ausgelesen: Kieron Gillen, Jamie McKelvie, Matt Wilson „The Wicked + The Divine“ (engl., Deluxe Hardcover)

Das war ein wilder Ritt. Der Comic The Wicked + The Divine (kurz: WickDiv) wurde von 2014 bis 2019 durch Image Comics im monatlichen Rhythmus veröffentlicht und bis 2020 nochmal als Deluxe-Hardcover-Ausgaben Book One bis Book Four. WickDiv beschreibt einen frischen und vor Allem sehr diversen Take auf Ruhm, Stardom, Fankultur und was es heißt im 21. Jahrhundert ein Gott oder eine Göttin zu sein. Denn hier werden alle neunzig Jahre Gottheiten in sterbliche Menschen wiedergeboren, die so zu großer Kraft gelangen – aber im Austausch dafür nur noch zwei Jahre leben.

„Every ninety years twelve gods return as young people.
They are loved. They are hated. In two years, they are all dead.
The year is [..]. It’s happening now. It’s happening again.“

Diese alle neunzig Jahre wiederkehrenden Zyklen werden Recurrence genannt und die Summe der insgesamt 12 Gottheiten, die alle neunzig Jahre wiederkehren, werden als Pantheon bezeichnet. Die Recurrences sind demzufolge ein öffentlich bekanntes Phänomen, das erforscht wird und die Nachrichten beherrscht. Im Jahr 2014 beginnt die Handlung und eine solche Recurrence ist bereits im Gang. Wir begleiten die Teenagerin Laura, die ein großer Fan einiger der Götter ist. Sie werden wie Stars gefeiert und geben große Konzerte, bei denen sie vor den Massen Wunder demonstrieren. Die Götter in WickDiv basieren deutlich erkennbar auf Popgrößen der Realität. Inanna beispielsweise auf Prince, Amaterasu auf Florence Welch von Florence + the Machine, Baal möglicherweise auf Kanye West und Lucifer auf David Bowie.

Laura geht auf ein Konzert von Amaterasu, dere Gesänge das Publikum in einen ekstatischen Zustand wiegen. Vor Allem will Laura aber Lucifer begegnen. Kaum, dass sich ihr Wunsch erfüllt, gibt es aber einen Anschlag auf die Götter, für den „Luci“ zur Verantwortung gezogen wird. Ab hier beginnt eine Abwärtsspirale, in der Laura die Schattenseiten der Berühmtheit und v.A. der Recurrence kennenlernt und immer wieder mit der Frage konfrontiert wird, ob sie ein Teil dessen sein will. Denn: noch sind nicht alle der 12 Gottheiten aufgetaucht. Im Panthenon ist noch Platz. Wer wird die nächste Reinkarnation sein?

„Just because you’re immortal, doesn’t mean you’re going to live forever.“

Die überweltlichen Fähigkeiten der Götter, der Ruhm und die Anbetung, sind offenbar so attraktiv, dass Laura wie viele andere trotz all dem zu ihnen gehören will. Es ist ein Hype um Göttlichkeit und Starrummel, dessen Parallelen auf der Hand liegen. Es ist einfach sich vorzustellen, dass Götter ähnlich gehyped würden, sollten sie in unserer Realität plötzlich auf Erden wandeln. Überall kann man T-Shirts und Merch kaufen. Fans campen Wochen vor den Konzerthallen, um einen guten Platz zu bekommen. Es gibt Themenparks! Der Dienst den Menschen gegenüber oder seine Fähigkeiten nützlich einzusetzen ist nicht Teil des göttlichen Plans der Autoren. Die zwei Jahre, die sie haben, nutzen die Götter lieber damit ihren Ruhm zu feiern und hell zu leuchten, bevor sie ausbrennen. Party hard. Die Metapher der Autoren ist damit überdeutlich, vielfabrig und stimmungsvoll umgesetzt, soviel steht fest. Die zwei Jahre der Gottheiten sind ein Rausch!

Ist das trotzdem attraktiv? An Laura und vielen anderen Personen wird demsontriert: sie geben es nicht gern zu, aber ja. Sie wollen dazu gehören. Selbst wenn sie damit ihr Leben auf zwei Jahre verkürzen. Sich göttlich fühlen, zu Großem fähig sein, einmal von übermenschlichen Fähigkeiten kosten hat eine nicht von der Hand zu weisende Anziehung. Wir können gern behaupten da drüber zu stehen. Aber wäre die Möglichkeit greifbar, was wäre dann? Einmal wissen wie das ist. WickDiv gelingt das Spiel damit ausgezeichnet. Die Götter werden zwischen ihren wilden Gelagen dementsprechend auch von einer Art Melancholie begleitet. Zu wissen, dass es bald vorbei ist, nagt an ihnen. Memento mein mori. Wäre WickDiv nur das, wäre die Lehre wohl recht bald (gelungen) erzählt. Tatsächlich entwickelt sich WickDiv aber zu einem waschechten, popkulturell-durchseuchten Krimi.

Godhood in all it’s g(l)ory

WickDiv ist nicht verlegen um Gore. Laura wird einige Köpfe explodieren sehen als sie in die Verschwörung innerhalb der Recurrence gezogen wird. Diesbezüglich sind die Cliffhanger schmerzhaft effektiv und ich war jedes Mal froh bald wieder weiterlesen zu können. Was den kreativen Köpfen aber leider nur mäßig gelingt ist die Regeln des Pantheon schlüssig zu vermittelt. Dank des Zitats oben kennt man zwar die grundlegenden Konzepte, hat aber im Laufe der Geschichte viele Fragen. Erinnern sich die Götter an frühere Recurrences? Gerade das wird sehr ungenügend beantwortet. Kehren immer wieder dieselben Götter zurück? Auch als es später ans Eingemachte geht, kommen mehr Fragen dazu als Antworten geliefert werden. Die Bedrohung durch „The Darkness“ beispielsweise kommt quasi aus dem Nichts. Auch werden nicht alle der Gottheiten so greifbar gemacht oder eindeutig geklärt. Natürlich lädt WickDiv ein, mal wenigstens Wikipedia zu öffnen und über uns unbekannte Gottheiten nachzulesen, aber der Comic klärt nie welche Gottheit beispielsweise Tara ist – die buddhistische, die polynesische, oder …?

Tara demonstriert die erzählerischen Lücken wie auch die erzählerischen Stärken des Comics am besten. Lange hatte ich keine Ahnung, wer sie ist. Man erfährt, dass sie zum Pantheon gehört, aber anders als die anderen wird sie von der Öffentlichkeit nicht besonders gefeiert und scheint auch bereits verstorben zu sein als wir Laura in Book One kennenlernen. Später korrigiert der Comic das durch einen Rückblick, der die Schattenseite des Ruhmes zeigt und die öffentliche Sexualisierung von insbesondere Frauen des öffentlichen Lebens. Tara hielt es nicht mehr aus. Hier wird klar: erzählerisch brilliert der Comic durch die sehr diversen und nahbaren Geschichten ihrer Charaktere. Viele der Götter waren früher Träumer, die ihr Potential nie zeigen konnten. Jetzt strahlen sie. Und zu welchem Preis?

Ein Konzept, wofür WickDiv zu recht gefeiert wird ist der Gedanke, dass Schubladen keine Rolle spielen. Dadurch, dass die Götter total unabhängig von Geschlecht, Ethnie, Klasse oder sonstigen Labels in Körpern Sterblicher wiedergeboren werden, hebt sie Schubladendenken auf. Luci(fer) wird beispielsweise in den Körper von Eleanor hineingeboren, während Luci früher auch mal in Männerkörpern wiederkehrte. Für sie ist das überhaupt kein Thema. Entsprechend ist es den Göttern egal, mit wem sie schlafen und leben damit eine gegenseitige Akzeptanz vor, die tatsächlich wünschenswert ist und WickDiv eine große Fangemeinde sichert. Außerdem sind Kieron Gillen und Jamie McKelvie sehr gut darin dem Pantheon ganz viel Swag auf den Leib zu schreiben und zu zeichnen. Auch ich wurde Fan von ihnen allen beim Lesen, egal wie verschenkt ich es finde, dass sie mit ihren zwei Jahren nicht versucht haben größere Dinge zu vollbringen als Konzerte zu geben.

Deluxe-Band, gottesgleich?

Schaut man sich die Hardcover-Deluxe-Ausgabe an, ist die definitiv götterwürdig. Die Ausgaben sind großformatig, haben 400 Seiten und der letzte Band tanzt sogar mit 760 Seiten verteilt auf zwei Bücher aus der Reihe. Book Four kommt nämlich zusätzlich noch mit einem dünneren Buch, das sogenannte „Funnies“ enthält, die sich nach Ende der Reihe die einen oder anderen Scherze erlauben und die Geschichte run um den Pantheon persiflieren. Aber es bleibt auch Platz für bisher unerzählte Episoden, die sich v.A. um die Beziehungen der Götter und Göttinnen untereinander widmen, beispielsweise wie Baal und Inanna zusammen kamen, unvm. Optisch machen die Hardcover schon alleine wegen des abgebildeten Pantheons was her, der auch zu Kapitelanfängen wiederholt abgebildet wird. Der illustre Kreis mit je einem Symbol pro Gottheit gibt übrigens auch den Status wider. Stirbt eine der Gottheiten, steht dort stattdessen ein Totenschädel. Als Lucifer mal eingesperrt wird, erscheint ihr Symbol „hinter Gittern“. Coole Idee.

Überhaupt sind sich Kieron Gillen, Jamie McKelvie und Matt Wilson der vielen Möglichkeiten der Recurrence bewusst. So gibt es auch Einblicke in die Recurrence der Frühzeit, der Zwanzigerjahre oder zu Zeiten der Pest. Mit interessanten, weiteren Interpretationen der Götter. WickDiv lebt Diversität auch in den einzelnen Kapitel. In Book Three sind mal einige als textlastige Interviews mit den Göttern angelegt. In Book Two und den Funnies gibt es Ausgaben, die von anderen Zeichner*innen inszeniert wurden. Mit durchwachsenem Erfolg – es können zwangsläufig nicht alle gefallen.

Überhaupt ist der Zeichenstil ein großes Thema. Wie ich schon mal in Das ComicGraphic-Novel-Dilemma schrieb, hat visuelles Storytelling wie in Comic und Manga es soviel schwerer als ein Roman in Schriftform. Gefällt der Zeichenstil nicht, ist das schnell das K.O.-Kriterium einer großartigen Geschichte. Und WickDiv ist klasse. WickDiv ist wild und rebellisch, divers und bunt. Der Zeichenstil des zum überwiegenden Großteil digital gestalteten Comic ist das alles – aber mehr ab dem dritten und vierten Buch und in Schlüsselszenen. Die einfachen Abschnitte in denen der Comic die Handlung vorantreibt ist zu sehr voller statischer, einfallsloser Panels. Viele Köpfe und dazwischen Text, Totalen und Frontalansichten auf Köpfe, da ginge doch noch mehr. Manchmal sogar ein Raster aus immergleichen Panels, das versucht den Stimmungswechsel in den Panels abzubilden, ein und dieselbe Person, bisschen wechselnde Mimik. Die Intention mag klar sein, trotzdem wirkt das verglichen zu den meisterlich umgesetzten Schlüsselszenen dann leider zu einfach. Mehr Bewegung und die Figuren in ihrer Umwelt zu zeigen, mehr Hintergründe in den Panels hätten dem Comic gut getan. Dabei ist das an echte Berühmtheiten angelehnte Character Design meisterlich und die Mimik der Charaktere sehr lebendig. Die nachfolgende Galerie zeigt wechselnde Zeichner aus Book 4 + Anhang und den schon gereifteren, sehr schönen Stil der späteren Kapitel.

Als ich anfing die Reihe zu sammeln, waren noch alle Bände uneingeschränkt verfügbar und hatten für meinen Geschmack relativ teure Preise, wenn auch für Comic-Deluxe-Sammlerausgaben übliche um die 30-40€. Inzwischen ist es zu diesen Preisen nur noch digital erhältlich. Die Hardcover-Ausgaben lässt man sich inzwischen ganz schön was kosten. Sicherlich lässt sich aber recherchieren, ob es weitere Auflagen geben wird. Es ist nur eine Frage der Zeit bis WickDiv verfilmt wird, ich würde wetten wir sehen uns wieder. 2015 erwarb Universal TV wohl schon die Rechte (Quelle). Trotz der großen Nähe zu bereits bestehenden Formaten wie American Gods kann ich mir das lebhaft vorstellen.

Fazit

Sehr zeitgeistiger und diverser Take auf „Götterstatus“, Idole, Ikonen und Fandom

Besprochene Ausgabe: ISBN 978-1-63215-728-7 (Book One), ISBN 978-1-53430-220-4 (Book Two), ISBN 978-1-53430-857-2 (Book Three), ISBN 978-1-53431-358-3 (Book Four), Image Comics

Einzelbesprechungen der Bände findet ihr im Blog unter: Book One, Book Two, Book Three. Letztere enthalten Spoiler.

„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂

2 Antworten

  1. Wow, eine tolle Ausgabe! Ich habe einige wenige Trades und mit der Serie noch nicht begonnen. Aber die Optik ist schon ein Knaller, mal sehen, wann ich endlich dazu komme. Von Gillon habe ich mir gerade frisch DieDieDie bestellt, und ich fürchte, das werde ich sogar vorher lesen.

    Danke für deine Vorstellung und intensive Beschäftigung mit der Reihe.
    LG
    Sandra

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Ach ja, bei dem checke ich immer die Schreibweise nicht. Mal lese ich Die!Die!Die! und mal nur DIE. Ich fands schon mal cool, dass es eine andere Zeichnerin ist, weil ich mit McKelvies Stil nicht immer so zurecht kam (wobei der sehr wächst und am Ende echt cool ist). Aber ich warte auf deine Einschätzung 😉
      Ebenso liebe Grüße

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