Fantastischer Film: Ich bin die Liebe

Die Recchis sind eine reiche und angesehene Unternehmer-Familie, die seit mehreren Generationen eine Textilfirma leiten. Es ist die Art Familie, bei denen man eigentlich vermuten würde, dass man sich gegenseitig „siezt“. Der Großvater gibt die Geschäfte an seinen Sohn Tancredi Recchi (Pippo Delbono) und seinen Enkel Edoardo (Flavio Parenti) ab. Tancredis Frau Emma (Tilda Swinton) ist für alle in der Familie eine Konstante, der Anlaufpunkt für ihre Sorgen und diejenige, die im Stillen alles lenkt. Aber während draußen die großen Partys steigen, zieht sie sich zurück. Man spürt deutlich, dass diese Welt nicht ihre Welt ist. Tagsüber in teuren Boutiquen shoppen, Feste planen, Couture-Kleider sammeln, perfekt aussehen – zuviel Fassade, zu wenig Leben. Der Überschwang und die Selbstverständlichkeit der Reichen könnten ihr eigentlich kaum egaler sein. Sie kommt eigentlich aus Russland, aber hat ihre Herkunft und sogar ihren echten Namen vergessen, weil sie dieses Leben hier schon zu lange lebt. Als sie das Essen von Eduardos Freund Antonio (Edoardo Gabbriellini) probiert, ist es aber als ob das Licht angeht. Und das wird im Film genauso inszeniert. Nur über Emma ist ein Lichtkegel, während sie in Antonios Restaurant isst, oder besser die Speisen verschlingt. Die Sinneseindrücke wecken etwas in Emma auf – mit eventuell verheerenden Folgen für das Gefüge einer Familie, die sich als unerschütterlich und unantastbar hielt.

„I AM LOVE Trailer deutsch“, via MFA+Filmdistribution (Youtube)

 

Die Recchis sind eine Familie, für die es eine grobe Enttäuschung ist, wenn der Spross der Familie beim Ruder-Wettkampf nur zweiter wird. Emmas Tochter Elisabetta (Alba Rohrwacher) entzieht sich all dem durch ihre Studium außerhalb des Familieneinflusses. Entzieht sich der Verlobung, entzieht sich der Vorstellung wie sie zu sein hat. Für die Mutter ein weiterer Umstand, der ihr den Spiegel vor hält. Man kann sich gut ausmalen wie der Film endet. Eine Frau, die ausbricht und damit den Zorn einer ganzen Familie auf sich zieht. Die Narrative ist nicht übermäßig gehaltvoll – die Reise geht genau dahin, wo man denkt, dass sie hingeht. Zwischen ihr und Antonio entwickelt sich eine sinnliche und impulsive Affäre, die sich genauso unvermittelt, ohne große Gesten oder Kommentare nach einem langen Tanz um das Unvermeidliche ganz plötzlich entfaltet wie auch in Luca Guadagninos jüngerem Film Call Me by Your Name. Der Stil beider ist sehr ähnlich. Entweder der Film ruht in seinen Bildern und Sinneseindrücken oder er schraubt sich zu einem ekstatischen Höhepunkt. Sehr hilfreich dabei ist hier besonders der Soundtrack aus Stücken von John Adams, die das emsige Treiben hinter den Kulissen der Villen beschreiben oder auch mal die inszenierte Stille, wenn sich Emma und Antonio einander hingeben und spüren, dass das keine normale Affäre ist, sondern sie etwas in dem anderen zum tosen und revoltieren gebracht haben. So wenig der Film auch „erzählt“, ist er umso mehr ein Fest für die Sinne.

Man meint förmlich das Essen im Film zu schmecken, genauso wie die teuren Weine; die Sonne auf der Haut zu spüren; hört die Bienen, die in der Nähe von Antonios Beeten in satten, prallen Feldern umherschwirren. Oder die kühle Luft zu spüren, die die feinen Härchen auf der Haut kitzelt und die Panik und Anspannung, wenn Emma in den kleinen Gassen Italiens versucht nicht aufzufliegen als sie Antonio heimlich folgt. Es sind diese Momente, die alle unsere Sinne ansprechen und eine Geschichte von Leidenschaft und dem Ausbrechen erzählen. Der Film ist nicht wegen seiner dünnen und vorhersehbaren Handlung großartig, sondern wegen der Art und Weise wie er die familiäre Katastrophe, die Rettung Emmas und die Leidenschaft inszeniert. Ich bin die Liebe ist perfekt in seiner Ausstattung und visuellen Gewalt. Wie ein heißer, glühender Juli Sommernachmittag – und schreit mit jeder Faser so wie Emma „Ich will leben“ und nicht nur so tun als ob.

Ich bin die Liebe/I Am Love (OT: Io sono l’amore), Italien, 2009, Luca Guadagnino, 120 min

„The Chairman Dances: Foxtrot for Orchestra – John Adams“, via CsulbMusic (Youtube)

 

Jeden Monat stelle ich einen Film vor, den ich für einen fantastischen Film halte – losgelöst von Mainstream, Genre, Entstehungsjahr oder -land. Einfach nur: fantastisch. 😆

Eine Antwort

  1. Den Film habe ich vor etwa acht bis neun Jahren auf DVD angesehen. Weil ich in meiner Bewertung damals noch sehr handlungsorientiert war empfand ich „I Am Love“ als optisch reizvoll aber inhaltlich zu dünn. Irgendwann muss ich dem Werk eine zweite Chance geben, einfach weil ich als Filmkonsument gereift bin. Und weil Tilda Swinton die Hauptrolle spielt. 😉

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