Es ist schon wieder über einen halben Monat her, dass ich hier das gemeinsame Lesen von Tolstois berühmtem Türstopper angekündigt habe. Anette, Jana, Michael und ich lesen „Anna Karenina“. Vielleicht ein bisschen zeitversetzt – aber wenn man mit Spoilern aufpasst, ist das kein Problem. 😉 Und wo kommen wir denn da hin, wenn man bei einem um die tausend Seiten starken Buch nicht seinem eigenen Tempo folgen darf? Auf Twitter kann man unsere Gedanken unter #LeoUndAnna verfolgen – und gerne auch (spoilerfrei) mitreden. Da ich nun inzwischen irgendwo im fünften Teil bin und die Hälfte hinter mir gelassen habe, wird es auch mal Zeit für ein Zwischenfazit. Denn eines bietet das Buch wirklich genug: Stoff, der diskutiert werden will. Spoiler sind nicht zu erwarten.
Für mein tägliches Workout stemme ich fünfzig Mal Tolstois Bücher
Wenn ich mal in die unangenehme Situation komme mich verteidigen zu müssen, dann habe ich hoffentlich(?) Tolstois Anna Karenina dabei. Der Begriff Türstopper kommt hier nicht von ungefähr. Es ist ganz nett, wenn man etwa bei der Hälfte des Buches ist. Dann balanciert sich das Gewicht beim Buch halten aus … . (Das war Ironie.) Meine Ausgabe hat knapp über 1200 Seiten. Das ist so eine große Zahl, dass ich sie hier nicht mal ausschreiben möchte. Dabei hat das Buch acht Kapitel bzw. Teile und bevor ich zu tief in die letzte Hälfte eintauche, möchte ich festhalten, was die ersten, zweiten und späteren Eindrücke zu Anna Karenina waren.
Zu Beginn musste ich etwas schlucken als ich die Seitenzahl sah. Die Erinnerungen an Verbrechen und Strafe waren noch frisch – und nicht jedes Kapitel (oder jeder Charakter) hat mich abgeholt. Und dann hat meine Ausgabe auch keine Kommentare und erklärt mir die einen oder anderen Begriffe Russlands der damaligen Zeit nicht. „Könnte ein Problem werden“, dachte ich. Das waren gleich zwei Trugschlüsse in einem. Überraschenderweise liest sich Anna Karenina viel leichter als erwartet. Auch Kommentare fehlen mir nicht – Semstwo und andere fremde Begriffe tauchen nicht sehr häufig auf. Und wenn doch, dann schaffe ich das auch noch die mal nachzuschlagen.
In der Übersetzung von Hermann Asemissen finde ich die Sprache lockerer als erwartet. Aber auch nicht so modern, dass Verwechslungsgefahr bestehen könnte. Mit dem Flair Russlands des 19. Jahrhunderts und Liebe und Leid der betuchten Gesellschaft erinnert es mich bereits zu Beginn stark an Period Dramas wie Downton Abbey. Nur das Downstairs zum Upstairs fehlt. Bälle und Empfänge, Roben in leuchtenden Farben, jeder Blick wird gedeutet und es werden hitzige Diskussionen geführt, die das damalige Weltbild entlarven.
,,Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.“
Leo Tolstoi – Anna Karenina #Buchbeginn @BuchbeginnIch bin sehr gespannt und freue mich auf die Leserunde unter #LeoundAnna.
— Jana (@Wissenstagebuch) 14. Mai 2019
Ein déjà-vu (oder viel mehr déjà-ecouté) ereilte mich bei dem auch von Jana geteilten Buchanfang. Ein klassischer Fall von Famous First Words – die ich allerdings vorher nicht mit Tolstoi assoziieren konnte. Wie sich schnell zeigt, ist der Satzanfang perfekt. Die Geschichte beginnt nicht etwa mit der titelgebenden Anna Karenina, sondern mit deren Bruder Stepan Arkadjewitsch Oblonski(j), auch Stiwa genannt, und seiner Frau Dolly. Stiwa hat seine Frau betrogen, ist aufgeflogen und der häusliche Segen hängt schief. Erst nach ca. sechzig Seiten reist Anna an und soll zwischen den entzweiten Ehepartnern Frieden stiften. Ein paar Gespräche, ein bisschen gut zureden und schon läuft der Laden wieder. War ja einfach, oder? Nicht ganz. Und für Anna beginnt das Drama erst als sie bei einer der flirrenden Empfänge den Grafen Alexej Kirillowitsch Wronski(j) trifft.
„Team Kitwin“ vs „Team Anski“
Schon als der Gedanke „eines Tages mal Anna Karenina lesen“ noch halb ernst war, begegnete mir irgendwo der Satz „man wäre entweder Team Anna/Wronski(j) oder Team Kitty/Lewin“. Tatsächlich sollte ich Lewin und Kitty kennen lernen als Anna im Buch nur erwähnt wurde und noch gar nicht in Erscheinung getreten war. Lewin ist ein Vertrauter von Annas Bruder und Kitty die Schwägerin Stiwas. Kitty hat ein Auge auf Wronski geworfen, ist aber auch Lewin nicht abgeneigt. Und das Dilemma scheint perfekt, denn sobald Wronski Anna erblickt, ist es um ihn geschehen. Von da an wird das Leben und der Werdegang all dieser Charaktere gleichermaßen verfolgt. So erfahren wir immer wieder von Anna, Kitty, Lewin, Wronski, Stepan, Dolly und weiteren Nebencharakteren als Ich-Erzähler oder quasi-allwissender Erzähler und erfahren aus erster Hand was sie denken und wie sie ticken. Kein Wunder, dass Team Kitty/Lewin („Kitwin“) soviele Fans hat. Ihre Geschichte ist nicht durch Ehebruch und den gesellschaftlichen Fingerzeig negativ konnotiert. Der ansonsten eher störrische Lewin kann sogar herrlich verliebt und verzweifelt sein vor Liebeskummer. Während Kitty schwer gezeichnet davon ist, zwischen zwei Männern zu stehen.
Warum das Buch Anna Karenina heißt und nicht Jekatarina Alexandrowna Schtscherbazkaja (so Kittys ganzer Name), kann man erahnen, aber vollends erschließen wird es sich erst beim weiterlesen. Stellenweise fühlt es sich so an, als würde das Schicksal von Kitty und Anna zwar parallel, aber dramatisch gegenteilig verlaufen. Wenn es für Kitty bergauf geht, ist Anna am Tiefpunkt. An Kittys wird demonstriert, dass junge Mädchen sich damals Heiratswilligen anpreisen und ihre scheinbar einzige Lebensaufgabe das „Ehefrau“ und „hübsch“ sein ist, während Anna aus diesem Muster ausbricht und sich am Rand der von der Gesellschaft geduldeten moralischen Werte wiederfindet. Einerseits schauen alle gespannt zu und fiebern mit, ob die Karenina mit dem Wronski, aber falls es doch zum Ehebruch und einer Scheidung kommt, wäre Anna mittellos und geächtet.
„Liebe […] Ich hasse dieses Wort gerade deshalb, weil es für mich soviel bedeutet, viel mehr, als Sie begreifen können.“ (Anna) p.213 Für mich eins der besten Zitate bisher – mal abgesehen vom Romananfang! #LeoUndAnna
— MissBooleana (@MissBooleana) 11. Mai 2019
Was man einem Mann verzeiht, einer Frau nicht
Obwohl ich das erst sehr viel später in dem Buch erwartet hätte, ist bereits zur Mitte ein Stück weit klar, warum das Buch mit Stiwa statt Anna anfing. Die etwas längliche Einleitung mit Stiwa, Dolly und dem Ehebruch ist ein bewusster Vergleich zu Annas Geschichte und Tolstoi ein gekonnter Strippenzieher. Er zeigt, dass Stepan selbst im eigenen Haus verziehen wird, während eine Frau, die Ehebruch begeht, gesellschaftlich oder moralisch eine Geächtete ist. #Doppelmoral Egal was vorgefallen ist, egal wie ihre Ehe verläuft. Alexej Alexandrowitsch Karenin, Annas Mann, ist ein hoch angesehener Beamter, aber gefühlskalt. Er bemerkt erst, dass ihm seine Frau entgleitet, als er die Blicke der feinen Gesellschaft auf sich ruhen spürt. Seine Verachtung trifft sie hart – das schlimmste denkt er nur, spricht es nicht mal aus. Dass zu einer Beziehung immer zwei gehören, scheint keine anerkannte Tatsache zu sein. Er fühlt sich fehlerfrei und den Ehebruch einzig als ein Makel Annas Charakters. Und das Unglück nimmt seinen Lauf.
„Alexej Alexandrowitsch wollte sich über das Benehmen und die Gefühle seiner Frau keine Gedanken machen, und er dachte auch tatsächlich nicht darüber nach.“ p.303 Törichter Mann. Hätte er mal viel viel viel früher darüber nachdenken sollen. #LeoUndAnna
— MissBooleana (@MissBooleana) 11. Mai 2019
Fazit des Zwischenfazits
Die gar nicht mal so sehr versteckte Gesellschaftskritik ist schon ein mehr als deutliches Merkmal, das Anna Karenina zu dem Klassiker und der Weltliteratur macht, die es ist. Aber Tolstoi kann noch mehr. Er stellt den Patriarchalismus sehr stark raus, indem er die männlichen Charaktere als vollkommen befreit von Kritik und gesellschaftlichen Zwängen darstellt. Es ist fast komisch wie großartig sich Wronski fühlt und wie am Boden zerstört, wenn er sich eines Makels und einer Fehlentscheidung bewusst wird. Oder wie unglaublich besserwisserisch Lewin sein kann und seinen Mitmenschen stets Unwissenheit und Mangel an Fertigkeiten und Weitsicht unterstellt. Tolstois Charaktere sind nicht rein schwarz/weiß. Sie haben Grauschattierungen, positive, negative und menschliche Eigenschaften. Man möchte fast sagen, dass sie Antihelden sind. Und fühlen sich daher umso realistischer an. Ob ich aber Team Kitwin oder Anski bin? Wenn dann eher Kitwin, aber auch Lewins unausgeglichene und sprunghafte Art macht es mir schwer.
Irgendwie muss das Buch ja auf seine stattliche Seitenzahl kommen!? Das liegt u.a. daran, dass sich Tolstoi die Zeit nimmt um über Religion, Frauenrechte und den Konflikt zwischen Land- und Stadtbevölkerung zu thematisieren. Die Debatten sind vielfältig! Für den einen oder anderen Leser macht es das Buch so sicherlich zu einem Fass ohne Boden, aber wenn zwei Charaktere hitzig diskutieren und einer argumentiert Bauer seien ungebildet, aber so bessere Arbeiter und es bedürfe keiner Schulpflicht, dann kommt man nicht umhin eine Meinung zu haben. Das Buch kann viel, fordert aber auch Ausdauer für Debatten und abschweifende Gedanken und Werdegang von Nebencharakteren. Dafür liest es sich leicht. Schreckt aber scheinbar viele Leute ab, die stattdessen lieber den Film schauen. Es ist mir bisher bei keinem Buch passiert, dass die Leute mich ungefragt so schnell spoilern wer am Ende stirbt und dass auch nicht wissen, weil sie es gelesen haben, sondern das scheinbar Allgemeinwissen ist. Ich hatte allerdings gehofft es durch das lesen zu erfahren.
Durch die Spoilerei habe ich inzwischen so Theorien, warum man am Romananfang steht „Die Rache ist mein / ich will vergelten“. Da scheint noch eine Menge zu kommen. Nebenbei ist es für mich das erste gemeinsame Lesen ohne Kathrin! War für mich bisher undenkbar 😉 Wir haben sie eben nicht rumgekriegt Anna Karenina nochmal zu lesen. Dafür bereichert Kathrin die Aktion und fiebert mit uns mit und tauscht sich trotzdem mit uns aus ebenso wie Voidpointer – ich habe immer noch Hoffnung, dass du dich uns noch anschließt. 😉 Bis jetzt macht es mir sehr viel Spaß und ich freue mich auf die kommenden Kapitel. Einen kleinen Ausblick auf die Vielfalt an „Stoff“, den der Klassiker bietet, kann man denke ich aus folgenden Snippets ableiten 🙂
Was mir da so durch den Kopf geht gegen Ende des ersten Teils ist wie „weitsichtig“ die Charaktere doch sind. Was die alles aus dem Blick von jemandem herauslesen grenzt schon an Hellseherei. #LeoUndAnna
— MissBooleana (@MissBooleana) 1. Mai 2019
Stepan! In der Diskussion über Frauenrechte #LeoundAnna erweist er sich plötzlich als progressiv!
— Nettebuecherkiste (@Idril1) 9. Mai 2019
Ich glaube, die Anna hat einfach nie ein gutes Buch gelesen – dann würde sie anders denken. Und das eine schließt das andere ja auch nicht aus. #LeoUndAnna
— Phantásienreisen @ #LBC19 (@Phantasienreise) 11. Mai 2019
Aber bei ,,Wer gern rodelt, muss auch gern den Schlitten ziehen.“ hab ich mich weggeschmissen. Ist ja fast schon frivol in dem Zusammenhang. Werd das Sprichwort demnächst auch mal verwenden. Vielleicht erst im Winter. #LeoundAnna
— Jana (@Wissenstagebuch) 14. Mai 2019
— Phantásienreisen @ #LBC19 (@Phantasienreise) 11. Mai 2019
Zu den bisherigen Artikeln der Leserunde
01.05. Ankündigung hier im Blog
07.06. Fazit von Anette
23.06. Fazit von mir
13.07. Fazit von Jana
Habt ihr „Anna Karenina“ schon gelesen? Oder steht es auch noch auf eurer Liste? Wollt ihr euch uns vielleicht sogar noch anschließen? Wann hat euch das letzte Mal ein Klassiker positiv überrascht, der einfacher zu lesen war als erwartet? Und seid ihr auch so böse, wenn ihr euch durch tausend Seiten Geschichte bewegt, nur um ungefragt gespoilert zu werden?
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