Neil Gaiman ist für mich seit Jahren ein Begleiter, den ich nicht missen möchte. Auch wenn seine Geschichten sehr zuverlässig nur so in 50% der Fälle bei mir zünden. Manchmal schätze ich ihn für seine Literatur, manchmal seine Ideen. Manchmal mehr für die Verfilmungen seiner Stoffe wie jüngst Sandman. Manchmal will ich gar nicht aufhören zu lesen wie nach American Gods. Manchmal brauche ich ein kleines Päuschen wie nach Niemalsland. Und in einigen Fällen ist nicht er allein es, der begeistert wie bei Good Omens. Gaiman ist überall. Und das ist auch gut so. Besonders schätze ich an seinem „Gesamtwerk“ die stets menschlichen, seltsamen, teilweise wunderlichen oder innerlich zerrissenen Charaktere. Oftmals sind sie kein klassisches Heldenmaterial und mir gerade deswegen so sympathisch. Dass ich Zerbrechliche Dinge überhaupt las ist übrigens Leser:innen des Blogs zu verdanken, die mir nach meiner Besprechung von A Study in Emerald erzählten, dass die dort als Comic umgesetzte und illustriert Geschichte auch Teil dieser Sammlung wäre. Na wenn mir die „Study in Emerald“ schon so gut gefällt, was erwartet mich dann noch in dem Band?
Eine ganze Menge. Aber soviel kann ich auch vorwegnehmen. Ähnlich wie ich Gaimans Geschichten schon immer wahrnahm, verhält es sich auch mit dem Kurzgeschichtenband für mich. Es ist für mich als Leserin hit & miss. Das meiste lässt Genie erkennen, aber es fehlt für meinen Geschmack oftmals an einem runden Ende oder einer weniger zaghaft, angedeuteten Botschaft. Trotzdem konnte ich Zerbrechliche Dinge kaum weg legen und es war eines der Bücher, die ich dieses Jahr bisher wohl am schnellsten ausgelesen habe. Wegen der schieren Neugier was einen auf den nächsten Seiten erwartet. Die Sammlung enthält 14 Geschichten, beginnend mit Kies auf der Straße der Erinnerung. Ich schrieb darüber in meine Notizen ein uncharmantes, aber wahres „werde ich bestimmt sehr bald vergessen haben“. Das ist tatsächlich so. Es ist eine sehr kurze Geistergeschichte, der irgendwie die Pointe fehlt. Darauf folgt ein Text mit dem klingenden Namen Verbotene Bräute gesichtsloser Sklaven im geheimen Haus der Nacht grausiger Gelüste, den ich mir schon mal fast als Comic gekauft hätte. Neil Gaiman lässt sich scheinbar gut adaptieren. 🙂 Am Anfang habe ich die Geschichte um einen Autoren, der mit dem Schreiben hadert als irgendwie krude wahrgenommen. Als man dann versteht wo die Reise hingeht, ist sie absolut genial und ein Denkzettel für alle, die meinen, dass nur trockene, humorlose Dramen gute Literatur ausmachen. Und eine Ode an Fantasy und Gothic Horror Tales.
„Soweit ich weiß, wird Humor heutzutage in gewissen Kreisen sehr geschätzt, Sir.“ p.22 (in: „Verbotene Bräute gesichtsloser Sklaven im geheimen Haus der Nacht grausiger Gelüste“)
Bitterer Kaffeesatz ist eine gut geschriebene, melancholische Kurzgeschichte über einen Mann, der einfach losfährt um einer bedrückenden Tatsache zu entkommen. Den Twist können aufmerksame Lesende eigentlich sehr früh erahnen. Den entscheidenden Hinweis habe ich aber als Metapher interpretiert und war dann am Ende einigermaßen überrascht. Manchmal ist es wohl angebracht das Gesagte auch mal wörtlich zu nehmen. Die Sache mit den darin erwähnten Kaffee verkaufenden Zombiemädchen hätte man irgendwie noch mehr ausbauen müssen, damit sie Wirkung hat. Gustav hat den Frack an hat wie viele der Geschichten angenehm unperfekte Protagonist:innen. Dieses Mal einen, der Kontrabass lernen will. Auch hier ist die Geschichte gefühlt vorbei, bevor die Pointe so richtig auserzählt ist. Wie man auf Partys Mädchen anspricht fand ich herrlich schräg und hat zu Recht 2007 den Hugo Award für die beste Kurzgeschichte bekommen. Ich bin mir nicht sicher, ob der Protagonist hier es nochmal probiert. 🙂 Eine Studie in Smaragdgrün ist eine fantastische Sherlock-Holmes-Lovecraft-Fan-Fiction und so gut wie auch die spätere Adaption als Comic. Ich liebe das Neil Gaiman sich nicht zu schade ist zu sagen: Jupp, ich habe eine Fan-Fiction geschrieben. Warum auch nicht?
„Nach ein paar Stunden auf der Autobahn klingelte mein Handy. Ich kurbelte das Fenster auf und warf das Handy hinaus. Dabei fragte ich mich, wer es wohl finden würde und ob er oder sie den Anruf entgegennehmen und sich in meinem Leben wiederfinden würde.“ p.40 (in: „Bitterer Kaffeesatz“)
Die wahren Umstände im Fall des Verschwindens von Miss Finch ist wohl die Geschichte eines Zirkusbesuchs, der einigermaßen schief geht. War interessant und bietet wenn man will viel Diskussionsstoff. Aber dieses stets abrupte Ende zehrt von der Pointe – ein wiederkehrendes Erlebnis in dem Sammelband. Vielleicht sind die Ideen Gaimans schon mein Fall, aber nicht wieviel ich am Ende selber reininterpretieren oder zusammenpuzzeln muss. Sonnenvogel ist wohl eine im Stile R. A. Laffertys geschriebene Kurzgeschichte und zeitgleich Geburtstagsgeschenk für Gaimans Tochter. Hier wuseln viele herrlich schräge Charaktere mit Namen wie Augustus TwoFeathers McCoy umher, nennen sich Epikuräer und frönen des Genusses. Echte Foodys sind das. Komme was wolle – sie sind wirklich bereit dafür alles zu geben. Wie in den meisten Kurzgeschichten werden wir relativ unkommentiert in ein Setting geworfen, von dem anfangs komplett unklar ist, wieviel hier realistisch und wieviel Fantasy ist. Dass das so schwer trennbar ist wie in Sonnenvogel hat man selten und das macht es unübersichtlich, aber interessant. Von den Charakteren und ihren Abenteuern hätte ich gern mehr gelesen.
„Er zündete das Streichholz an und hielt es an die Oberfläche der Flüssigkeit, die mit flackernder Flamme zu brennen begann. Das Streichholz aß er. dann gurgelte er mit der brennenden Flüssigkeit und blies eine kurze Flamme in die Luft, wobei eine Zeitung in Brand geriet, die gerade vorbeigeweht wurde.“ p.175 (in: „Sonnenvogel“)
Fressen und gefressen werden ist eine Geschichte, die durchaus unter Horror zu verbuchen ist und sich langsam, aber schaurig entwickelt. Sie handelt von einem Mann, der einen alten Bekannten trifft, der furchtbar aussieht. Als er ihn anspricht, erzählt er ihm seine Geschichte. Ich kannte die Pointe schon, weil ich sie ebenfalls aus einer Comicadaption in der Sammlung Likely Stories kenne. Ich mochte die Likely Stories Comics nur mäßig, weil der Zeichenstil nicht mein Ding war. Daher würde ich in dem Fall eher die Kurzgeschichte empfehlen. Seltsam ist nur der letzte Absatz, der mit der ganzen Geschichte so wenig zutun zu haben scheint und irgendwie im Nichts verpufft. Schon seltsam, dass es hier am Ende mal zu viel statt zu wenig ist.
Die fünftletzte Geschichte Virusproduzentenkrupp hat eine sehr spannende Idee zum Ansatz des Erzählens aus der ersten Person. 😉 Außerdem ist sie sehr kurz und kurzweilig. Es ist ok sie nicht während der Hochphase von Lockdowns und Corona-Pandemie gelesen zu haben. Auch ohne es zu wissen, hätte ich die Geschichte Goliath im Matrix-Universum angesiedelt und so ist sie wohl tatsächlich angedacht. Dafür war sie kurz und gut. Oktober hat den Vorsitz war cool, aber die Geschichte in der Geschichte schmerzhaft unvollständig. Ein paar „Entitäten“ erzählen sich hier (Schauer)Geschichten. Allerdings hatte ich auch die ganze Zeit das Gefühl was verpasst zu haben. Offenbar ist das auch so, denn die Recherche zeigt, dass es mit Gaimans The Graveyard Book in Zusammenhang steht. Die vorletzte Geschichte Der Herr des Tals ist eine Geschichte um den Halbgott Shadow Moon, die nach American Gods spielt und die ich sehr cool fand. Wer nicht mit dem American-Gods-Universum vertraut ist, wird es wohl so gehen wie mir mit Oktober hat den Vorsitz und muss ein bisschen verwirrt sein. Die letzte Geschichte der Sammlung trägt den Titel Am Ende, handelt aber eigentlich von dem Anfang von allem. Kurz, aber hat einige Pointen, die mir gefallen haben.
Wie kann das Fazit ausfallen? Erwartungsgemäß durchwachsen. Es wird wohl niemand alle Geschichten und Universen kennen, die Neil Gaiman in der Fülle der Texte aufgreift und so bleiben zwangsläufig hier und da Fragezeichen. Am besten lebt man mit dem Kurzgeschichtenband, wenn man einfach alles annimmt wie es ist und versucht sich einfach drauf einzulassen, in den Ideen zu versinken. Denn in den ständig wechselnden Settings und Stimmung zwischen schaurig, verrückt, morbide, witzig beweist Zerbrechliche Dinge in Summe, was für ein sprudelnder Quell an Ideen Gaiman ist. Nicht selten auch mal etwas subversiv. Obwohl mir immer irgendwas fehlte wie mehr Text, mehr Erklärung, mehr Pointe, fand ich den Band insgesamt sehr lesenswert und einige der Geschichten schlicht genial wie Verbotene Bräute gesichtsloser Sklaven im geheimen Haus der Nacht grausiger Gelüste. Kurz ist mir mal unangenehm aufgefallen, dass so ziemlich alle Protagonisten männlich sind und ich mich überkam mal das Gefühl, dass die Geschichten nicht für mich als Frau geschrieben sind. Es wäre hier und da eigentlich sehr einfach gewesen das Geschlecht des Erzählers rauszulassen. Mich würde interessieren wie Gaiman darüber denkt. Kann ein männlicher Autor nur glaubwürdige männliche Protagonisten schreiben? Das gibt vermutlich eine längere Debatte, die ich hier nicht aufmachen will.
Eine andere Auffälligkeit fiel mir gleich beim Aufschlagen des Buches auf. Relativ zu Beginn der Klett Cotta Ausgabe hat mich der Satz „Diese deutschsprachige Ausgabe wurde gegenüber der amerikanischen Originalausgabe neu zusammengestellt“ neugierig gemacht. Der Blick zu Wikipedias Artikel über die US-Ausgabe Fragile Things war für den Vergleich sehr hilfreich und auch etwas deprimierend. Schließlich legt der Artikel offen, dass die deutsche Ausgabe aus 14 Kurzgeschichten besteht, während die Originalausgabe 32 Texte beinhaltet. Darunter auch Gedichte und anzunehmen einige sehr kurze Texte. Was könnten die Gründe für das Eindampfen auf 14 sein – lizenzrechtliche? Nun kann ich nicht vermissen, was ich nicht kenne. Aber ich hätte durchaus auch die Variante mit über 30 Texten genommen, auch wenn mein Erinnerungsvermögen schon mit den 14 hier zutun hatte.
Fazit
Typisch Kurzgeschichtensammlung werden nie alle jeden begeistern, aber so oder so sind sie ein übersprudelnder Quell an wahnsinnigen Ideen, morbide, witzig, manchmal schaurig.
Besprochene Ausgabe: ISBN 9783608938760, Klett Cotta
„Meine Herren, überlegen sie doch einmal: Natürlich haben die Ägypter Bierdosen hergestellt; wie sonst hätten sie ihr Bier aufbewahren sollen?“ p.180 (in: „Sonnenvogel“)
„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂
Schreibe einen Kommentar