Selten war wohl eine Überschrift so kryptisch wie die hier 😀 Im Zuge des Lese- und Schauprojektes „Russischer Herbst“ nahm ich mir im Herbst letzten Jahres vor mich mal fokussiert russischer Literatur zu widmen und dabei einige Erstkontakte zu knüpfen. U.a. mit Bulgakow und Dostojewskij. Bei letzterem hatte ich Lust etwas anders zu machen und mich eben nicht „Verbrechen und Strafe“ (in früheren Übersetzungen „Schuld und Sühne“) zu widmen, wofür Dostojewskij weltbekannt ist. Und so fiel die Wahl auf sein Buch Der Spieler. Schnell war klar, dass das u.a. dank des Nachworts des Übersetzers ein guter Einstieg in den Kosmos Dosto(jewskij) ist. Mit dem „Spieler“ an sich konnte ich mich weniger anfreunden, obwohl das Buch seine Momente hat. Dann aber verlängerte sich der Russische Herbst um Bücher und Eindrücke, wurde zum Russischen Winter und meine geschätzten Bloggerkollegen und -freunde Kathrin und Voidpointer kamen mit der Idee um die Ecke nun eben „Verbrechen und Strafe“ doch noch anzugehen – gemeinsam. Der Leserunde schloss sich kurzfristig auch noch Jana von Wissenstagebuch an. Unsere Eindrücke kann man auf Twitter unter #Dostopie nachvollziehen. Und es hat das Lesen definitiv lockerer und witziger gestaltet als es ansonsten gewesen wäre. 🙂
Die Enden der Nahrungskette
Verbrechen und Strafe widmet sich des ehemaligen Jura-Studenten Rodion Romanowitsch Raskolnikows, kurz Rodja, der in Sankt Petersburg mit dem Gedanken spielt einen Mord zu begehen. Der Plan ist schon weit vorangeschritten. Das Opfer soll eine Pfandleiherin sein, bei der auch der inzwischen fast vollkommen verarmte Rodja etwas verpfändet hat. Er späht das Opfer aus, ist aber im Zwist mit sich selbst. Scheinbar zufällige Erwähnungen in seinem Umfeld und Geplänkel in einer Kneipe darüber wie unfair sie ist, bestätigen ihn in seinem Vorhaben. Bei der Tat geht aber alles schief, was schief gehen kann. Und soviel darf verraten werden: sie findet statt. Rodja verfällt in einen Fieberwahn, er wankt zwischen kalter Berechnung, Übermut und Selbstmitleid bis hin zur Selbstaufgabe. Im einen Moment will er sich umbringen, im nächsten hält er sich für überlegen, weil er noch nicht geschnappt wurde und begeht fast Dummheiten, die ihn unter anderen Umständen überführt hätten. Es ist ein Hangeln, Ziehen und Zerren bis zum Ende. Einige sind trotz seines wankelmütigen Verhaltens nicht misstrauisch, schieben es auf das Fieber, anderen beäugen ihn kritisch. Was treibt ihn an, diesen Rodja? Wie konnte es soweit kommen?
„Raskolnikow war während dieser ganzen Zeit, während dieses ganzen Monats so müde geworden, daß er jetzt Probleme nur noch auf eine einzige Weise zu lösen vermochte: ‚Dann werde ich ihn erschlagen‘, dachte er in kalter Verzweiflung.“ p. 889
„Es gibt solche und solche und dann gibt’s noch andere“
Der Leser wird anfangs im Glauben gelassen, dass es vielleicht Rodjas desolater Zustand ist, der ihn zu der Tat treibt. Ein Motiv, das in der russischen Geschichte und demzufolge Literatur stetig anzutreffen ist: der Mangel, die Knappheit. Kein Essen, kein Wohnraum – das macht die Menschen hart. Haben Hunger und Not seine Moral verschleiert und die hinzukommende, schwelende, fiebrige Erkrankung den Rest erledigt? Aber man wird eines besseren belehrt, als Rodja auf eine seiner Studien-Schriften angesprochen wird, in der er behauptet, dass es zwei Klassen von Menschen gäbe. Die, die zu großem bestimmt sind und denen es gestattet sei zugunsten eines höheren Zweckes Straftaten zu begehen und die, die nicht mehr als „Ameisen“ sind und abkömmlich, unwichtig, niedrig.
Schnell wird klar, dass Rodja sich einst für einen solchen „Napoleon“ hielt und von sich schwer enttäuscht ist. Er hat seiner Theorie nicht stand gehalten. Der Mord war eine Desaster, seine Schuldgefühle plagen ihn und er hat sich kaum unter Kontrolle. Verbrechen und Strafe zeichnet ihn als einen Antihelden, von seinem Glück verlassenen, einen Fehlgeleiteten, aber auch einen Geläuterten? Wenn er überheblich oder übermütig wird, ist es schwer ihn zu mögen. Er ist kein Held, der viel Identifikationspotential bietet und macht es für moderne, aufgeklärte Leser noch schlimmer indem er kopflos in der Gegend herumläuft und sich ein um’s andere Mal fast verrät. Oder sogar offenkundig verrät. Andererseits … er hat schließlich einen Mord begangen. Außerdem steckt Gutes in ihm. So gibt er sein letztes Hemd für die Familie Marmeladow angesichts ihrer Armut und Verzweiflung, obwohl er sie eigentlich nur flüchtig kennt. Die älteste Tochter Sonja rührt sein Herz und seine Moral sogar soweit, dass er in Erwägung zieht sich zu stellen.
Auch was die Menschen in seinem Umfeld betrifft, scheint sein Blick weniger verschleiert. Als seine Mutter und Schwester Dunja nach Petersburg kommen und sie sich nach Jahren wiedersehen, ist er entsetzt aufgrund der Verlobung Dunjas mit dem pathetischen und patriarchalischen Hofrat Luschin. Er erkennt Luschin als den Crétin der er ist, der sich an der Armut der Familie aufgeilt und als schillernder Retter in der Not auftreten will. Wie sich bald zeigt hat Rodja mit seiner Einschätzung recht. Wie aber kann er angesichts seiner eigenen Familie, angesichts seiner Freunde um den Studenten Rasumichin und die gottesfürchtige Sonja die Menschen in Ameisen und Napoleons unterscheiden?
Smells like … vorauseilender Ruf
Was sich am letzten Absatz schon ablesen lässt: es kommt ein bisschen Vorabend-Kitsch dazu. Wenn Rodjas Katz-und-Maus-Spiel mit dem Staatsanwalt und anderen neugierigen Gesellen von Dunjas Verlobungsplänen und diversen aus dem Ruder laufenden Totenwachen unterbrochen wird, dann fühlt man sich plötzlich mehr wie in einer Telenovela als einem Klassiker der Weltliteratur. Durch das Bild, was mir vorher von Verbrechen und Strafe vermittelt wurde, erwartete ich etwas anderes. Ich dachte es wäre mehr gritty. Ein bisschen härter und düsterer. Würde die Säulen meiner Welt mehr zum Wanken bringen. Ich fand mehrmals Bücher, in denen die Hauptcharaktere von Dostojewskijs Werk tief beeindruckt waren. Das sogar ihr Leben verändert hätte (bspw. in Paul Austers 4 3 2 1). Und einen Zeitungsartikel, der behauptete man solle auf die Frage nach dem besten Buch der Welt immer mit Verbrechen und Strafe antworten. Ist das Legendenbildung? Auf jeden Fall schafft es eine erhabene Vorstellung, an die das Buch für mein Empfinden anfangs nicht rankam. Am besten macht man sich doch immer noch sein eigenes Bild. Denn Dostojewskij hat ein Buch geschrieben, in dem viel geschwafelt wird. Und an das patriarchalische Verhältnis zwischen Mann und Frau musste sich mein aufgeklärter Geist auch etwas gewöhnen. Luschin hätte ich am liebsten zum Mond geschossen. Und dann ist da noch der Nicht-Held Rodja. Summa summarum also … ?
Aber andererseits: was wäre ein Buch, über das man nicht reden muss? Das Mitgefühl vieler Leser für Rodja hat sich mir anfangs nicht erschlossen. Erst nach und nach wurde mir klar, dass er eine sehr menschliche Figur ist. Einer, dessen selbst erstelltes Weltbild ins Wanken gerät. Einer, der sich quasi vor dem sozialen Abstieg retten will. Einer, der hochmütig war und zusammenklaubt, was davon noch übrig ist. Irgendwann kommt der Zeitpunkt an dem er sich umsieht und erkennen muss, dass er Mitgefühl für die Ameisen hat. Und sich schämt, dass er sie Ameisen nannte. Und das war dann doch ein Moment, der mich gekriegt hat. Dass diese Läuterung auch mit der Zuwendung oder Rückkehr zum Glauben stattfindet, ist der Punkt wo man den Dostojewskij am deutlichsten spürt. Auch was die Rolle und Fantasien rund um Frauen betrifft. Die sind in dieser Geschichte leider stets Prostituierte und somit sowieso Männern ausgeliefert oder wie Dunja schon fast zu perfekt und der feuchte Traum gleich mehrerer Herren, die kein Problem damit haben, das offen kund zu tun. Obwohl sie weitaus mehr Durchblick haben als die Männer der Geschichte, die sehr mit sich selbst und dem Alkohol beschäftigt sind, hängt ihr Schicksal stets von eben diesen Männern ab. Ein Bild der damaligen patriarchalischen Gesellschaft, das müde macht und auch ein Wink aus Dostojewskijs eigener bewegter Zeit. Er hatte auch nicht nur eine Affäre und war auch nicht nur aufrecht und gütig zu Frauen.
„Nichts auf der Welt ist schwerer als Aufrichtigkeit, und nichts ist leichter als Schmeichelei. Wenn bei der Aufrichtigkeit ein Ton auch nur um ein Hundertstel unsauber ist, so gibt es sofort eine Dissonanz und dann einen Skandal. Wenn aber bei der Schmeichelei alles, sogar das letzte Tönchen, falsch ist, tut sie immer noch wohl und findet ein geneigtes Ohr; das Vergnügen, mit dem man ihr lauscht, mag primitiv sein, ist aber immerhin ein Vergnügen.“ p. 913
Fazit
Natürlich bietet das Buch mehr Motive, die diskutierenswert sind und die sicherlich insbesondere für die damalige Zeit Zündstoff hatten. Im Grunde ist die Frage auch heute noch nicht „alt“. Viele Medien fragen im Stillen die Frage, ob es ok ist zu töten. Sogar der simpelste Superheldenstoff bewegt sich oftmals an diesem Abgrund. Nur dass hier die Moral nicht zwingend erkannt wird. Darf der Superheld für den höheren Zweck eine ganze Stadt in Schutt und Asche legen? Das Leben einiger weniger gefährden und viel mehr zu retten? Wieviel ist ein Menschenleben wert? Verbrechen und Strafe zeichnet sich aus heutiger Sicht vielleicht nicht mehr durch die Art und Weise aus wie es geschrieben ist (sicherlich aber durch eine großartige Übersetzung Swetlana Geiers) und das damalige Gesellschaftsbild holt einen heute nicht mehr ab, auch ist die Geschichte von etwas viel Geschwafel durchzogen, aber in seiner Grundfragestellung ist es immer noch diskutierenswert. Wahrscheinlich ist das der Teil, der Weltliteratur ausmacht.
Und bevor ihr fragt: nein, es wird nicht mein Lieblingsbuch. Und nein, auf die Frage nach dem besten Buch der Welt werde ich es wahrscheinlich nicht nennen. Dafür brauchte man zuviel Ausdauer es zu lesen und es gab zuviele Widersprüche in Rodja. Fest steht aber, dass ich das Buch ganz anders und mit weitaus weniger Spaß oder Elan gelesen hätte, wenn ich es hätte allein lesen müssen. Mein Dank gilt meinen Mitstreitern, die zusammen mit mir auf Twitter das Buch auseinander genommen haben, diskutiert haben, interpretiert haben und auch mal Augen gerollt haben. Es hat Spaß gemacht. 🙂 Und: es ist ein Buch, das man diskutieren muss, statt es im stillen Kämmerlein zu lesen.
Zu den bisherigen Artikeln der Leserunde „Russischer Herbst“
01.02. Ankündigung von Kathrin
13.02. Ankündigung hier
27.02. Erstes Zwischenfazit von mir
07.03. Zweites Zwischenfazit von mir
09.03. Zwischenfazit von Kathrin
09.03. Zwischenfazit von Jana
19.03. Fazit von Jana
Bisherige Artikel der Beitragsreihe
I: Ankündigung
II: Sachbuch-Besprechung zu „Russische Geschichte“ von Andreas Kappeler
III: Hörbuch-Besprechungen zu Sergei Lukjanenkos Wächter-Reihe Band 1 „Wächter der Nacht“
IV: Fjodor Dostojewskij „Der Spieler“
V: Natascha Wodin „Sie kam aus Mariupol“
VI: Michail Bulgakow „Der Meister und Margarita“
VII: Serhij Zhadan „Internat“
VIII: Serien-Besprechung „The Romanoffs“
IX: Film-Besprechung „Stalker“ (Andrei Tarkowski)
X: Vladimir Sorokin „Der Schneesturm“
Header image photo credit: Stas Ovsky
Habt ihr „Verbrechen und Strafe“ gelesen? Und war es für euch „ein Klassiker der Weltliteratur“ oder hat der Ruf des Buches euch auch einen anderen Eindruck vermittelt? Wie steht ihr zu Rodja? Mir haben ja viele Stoffe vermittelt, dass er ein Held ist mit dem man viel Mitgefühl haben muss – eine Meinung, die ich in dem Ausmaß nicht teilen kann. Man muss ihn denke ich als einen Menschen mit fehlgeleiteten Einstellungen über das Leben hinnehmen und sollte keinen klassischen Helden erwarten. Andererseits sind klassische Helden auch ziemlich langweilig.
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