versuch nach Hause zu kommen. Vielleicht ist es doch nicht nur „Mitleid mit niemandem“?

Ein namenloser Konflikt in einer namenlosen Stadt

„Und warum wehren sich deine Leute nicht?“ S. 207

Zhadan (übrigens „Schadan“ gesprochen) hat in seinem Buch dem Konflikt ein Gesicht gegeben und Bilder, die wir in den Nachrichten nicht sehen. Dabei wird der Konflikt nicht direkt benannt. Auch die Seiten nicht. Es deutet sich lediglich durch die Sprache an, worum es hier geht, wenn es heißt, dass einer Russisch spricht, ein anderer Ukrainisch. Wenn es heißt, dass Pascha als Ukrainisch-Lehrer eine Sprache unterrichten würde, die bald so tot ist wie Latein. Das ist hart – so wie das ganze Buch. Davon abgesehen schildert Zhadan den Konflikt als einen namenlosen. Überhaupt hat auch die Stadt keinen Namen. Es könnte jeder Krieg sein, denn die Gesichter des Krieges sind alle gleich. Hoffnungslosigkeit, Schmutz, Krankheit, Gleichgültigkeit, Schmerz. Es heißt „deine Leute“ und „unsere Leute“. Es wird kaum ein Unterschied gemacht zwischen den Besetzern und Besetzten. Soldaten sind Soldaten und sie haben vor allen Angst. Krieg ist kompliziert. Bei zwei Fronten und x Milizen – wie soll man wissen, wer wer ist? Pro-russische ukrainische Miliz? Pro-ukrainische ukrainische Miliz? Russische Miliz? Zhadans Buch ist kein fröhliches, aber ein wichtiges, denn es gibt einem Konflikt ein Gesicht, der schon viel zu lange dauert und es inzwischen kaum noch in unsere Nachrichten schafft. Aber es gibt Teile dieser Welt, Teile Europas, die nicht weit weg sind, aber seit Jahren im Krieg. Eine bittere Gewissheit und ein Aufruf dazu nicht gleichgültig zu sein.

„Pascha schaut auf die Stadt und sieht sie gar nicht. Sieht nur eine schwarze Grube, über der große schwarze Rauchschwaden wehen wie Drachen mit langen Schwänzen. Als würden Seelen aus der Stadt herausgepumpt. „ S. 104

Bisherige Artikel der Beitragsreihe

I: Ankündigung
II: Sachbuch-Besprechung zu „Russische Geschichte“ von Andreas Kappeler
III: Hörbuch-Besprechungen zu Sergei Lukjanenkos Wächter-Reihe Band 1 „Wächter der Nacht“
IV: Fjodor Dostojewskij „Der Spieler“
V: Natascha Wodin „Sie kam aus Mariupol“
VI: Michail Bulgakow „Der Meister und Margarita“

Header image photo credit: Anton Sharov

Mit dem Ukraine-Konflikt ist es wie mit dem Krieg in Syrien und so vielen anderen Teilen der Welt. Wir freuen uns, dass wir (als Deutschland) in einer der längsten Friedensperioden seit Jahrhunderten leben und versuchen das mit aller Macht so zu halten. Aber es herrscht kein Weltfriede, leider. Wichtig ist nicht gleichgültig zu sein und nicht zu vergessen. Ich hatte nicht erwartet, dass Zhadans „Internat“ ein fröhliches Buch werden würde und es ist auch keins. Aber es ist sehr bewegend und unbequem auf eine Art und Weise, die es geben muss, die wichtig ist. Habt ihr das Buch vielleicht auch bereits gelesen oder auf dem Schirm? Habt ihr schon etwas von Zhadan/Schadan gelesen? Oder könnt ihr mir andere Bücher ukrainischer Autoren oder Autorinnen empfehlen?

5 Antworten

  1. Habe bislang noch keine/n ukrainischen Autor/in gelesen stelle ich gerade überrascht fest und habe auch nix im Regal stehen. Habe mit Mitte 20 sehr viel russische Literatur gelesen und brauchte dann mal eine Weile Pause.

    Ich habe vor einer Weile „Einsame Schwestern“ von Ekaterine Togonidze gelesen, das mir sehr gefallen hat. Die Autorin kommt aus Georgien. Könnte Dir denke ich gefallen:
    https://bingereader.org/2018/07/19/einsame-schwestern-ekaterine-togonidze/

    Werde jetzt aber mal die Augen aufhalten nach ukrainischer Literatur. Das von Dir vorgestellte Buch klingt nicht schlecht, bin aber noch nicht wirklich angefixt.

    Liebe Grüße 🙂

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Das kann ich mir vorstellen, dass du danach eine Pause brauchtest. Ich dachte immer, dass das ein Klischee sei, aber ich habe trotz der Auseinandersetzung mit Russischer Literatur bisher kein „witziges“ oder leichtes Buch eines russischen Autors/Autorin gefunden. Obwohl „Der Spieler“ schon ab und zu recht witzig war.

      Danke! Den Tipp nehme ich mal mit 🙂 Georgien war auch neulich im Blog „Read Ost“ im Fokus mit sehr sehr vielen georgischen Autoren. Ich weiß aber noch nicht, ob ich jetzt noch mehr auf meine Leseliste setze. Vielleicht für den nächsten Schwung russische Literatur 😉

      Ja es ist irgendwie schwierig bei solchen ernüchternden und ernsten Themen. Ich fand es wirklich sehr gut und sehr aktuell, weil ich mich immer gefragt habe wie es in der Ukraine so kommen konnte wie es gerade ist. Vom Interessenkonflikt, dem der Donbass zu Opfer wurde, mal abgesehen. Das ist ja meistens nicht alles. Und das Buch spricht da sehr offen in die Richtung „Gleichgültigkeit ist scheiße“ (und macht, dass man die falschen Leute wählt oder gar nicht mehr wählt) und das ist etwas, wo ich Deutschland auch etwas in der Gefahr sehe abzugleiten. Wenn wir das nicht bereits tun. Aber auch wenn das Buch das eindrücklich schildert, fällt es halt in die Kategorie „Bücher, die man nicht zum Spaß liest“ und das ist wohl schwer damit anzufixen. Ich hab halt auch zuhause private „Ambitionen“ neben mir sitzen um mich damit auseinanderzusetzen. Da hat jeder so sein Thema

      Liebe Grüße

  2. […] I: Ankündigung II: Sachbuch-Besprechung zu „Russische Geschichte“ von Andreas Kappeler III: Hörbuch-Besprechungen zu Sergei Lukjanenkos Wächter-Reihe Band 1 „Wächter der Nacht“ IV: Fjodor Dostojewskij „Der Spieler“ V: Natascha Wodin „Sie kam aus Mariupol“ VI: Michail Bulgakow „Der Meister und Margarita“ VII: Serhij Zhadan „Internat“ […]

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