Lange bin ich um das Buch herumgeschlichen. Lange mit dem Gefühl „Es ist nicht für mich geschrieben.“ Und auch lange mit dem Gefühl: „Oder doch?“ Ich bin weiß. Aber wenn wir uns dem Diskurs entziehen, dann helfen wir dem Diskurs nicht. Der Titel sagt mir ja schließlich nicht, dass das Buch nicht für mich geschrieben ist oder dass ich es nicht lesen darf. Und Verunsicherung sollte niemals gewinnen gegenüber Gerechtigkeit. Und ich habe definitiv eine ganze Menge zum Nachdenken aus dem Buch mitgenommen.
Der Titel des Buches ist Reni Eddo-Lodges Meinung und auch der Aufhänger eines Blogartikels, den sie schrieb. Das Echo zu diesem Beitrag zog weite Kreise, wurde viel diskutiert und mündete dann einige Zeit später in diesem Buch, in dem die Autorin tiefer auf all das eingeht, weswegen sie für sich entschieden hat, nicht mehr mit Weißen über Hautfarbe zu sprechen. Obwohl Reni Eddo-Lodge das viel besser wiedergeben kann als ich und v.A. viel authentischer, versuche ich es so wie ich es verstanden habe wiederzugeben: es liegt am Weißen Privileg (White Privilege). Dieses Privileg spiegelt sich in der Selbstverständlichkeit Weiße als die Norm anzusehen und alles „andere“ gehört nicht in dieses Weltbild. Der Begriff beinhaltet auch, dass sich Weiße ihres Privilegs wegen dieser „Standardisierung“ nicht bewusst sind und gerade deswegen Diskriminierung klein reden oder verklären. Man schaue als Weiße*r auf die Welt durch einen Bias, der es einem unmöglich macht objektiv zu sein. Aus langjähriger Erfahrung damit haben viele BIPoC es aufgegeben mit Weißen über Hautfarbe zu sprechen wie auch Reni Eddo-Lodge an vielerlei Beispielen klar macht. Es kommt einfach nicht im Kopf derer an, die nicht betroffen sind.
Jetzt könnte man ketzerisch die Frage stellen: warum dann das Buch schreiben? Auch das erklärt sich in ihrem Buch. Ich verweise hier nur auf meinen Standpunkt aus der Einleitung. Nicht mehr Erklärbär im direkten Gespräch spielen zu wollen und sich der Ignoranz anderer auszusetzen ist nicht dasselbe wie zum öffentlichen Diskurs und der Aufklärung beizutragen. Auch den Aspekt, dass sich andere BIPoC gehört fühlen ist nicht zu vernachlässigen. Dieses große Gesamtbild zeichnet die Autorin als Schlussfolgerung des Buchs, das ich als Sachbuch und essayistischen Kommentar verstehe. Reni Eddo-Lodge beginnt dabei erstmal am Anfang. Nach einem Exkurs über ihren Blogpost und das Echo beginnt sie am Anfang. Ihre ersten Berührungspunkte mit der Geschichte von BIPoC in Großbritannien, wo sie lebt und geboren wurde, über ihre Studienzeit und das erste Mal, dass sie sich mit der Geschichte britischer Kolonialisierung beschäftigte. Hier hatte ich große Wissenslücken und war regelrecht froh, dass Reni Eddo-Lodge angibt bei Sklavenhandel auch zuerst an die USA als „das Negativbeispiel“ zu denken und auch selber nicht soviel über die britische Kolonialgeschichte wusste.
„Reni Eddo-Lodge: Why I’m No Longer Talking to White People About Race“, via Foyles (Youtube)
Hinzu gesellt sich ein Exkurs über die Behandlung von Soldaten der Kolonialstaaten, die für Großbritannien beispielsweise in den Weltkrieg gezogen sind und signifikant anders und schlechter als britische Soldaten behandelt wurden. Damit wirft Reni Eddo-Lodge Licht auf meine Wissenslücken und gibt auch ihre eigenen zu, die für sie zu einer Erweckung über ihr Leben als „Person of Color“ in Großbritannien führten. Zwangsläufig beginne auch ich mich mit der Geschichte meiner Heimat auseinanderzusetzen. Nicht das erste Mal, das ist ununmägnlich. Aber aus anderen Gesichtspunkten. Dachte ich doch bisher bei der Geschichte Deutschlands und Einwanderer in Deutschland in der Vergangenheit v.A. an Gastarbeiter und weiß wenigstens, dass die Behandlung derer auch keinesfalls rosig war.
Reni Eddo-Lodges Diskurs schreitet auf dem Zeitstrahl weiter voran und adressiert strukturellen Rassismus anhand konkreter Beispiele, die aktuelle Politik zur Zeit des Erscheinens ihres Buches, ihre Rolle und ihre Erfahrungen mit dem Diskurs und auch die Darstellung in den Medien und Resonanz der Gesellschaft auf beispielsweise eine farbige Hermine im Harry-Potter-Theaterstück. Wo wir wieder bei White Privilege wären: dadurch, dass Hermines Hautfarbe im Buch nie adressiert wird, könnte sie alles sein. Aber die Masse geht davon aus, dass Hermine weiß sein muss. Warum? Weil es das durch White Privilege geprägte Weltbild ist, dass eine Heldin weiß sein muss? Für mich ist das alles nachvollziehbar – habe ich mein White Privilege überwunden und schaffe es den Schleier zu senken und ohne Bias auf meine Umwelt zu blicken? Das bleibt zu beweisen.
Auch ich habe früher die Frage gestellt „Wo kommst du hier?“, die heute überall das Negativbeispiel für Mikro-Aggressionen ist. Auch ich habe es gut gemeint, war mir aber nicht bewusst, dass die Frage impliziert, dass jemand wegen seiner oder ihrer Hautfarbe „ja nicht von hier sein kann“. Doch, durchaus. Das weiß ich heute und immerhin auch vor der Lektüre von Reni Eddo-Lodges Buch. Aber auch bin gegen eine Wand gelaufen, in der ich mein Unverständnis und meine Verunsicherung bemerkt habe. Beispielsweise, wenn die Autorin verständlich macht, dass Schwarzer Feminismus nicht in einen Topf mit Feminismus geschmissen werden soll. Das sind zwei vollkommen andere Dinge und das eine hat nichts im anderen zu suchen. Das hat mich einigermaßen vor den Kopf gestoßen und ich habe lange darüber nachgedacht. Die Begründungen finden sich hier zum Einen in der Mehrfachdiskrminierung, die Schwarzer Feminismus adressiert, aber auch darin nicht beide Formen des Feminimus zu vermischen – White Privilege ändert den Umstand was und wie hier diskriminiert wird.
Auch der Ton, den Reni Eddo-Lodge anschlägt, klang für mich sehr kämpferisch und ungewohnt. Es gibt keine Option und ich bin automatisch davon ausgegangen, dass es die geben müsste. Das ist wohl White Privilege. Das ich denke, dass mir der Diskurs offen steht. Kein „Ich rede vielleicht doch mit Weißen darüber“. Kein „Vielleicht dürfen Weiße nicht mitreden“. Kein „nette Weiße dürfen mitreden“. Und das zeigt wohl schmerzlich: es geht hier nicht um dich, wenn du weiß bist. Das gehört zur Erkenntnis dazu. Es dreht sich einfach dieses eine Mal nicht um dich und nicht um mich. Ich wusste nicht mal, dass ich erwartet habe, dass es nicht doch ein bisschen um mich oder Weiße im Allgemein geht. Und die letzten Absätze von Reni Eddo-Lodges Roman klingen wie ein Aufruf zum Aufstehen, zum kämpfen. Für meine weißen Ohren klang das sehr frontal. Inzwischen habe ich das Gehörte sacken lassen und weiß: Das ist offenbar nötig.
Daraus ergibt sich für mich – eine uneingeschränkte Empfehlung für ihr Buch oder Hörbuch, um sich des eigenen Privilege bewusst zu werden, gehört zu fühlen, Bias zu erkennen und den Schleier zu lüften. Ich will aber auch nicht behaupten, dass das einfach ist. Aber wie so oft ist der Gang aus der eigenen Komfortzone heraus nicht nur lohnenswert, sondern zwingend notwendig um endlich an einen Punkt zu kommen, wo Gleichberechtigung kein Einhorn mehr ist, über dass alle gern reden, das aber niemand wirklich erlebt hat. Ich könnte die Frauenkarte ausspielen und von meinen Erfahrungen reden und wo ich diskriminiert wurde, aber hier geht es nicht darum.
Davon mal abgesehen ist das Hörbuch technisch einwandfrei umgesetzt und findet in Dela Dabulamanzi eine sehr sympathische, facettenreiche und empathische Sprecherin, der ich gern zugehört habe und die dankbarerweise selber eine Person of Color ist. Wer das bisher noch nicht hinterfragt hat, warum das bei Sprecher*innen wichtig oder interessant ist, denjenigen empfehle ich diesen Artikel (Deutschlandfunk nova) und naja, das Hören von „Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche“. 😉 Hier anbei noch ein Video und Song von Riz Ahmed, der in seinem Album The Long Goodbye auf Diskriminierung von BIPoC und strukturellen Rassismus eingeht und der sich allgemein stark für die Sensibilisierung in punkto Interkulturalität engagiert. „The Breakup“ stellt die Beziehung zwischen dem weißen Großbritannien („Britney“) und britischen BIPoC als eine toxische Beziehung dar. Lasst uns keine Britney sein.
„Riz Ahmed – The Breakup (Shikwa) [Official Video]“, via Riz Ahmed (Youtube)
Oft habe ich es versucht, manchmal habe ich vielleicht nicht den richtigen Ton getroffen. Ich empfehle euch die Lektüre von James Baldwin, diese Filme, die ich einst unter dem Begriff Black Lives Matter zusammengefasst habe, einige dieser Filme von Riz Ahmed und allgemein Bücher und Medien von BIPoC wie „Meine Schwester, die Serienmörderin“ (online ab dem 26.06.) zu lesen, zu verstehen, wahrzunehmen und dem Bias entgegen zu setzen. Sollte ich selber falsches oder widersinniges Wording benutzt haben, bitte klärt mich in den Kommentaren oder per Mail darüber sachlich auf. Kennt ihr Reni Eddo-Lodges Buch? Wie hat es euch gefallen? Was hat euch verblüfft? Wo habt ihr euch wiedererkannt? Welche Empfehlungen habt ihr für Lektüre zu dem Thema Gleichberechtigung und Interkulturalität? Oder von BIPoC-Autoren, egal ob Sachbuch oder Fiction irgendwelchen Genres?
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