ausgelesen: Stephen King „tot.“ (Der Dunkle Turm #3)

Die Leute hatten Recht. Es reicht nicht den ersten Band der Dunkler-Turm-Reihe zu lesen, um einen Eindruck zu bekommen wie Rolands Welt ist und wie sich die Reihe anfühlt. Deswegen ist es ja eine Reihe. Wenn ihr mich fragt, darf man auch nicht den zweiten Teil als Referenz heranziehen. Man sollte noch den dritten lesen. Das ist tough, aber es lohnt sich. Leichte Spoiler zu Teil zwei lassen sich in dieser Besprechung nicht vermeiden. Trüben aber sicherlich aufgrund der bloßen Masse an Handlung nicht das Leseempfinden. Im dritten Teil erleben wir fast episodenhaft wie ein Ereignis auf dem Weg der schicksalhaften Gruppe zum nächsten führt. Roland, der Revolvermann wird inzwischen von Eddie Dean und Susannah begleitet. Roland bildet beide zu Revolvermännern bzw Susannah zu einer Revolverfrau aus. Die Umgebung macht das auch erforderlich. Gleich zu Beginn werden sie von einem monströsen Bären angegriffen, der sich beim zweiten Hinschauen als Maschine offenbart. Und seine bloße Anwesenheit gibt Roland ein paar Hinweise wie sie den dunklen Turm finden.

Paradoxe, Antennen, Rosen, Schlüssel

Der Weg zum dunklen Turm ist der rote Faden, der die Handlung zusammenhält. Die kann sich dieses Mal auch in ihren Episoden sehen lassen. Roland ist etwas weicher geworden, seitdem er mit Eddie und Susannah unterwegs ist. Er lässt sie sowohl an seiner Geschichte teil haben, klärt sie und uns ein wenig über die Welt und ihre Legenden auf und lässt uns sogar in seinen Kopf schauen. Denn seit der Begegnung mit Jack „dem Schubser“ Mort plagt Roland eine gewaltige Kopfnuss. Wenn er den Tod Jake Chambers mit seiner Handlung umgeschrieben hat, wie kann er dann Erinnerungen an Jake haben? Ist Jake nämlich nie gestorben, hat der Mann in Schwarz ihn auch nie in Rolands Welt geschafft und sie hätten sich nie getroffen. Nachdem Roland reinen Tisch gemacht hat, brauchen die Drei quälend lang um zu erkennen, dass sie es mit einem waschechten Paradox zutun haben. Man könnte meinen, dass sie nie Science-Fiction- oder Fantasy-Filme geschaut haben. 😉 Auf Susannah und Roland mag das zutreffen. Für Roland ist das eine Qual. Die Schuldgefühle die er aufgrund von Jakes einstigem Tod hatte, wiegen nun doppelt schwer. Schließlich muss er sich fragen, ob es nicht irgendwo einen lebendigen Jake gibt, der von Rolands Verrat sehr wohl weiß? Die Drei versuchen nun das erste Mal bewusst eine Tür zu dieser anderen Welt aufzustoßen, um das Paradox aufzulösen. Nicht einfach, denn bisher wurden ihnen die Türen stets von anderen geöffnet.

„Was, meinst du, empfindet man, wenn man weiß, dass man in der einen Welt tot ist und in der anderen noch am Leben?“ p. 101

Noch mehr als in den Vorgängerbänden werden beide Welten miteinander verknüpft. Es verdichtet sich immer mehr der Eindruck, dass Roland mit allen Mitteln Schlüssel aus beiden Welten, seiner und unserer, nehmen und mit Tricks und Kniffen so zurechtbiegen muss, dass sie ihm den Weg zum dunklen Turm eröffnen. Eine Welt allein bringt es nicht. Für den Leser höchst reizvoll. So findet sich in New York nicht nur ein Hinweis auf Rolands Welt und in Roland Welt findet man plötzlich ein Flugzeug mit einem Hakenkreuz. Auch spielt Technologie eine große Rolle. Nicht nur der Bär Shardik, der sich als Maschine outete, sondern auch die Stadt mit ihrem Geflecht aus verborgener Technik und erschreckend grausamer Intelligenz gibt der Geschichte eine andere Note. Sie macht die Welt plötzlich größer und vielfältiger. Der Mix im World Building ist äußerst willkommen und kann vielfältig gedeutet werden. Einerseits offenbart er nun nach zwei Bänden endlich voll in was für einer Welt Roland lebt. Wir betreten hier schließlich das erste Mal Städte, wo vorher nur Prärie war. Oder je nach Deutung wieviel Zeit und Leben vergangen sind seit Rolands Palaver mit dem Mann in Schwarz am Ende des ersten Bandes. Vielleicht haben sie eine ganze technische Revolution verschlafen? Stephen King geht außerdem in die Vollen und vermittelt nun umso mehr den Eindruck einer auf abstrusen Ritualen und Fehden basierenden, post-apokalyptischen Welt in der die skurrilen Charaktere zwei Lagern angehören (den Grauen oder den Pubes) und selber nicht mehr so genau wissen, warum sie sich bekriegen oder Menschen opfern. Ein kleiner Denkanstoß in punkto Sinnlosigkeit des Krieges. Inmitten all dessen finden sich krude Geschöpfe wie der von Computern besessene Ticktackmann („Ich will diese Computer! Ich will, dass sie für mich arbeiten!“ – wollen wir das nicht alle? 😉 ) – und natürlich unsere Helden.

„Wer ist dieser Mann namens Zen Buddhismus? Ist er so weise wie ich?“

Nicht nur Roland ist weicher geworden. Auch die ganze Geschichte. Hier gibt es keine sinnlosen männlichen Machtdemonstrationen Rolands mehr. Wenn es Gewaltexplosionen und Brutalität gibt, dann wirken sie jetzt wie ein Instrument: weniger willkürlich. Die Überschrift habe ich mir nicht ausgedacht. Nein, sie ist ein Zitat und offenbar jetzt Rolands Humor. Er wagt nun ab und zu auch mal einen Scherz und zeigt ansatzweise Gefühle. Er fürchtet, dass er seine Mitstreiter auf dem Weg zum dunklen Turm opfern muss. Und desto mehr Mitstreiter er bekommt, desto schwerer wird ihm das Herz. Es stößt gar ein schnell lieb gewonnenes „Haustier“ dazu. Nämlich ein „Billy Bumbler“. Das ist ein Waschbär-ähnliches Geschöpf, dass rudimentär sprechen kann und auf den Namen Oy getauft wird. Ein bisschen mehr Plüsch, ein bisschen mehr Humor – das macht die Geschichte zugänglicher. Fraglich ist aber, ob Fans des ersten Bandes hier auch noch beeindruckt sind?

Auf das Unterheben der verschiedenen Welten ist man seit dem zweiten Band wohl vorbereitet. Aber spätestens mit dem Einbringen von Technologie gibt King der Reihe eine andere Note. Legendenbildung, Natur und Mythen treffen hier auf Mechanik, Physik und künstliche Intelligenz. Die Welt wächst um einige Begriffe. Ka ist Schicksal, ein Ka-Tet ist eine durch das Schicksal verbundene Gruppe – in diesem Fall vielleicht wortwörtlich ein Quartett. Khef ist Gedankenübertragung. Und dann sind da noch die Balken. Eine Art Kraft, die unsichtbare die Umwelt formt und genau auf den dunklen Turm zielt. Man kann den Balken schemenhaft in der Umgebung erkennen, was im Buch für einen schönen Aha-Moment sorgt. Ich stelle mir das immer wie eine Art Magnetismus vor. Trotz des einerseits mythischen und schicksalhaften, hat die Welt viel rationales, kreiertes, geschmiedetes an sich. Aber immer mit einer grotesken Note, die sie letzten Endes von unserer abhebt. Man nehme nur die dem Wahnsinn und der Sucht verfallene Maschinen. Stichwort Blaine. Spätestens dann war ich angefixt. Ein intelligenter Zug, der nach Rätseln süchtig ist und mit unseren Helden ein tödliches Spiel eingeht. Das klingt abstrus, aber spannend. Und das ist es auch.

„Herzlich willkommen in der Fantasy-Version von Einer flog über das Kuckucksnest!“

Trotzdem ist das Buch nicht komplett gegen Bullshit gewappnet. Dann würde es sich auch erschreckend stark von den Vorgängerbänden absetzen. Ich denke da nur an das Opfer Susannahs sich von einem Dämon vergewaltigen zu lassen und anschließendem Beschluss, dass sie den Spieß umdreht und stattdessen den Dämon vergewaltigt. Ähm, was? Das könnte, wenn richtig geschrieben, ja wie ein Vergeltungsschlag daherkommen, aber dafür muss man das sehr gut feintunen. Was hier nicht gelingt. Stattdessen fragt man sich die ganze Zeit, wo währenddessen eigentlich Roland ist? Der müsste im Prinzip daneben stehen. Und was? Zugucken? Man weiß es nicht. Und das macht alles sehr plötzlich sehr unangenehm absurd. Manche Episoden wie die um die Rose und den Schlüssel wirken ansatzweise wie im Delirium oder Drogenrausch geschrieben. „Dann richtete er den Blick auf die Rose, und ihm wurde klar, dass sie der wahre Schlüssele war – der Schlüssel zu allem. Er kroch darauf zu, und sein Gesicht war eine flammende Korona aus Licht, die Augen lodernde Brunnen blauen Feuers.“ (p.213) Oder verkenne ich hier ein Genie? Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen, wenn man an Stephen Kings bewegte Lebensgeschichte denkt. Ein bisschen was von diesen Ausfällen ist also immer noch da. Ansonsten wirkt es aber deutlich so als ob Stephen King als Schriftsteller an seiner Reihe gewachsen ist.

tot. erschein neun Jahre nach dem ersten Band, Schwarz. Und die Handlung ist deutlich runder, aber auch ein bisschen mehr Mainstream und weniger gritty als der Anfang. Sie folgt einer Linie, die man als Leser deutlich klarer nachvollziehen kann als im ersten Band und verzichtet auf unausgegoren in die Länge gezogene Geschichten wie die Eddies im zweiten Band. Dabei verzichtet sie nicht auf die Weiterentwicklung der Figuren – man nehme allein Rolands weichere Seite oder auch Eddie, der lernt sich von den falschen Vorbildern seiner Kindheit zu emanzipieren. Das Buch verzichtet auch nicht auf Referenzen zu anderen Werken Kings und deutet ein ganzes, zusammenhängenedes Universum an (Stichwort Schildkröte), anders als in den Vorgängern wo nur Werke Kings als ebenso fiktionale Werke referenziert wurden. Er beginnt eine Mauer einzureißen, die wie ich aufgeschnappt habe, später noch deutlichere Formen annehmen wird. Neu sind die zahlreiche andere Literaturverweise, so beispielsweise auf Richard Adams Shardik, Shirley Jacksons The Lottery und auch J.R.R. Tolkiens Der Herr der Ringe. Und es zeichnet ein dichteres Bild der Welt, in der sich die Revolverhelden bewegen. Die Vergleiche zu Mordor kommen ab einem gewissen Punkt nicht von ungefähr und machen vieles verständlicher, was früher eher grotesk und „einfach nur roh“ wirkte. Während früher brutale Willkür nicht selten war, ist hier nun etwas Ursache und Wirkung zu erkennen. Susannah beispielsweise wird bewusst, dass sie noch nie jemanden umgebracht hat und erstarrt. Es wird mehrmals klar, dass die brutale Umgebung Brutalität fordert, um weiterleben zu können. Die Kunst der Revolvermänner ist die Brutalität mit Verstand einzusetzen und nicht vorschnell zu richten. Sie sind mehr als Schlachter, sie sind Richter. Endlich findet Stephen King in dieser Reihe eine Sprache, die ich eher verstehen kann. Und verstehen will. Nach nun inzwischen sovielen Seiten, drei Bänden kann ich sagen, dass ich das erste Mal wirklich mit der Geschichte des Revolvermanns angefixt bin und Lust habe mehr über diese Welt zu entschlüsseln. Und ähnlich wie Blaine will ich mehr Rätsel.

„Ich ziele nicht mit der Hand; wer mit der Hand zielt, hat das Angesicht seines Vaters vergessen.
Ich ziele mit dem Auge.
Ich schieße nicht mit der Hand; wer mit der Hand schießt; hat das Angesicht seines Vaters vergessen.
Ich schieße mit dem Verstand.
Ich töte nicht mit meiner Waffe; wer mit seiner Waffe tötet, hat das Angesicht seines Vaters vergessen.
Ich töte mit dem Herzen.“
p.8 ff.

Fazit

Wer auch immer behauptet hat man müsse mindest den zweiten Band lesen, da Stephen King dort erst warm wird – hört nicht drauf! Lest mindestens noch den Dritten.

Besprechung zu Teil 1 „Schwarz“
Besprechung zu Teil 2 „Drei“

Besprochene Ausgabe: ISBN 978-3-453-87558-6, Heyne Verlag

„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂

4 Antworten

  1. […] Zum dritten Band der Dunkler-Turm-Reihe schrieb ich „Endlich findet Stephen King in dieser Reihe eine Sprache, […]

  2. […] zu Teil 1 „Schwarz“ Besprechung zu Teil 2 „Drei“ Besprechung zu Teil 3 „tot.“ Besprechung zu Teil 4 […]

  3. […] zu Teil 1 „Schwarz“ Besprechung zu Teil 2 „Drei“ Besprechung zu Teil 3 „tot.“ Besprechung zu Teil 4 „Glas“ Besprechung zu Teil 5 […]

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