ausgelesen: Han Kang „Deine kalten Hände“

Es ist (leider) selten, dass ein Buchrücken oder Klappentext die Geschichte, die sie umgibt, wirklich gut beschreibt. Aber wenn da steht, dass das Buch die „lebenslange Suche nach Nähe und Wahrhaftigkeit in einer Welt voller Masken“ schildert, dann erscheint mir das sehr passend. Deine kalten Hände beginnt mit der Journalistin und Schriftstellerin H., die nur kurz den Bildhauer Jang Unhyong kennenlernt und von dessen Werken eine Sogwirkung ausgeht, die H. nicht loslässt. Unhyong macht Skultpuren aus Gips-Lifecasting, d.h. Körperabformungen von Modellen. Ein Prozess, der nicht besonders angenehm ist, aber Körper realitätsnah darstellt. Mit jeder Falte, Wölbung und eventuell noch dem einen oder anderem ausgerissenem Haar. Die Technik fordert das Modell und den Künstler. Während der Gips härtet, wird es darunter heiß und unangenehm, das Abnehmen ist schmerzhaft, der Prozess klaustrophobisch. H. fragt ihn bei ihrem Zusammentreffen nüchtern „Warum?“ Unhyong gibt keine Antwort, lädt sie stattdessen ein, selbst mal sein Modell zu sein. Dazu kommt es aber nicht. Kurz darauf erreicht H. die Nachricht, dass der Künstler spurlos verschwunden sei und ein Hilfegesuch. Ihr wird sein Tagebuch zugespielt, dass sie nach Erholt betroffen liest.

Man kann sagen, dass hier die eigentliche Geschichte beginnt. Unhyong erzählt in dem Tagebuch aus seinem Leben – von der Kindheit an. Von den Eltern, die sich ihm gegenüber kalt und gleichgültig gaben. Nicht verbargen, dass sie in einer Zweckehe ohne Liebe leben. Dass sie um gesellschaftlichen Normen und Erwartungen gerecht zu werden allzeit eine Maske tragen. Masken. Etwas, das Unhyong noch eine Weile verfolgen wird. Er mag daher mehr Hände. Sie lügen selten. Und er mag generell alle und alles, das etwas von der Norm abweicht. So zieht auch die fettleibige L. ihre Aufmerksamkeit auf sich als Unhyong viele Jahre später Künstler ist und routiniert Lifecasting betreibt. Es ist der Anfang einer Geschichte die mehrere Opfer gesellschaftlicher Normen und „Optima“ zeigt. Wie bereits zuvor bei Die Vegetarierin vereint Han Kang Menschen, die hinter das blicken, was einem als der „Standard“ verkauft wird. Unhyong entlarvt schnell die Masken der Menschen in seiner Umwelt und stellt Fragen, die dahin treffen, wo es weh tut. Diese Reise durch den Wald der Masken wird aber auch ihn schwer mitnehmen und erkennen lassen, dass H.s Frage nach dem „Warum“ schwerer wiegt als erwartet.

„Ich betrachtete die Mitglieder meiner Familie als Fremde und war gespannt darauf, den Beweis dafür zu finden. Gleichzeitig versuchte ich, möglichst leise zu sprechen, kleiner zu erscheinen, bei Tisch möglichst selten von den leckeren Beilagen zu nehmen. Manchmal war ich verzweifelt und stellte mir mein echtes Zuhause vor, das es irgendwo geben musste.“ p.51

Deine kalten Hände ist eine von Han Kangs frühen Veröffentlichungen in Südkorea und erschien Anfang der 2000er, in Deutschland dagegen gerade relativ frisch beim Aufbau Verlag. Dadurch, dass der Leser die Gefühlswelt Unhyongs durch ihn als Ich-Erzähler direkt miterlebt, ist das Buch um einiges zugänglicher als Kangs Vegetarierin, hat aber zwischendurch eine ähnliche Note. Insbesondere als er den körperlichen Verfall und andererseits Körperwahn L.’s miterlebt, nachdem sie beschließt abzunehmen. Die selbstzerstörerischen Tendenzen und der Umwelt zu trotzen oder ihr Umwelt zu gefallen, je nachdem in welcher Stimmung L. gerade ist, ist die verzweifelt-ambivalente Version des Motivs aus Kangs Vegetarierin. Das aber mit Sicherheit dieselbe Leserschaft anspricht. Unhyongs Geschichte strotzt zwar immens vor selbstzerstörerischen Menschen und anfangs befürchtet man, dass die Parabel um H. nirgends hinführt, aber das Buch findet zu einem möglicherweise perfekten Abschluss. Und das, nachdem es einem eine zarte Liebesgeschichte gegeben und wieder genommen hat. Es ist gleichzeitig so schön und so schlimm, dass man seufzen möchte. Obwohl das Buch höchst unverkitscht ist.

Gerade als ich die Tags mit den jeweils nur mit einem Buchstaben abgekürzten Namen der Nebencharaktere befüllte, ergab das: H., E., L., P. Zufall? Absicht? Nun, es gab noch mehr. Allerdings habe ich mir ihre Abkürzungen nicht gemerkt. Und denke daher nicht, dass es beabsichtigt war. Für Han Kang wäre das irgendwie zu plakativ und offensichtlich. Liegt doch die Botschaft ihrer Bücher zwischen den Zeilen verborgen, ist subtil und will entdeckt und empfunden werden. Das Ende von Deine kalten Hände ist weniger kryptisch und offen als das von Die Vegetarierin. Ob sich die Aussage des Buches dem Leser erschließt, hängt wohl vom Leser ab. Fest steht aber, dass das Ende des Buches so wie H. es zum Schluss erlebt nur möglich ist, weil Unhyong letzten Endes seine Maske ablegen konnte.

Nun war L. zu einer völlig anderen, durchschnittlichen Frau geworden. Seltsamerweise schien sie jedoch nicht glücklicher zu sein als früher.“ p.128

Fazit

Wunderbarer Roman für alle die ihre Maske gern ablegen möchten oder schon abgelegt haben und müde geworden sind von den Masken anderer. Oder halt für Fans von „Die Vegetarierin“ 😉

Besprochene Ausgabe: ISBN 978-3-351-03762-8, Aufbau Verlag

„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂

4 Antworten

  1. Avatar von voidpointer
    voidpointer

    Die Rezension „lebenslange Suche nach Nähe und Wahrhaftigkeit in einer Welt voller Masken“ klingt tatsächlich nach einem Buch das es in sich hat. Je stärker der Wunsch/das Bedürfnis nach Gesellschaft ist, desto bereitwilliger fügt man sich wohl in die Rollen die einem zugedacht sind. Rollen die es zu erfüllen gilt bevor sie erfüllend sein können.
    Tragisch wird es wenn die Rollen keinen Platz für fundamentale individuelle Bedürfnisse lassen.

    Südkorea ist das Land mit der höchsten Selbstmordrate soweit ich weiß. Auch soll die Pädagogik dort besonders hart sein. Es scheint mir ein verbreiteter Grundbaustein von Erziehung zu sein, das Selbstwertgefühl zu schwächen um Individuum formbar zu machen.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Das hat es auch – aber ist erstaunlich sanft erzählt. Die gesellschaftlichen Normen werden hier einzig anhand der Personen erzählt. Es gibt anders als in „Die Vegetarierin“ keine Öffentlichkeit, die sich lauthals über die Charaktere und ihre Lebensentscheidungen empört. Von daher ist das, was du über die Bedürfnisse sagst sehr passend.

      Erziehung durch geschwächtes Selbstwertgefühl und Formbarkeit klingt so furchtbar, liegt aber wahrscheinlich wirklich an der Tagesordnung in manchen Teilen der Welt …

  2. Avatar von voidpointer
    voidpointer

    Schön ist das sicherlich nicht und ab einer gewissen Stufe wohl auch nicht mehr zielführend. Südkoreas rasante wirtschaftliche Entwicklung scheint mir aber ins Bild zu passen.
    Der Wunsch die eigene Unzulänglichkeit zu überwinden ist eine der stärksten Triebfedern. Die Möglichkeiten dies zu ka­ta­ly­sie­ren sind aber wohl ähnlich vielfältig wie die individuellen (bewussten) Unzulänglichkeiten.

  3. […] so das Problem, denke ich. Oder der Ton in dem viele der Bücher ostasiatischer Autor:innen von Kang, über Murakami bis Ogawa geschrieben sind, der sich (sicherlich subjektiv) von anderen […]

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