ausgelesen: Hanya Yanagihara „Das Volk der Bäume“

Das dritte Türchen des „Booleantskalenders“ ist nicht unbedingt sehr weihnachtlich oder heimelig, das gebe ich zu. Dass ich es trotzdem bespreche liegt vorrangig daran, dass ich es gerade erst gelesen habe, die Erinnerungen noch frisch und das Diskussionspotential hoch ist. Es ist mal Zeit für eine Trigger- bzw Content Warnung. TW/CW für Pädophilie, Mysogynie, Tiermord – hier zwar „mild“. Im Buch? Auch. In sparsamen Dosen, aber dafür in heftigen, kurzen Passagen. Ursprünglich nahm ich mir Hanya Yanagiharas Das Volk der Bäume vor, weil es von einem Wissenschaftler handelt, der die Unsterblichkeit entdeckt. Einerseits ein ausgetretenes Motiv, das scheinbar zu Ende erzählt ist, finde ich die Idee faszinierend es aus wissenschaftlicher Perspektive betrachtet zu sehen. Die Kritiken zu Yanagiharas Buch haben aber auch keinen Zweifel daran gelassen, mit welchem Thema man sich hier außerdem abfinden muss. Denn ein anderes Motiv ist auch die Pädophilie des besagten Entdeckers und Forschers.

Alles hat einen Preis

Das Buch beginnt unmissverständlich mit Berichten über die Vorwürfe gegen den Wissenschaftler Dr. Norton Perina. Von sexuellem Missbrauch ist die Rede. Im nächsten Bericht geht es bereits um seine Verurteilung und Inhaftierung. Gefolgt von einem Nachwort des (fiktiven) Herausgebers der nachfolgenden Seiten: Ronald Kubodera, ein Freund Norton Perinas. In höchsten Tönen lobt er ihn, haltlos seien die Vorwürfe. Für manche mag es antiklimaktisch sein und man sich fragen: muss ich jetzt noch weiterlesen? Aber an und für sich ist es auch ein guter Teaser. Wir haben schließlich nebenbei auch erfahren, dass er als Entdecker der Unsterblichkeit gilt und einen Nobelpreis empfangen hat. Wie passt das eine und das andere zusammen? Einerseits ein genialer Geist, andererseits anderen solches Leid zufügen? Und woher kommt Kuboderas felsenfeste Überzeugung, dass Norton ein unverstandenes Genie ist, das zu Unrecht fallen gelassen wurde?

Ich las also weiter. Was Kubodera hier als Herausgeber ziert ist die Autobiografie Nortons, der sie aus dem Gefängnis heraus schrieb. Er blickt zurück auf sein Leben, beginnend in seiner Kindheit mit seinem Zwillingsbruder Owen, seinem Studium der Medizin und der späteren Forschungsreise in einen mikronesischen Staat und dort genauer auf die (fiktive) Insel Ivu’ivu. Begleitet von Kuboderas Fußnoten erfahren wir wie Norton und seine Wissenschaftler-Kollegen Paul Tallent und Esme Duff dort einen versteckten Stamm Einheimischer finden und feststellen, dass die Legende über scheinbar unsterbliche Einheimische nicht von Ungefähr kommt. Tatsächlich entdecken sie nach einigen Ungereimtheiten, dass einige der Ivu’ivuaner ein vielfaches älter sind als die Bevölkerung durchschnittlich. Was folgt ist eine bahnbrechende Entdeckung, das Haifischbecken Forschung, Ausbeutung und der langsame Ruin sowohl der Inselstaaten als auch Nortons.

„Gibt es Manu’eke wirklich?“ […]
„Das weiß niemand […] Die älteren U’ivuaner schwören natürlich, dass es ihn gibt. Aber niemand weiß, wo er leben soll […] Die einzige Konstante ist, dass er in diesen Geschichten nie stirbt – mal verschwindet er, mal verwandelt er sich, aber niemand behauptet, er hätte ihn sterben sehen.“
p.128

„Da war ich also, Wissenschaftler (mutmaßlich), Arzt (angeblich) und Kollege (bedauerlicherweise) zweier Menschen, die überzeugt waren, dass ein Mann, der aussah wie 65, in Wahrheit 131 Jahre alt war.“ p.188

(A)moralischer Voyeurismus

Norton ist garstig. Yanagihara gibt sich alle Mühe ihn so zu kennzeichnen (man nehme nur: „Am Töten der Mäuse hatte ich ziemliche Freude.“ p.74). Auch ist er frauenfeindlich. Für seine eigene Mutter hat er nur Verachtung übrig, genauso wie für seine spätere Kollegin Esme Duff. Seine Mutter beschreibt er als einfältig, gedankenlos und dumm, von Esme ist er geradezu abgestoßen. Manche von Nortons Kommentaren über Esme waren so ekelerregend misogyn, dass ich kurz versucht war sie hier zu zitieren, um meiner Empörung Luft zu machen. Nun, da sich das Feuer gelegt hat, erspare ich uns das. Er ist außerdem arrogant, lobt seine Biografen, v.A. wenn diese lediglich positiv über ihn schrieben. Es ist einfach ihn zu hassen. Ist das nicht zu einfach? Jemanden hassenswert zu charakterisieren, der etwas hassenswertes getan hat? Dann beginnt das Buch aber erst richtig und lässt uns dankbarerweise an anderen Dingen teilhaben als nur Nortons herablassendem Blick auf seine Mitmenschen.

Wir sind in Ivu’ivu, erleben Flora und Fauna, die uns teils vollkommen unbekannt sind. Es ist eskapistisch, es ist grün, es ist wunderbar. Ich spüre förmlich die hohe Luftfeuchtigkeit auf der Wange. Alles ist ein Rätsel. Ich bin Entdeckerin an der Seite Nortons, Tallents und Esmes. Nortons Kollegen sind Anthropologen und erkunden die Kultur mit ihren eigenen Methoden. Wie sie mit den Eingeborenen umgehen und wie sie sich erklären, warum manche Rituale anders sind als in unserer Gesellschaft war spannend zu lesen. Wie sie das Alter der scheinbar Unsterblichen ermittelten und versuchten hinter das Geheimnis der Unsterblichkeit zu kommen, war eine faszinierende Spurensuche. Es war leicht Norton und die Vorwürfe gegen ihn zu vergessen. Auch als er aus Ivu’ivu abreist, die beobachtete Unsterblichkeit erforscht und begründet. Er wird einem geradezu menschlich und nahbar, als der Ruhm ihn umstritten und einsam macht. Vom Bruder entfremdet, väterliche Gefühle laufen ins Leere, Beziehungen und Freundschaften bleiben aus. Man hat sogar Mitleid mit ihm als jede seiner Erkenntnisse langsam zerstört, was für Norton so große Bedeutung bekam – die Insel. Langsam lullt diese faszinierende Geschichte in der Geschichte uns ein und ich habe mich irgendwann gefragt: ist an den Vorwürfen vielleicht gar nichts dran?

„Ich stellte fest, dass ich das Dorf bei all seiner Schlichtheit bewunderte. […], dass das Leben auf das Wesentliche reduziert und dennoch für alle Annehmlichkeiten gesorgt war. Wie viele Gesellschaften können das von sich behaupten, dass sie erkannt haben, was sie wirklich brauchen, und dafür vollständig vorgesorgt haben?“ p.205

Und doch lugt zwischen all dem mein Voyeurismus durch. Das kann ja noch nicht alles gewesen sein, oder? Man hätte ihn nicht verurteilt, wenn es keine Beweise gäbe. Wann verrät er sich? Wann schimmert durch, was er gemacht hat? Und ich fühle mich schlecht. Während des Lesens von Das Volk der Bäume empfand ich wieder ein sehr ähnliches Gefühl von Scham und Spannung wie ich es bereits während der Lektüre von Ein wenig Leben empfand. Ist es ok darauf zu warten, dass sich Norton eben doch als schuldig erweist? Auch wenn das bedeutet, dass Kindern etwas schreckliches passiert? Worauf warte ich da eigentlich? Düstere Stoffe lese ich nicht selten. Früher oder später vergeht der Anflug von Lesescham und ich habe gelernt es als „gutes Zeichen“ zu sehen, dass er da war. Was hätten wir alle davon, wenn die Wahrheit nicht ans Licht kommt? Kurze Zeit dachte ich auch, dass das Buch einfach endet und wir aus uns selber heraus entscheiden müssen, ob Norton schuldig sein kann.

Die zentrale Frage: Ein oder zwei unzuverlässige Erzähler?

Hätte das Buch ohne ein eindeutiges Ja oder Nein der Schuldfrage geendet, hätte ich mich gefragt, ob Kubodera in seinen Fußnoten + Vorwort ein unzuverlässiger Erzähler wäre. Und Norton ein eben solcher, der in seiner „Biografie“ zwar nicht seine eigene Garstigkeit verschweigt, aber seine Verbrechen. Zwei unzuverlässige Erzähler, die sich gegenseitig verdient haben? Aber Yanagihara bleibt die Schuldfrage nicht schuldig. Letzten Endes ist nur einer der beiden unzuverlässig. Was Yanagihara hier meisterlicher beherrscht als in ihrem Roman Ein wenig Leben: aufrüttelnde Szenen sind selten, kurz und prägnant. Es gibt kein seitenweises Leid. Das vor Allem aber auch deswegen, weil wenige Zeilen schon reichen. Sie erzeugen dieses ungute Gefühl eines sinkenden Steins im Magen, wenn man gefunden hat, wonach man gesucht hat. Yanagihara hat die Kontrolle. Sie schafft es uns entdecken zu lassen, was wir entdecken sollen, wann wir es entdecken sollen. Insofern hat sie ihre Kunst vielleicht perfektioniert. Aber vieles wirkt immer noch sehr gewollt. Das antiklimaktische Voransetzen des drohenden Unheils, der unsympathische Täter, der Schrecken bis zur letzten Minute, das Triggern von Empörung. Meisterlich ist aber auch wie akribisch sie davon ablenkt und das Schema zu Ende denkt. Was würde passieren, wenn jemand einen Weg findet quasi unsterblich zu werden? Was würde das in Wissenschaft, Gesellschaft und Wirtschaft bewegen? Wie schon zuvor in Ein wenig Leben kann ich nicht beantworten, ob das alles unheimlich clever ist oder einfach zu viele Köder mit Torture Porn beinhaltet. Vermutlich beides.

Was ich dieses Mal nicht so empfunden habe wie bei Ein wenig Leben: ich habe nicht so viele Lehren für das Leben daraus gezogen. Was ich stattdessen gewonnen habe: Empörung. Vielleicht ist geneigten Blog-Lesenden aufgefallen, dass ich ab und zu angegeben habe, was an dem Buch fiktiv ist. Die Insel beispielsweise. Norton ist allerdings nicht fiktiv und ich wusste das vorher aus einem Interview Yanagiharas. Sie formte „Norton“ und die Geschehnisse nach einem realen Wissenschaftler anderen Namens. Nach dem Lesen wollte ich nun wissen, auf wessen Leben das Buch basiert. Tatsächlich wäre ich nicht böse das erfahrene vergessen zu machen. Zumal wie sich herausstellte ich schon zig Male über die Errungenschaften der Person gelesen habe, von seinen Vergehen aber keine Ahnung hatte. Habt ihr starke Nerven, dann findet ihr im (übrigens ausgezeichneten Wissenschaftsblog) Raptorlab was ihr sucht: The weird, true story behind ‘The People in the Trees’.

„Wusste ich, was als nächstes geschehen würde? Wahrscheinlich schon.“ p.221

Fazit

Faszinierende aber auch formelhafte Geschichte über eine bahnbrechende Entdeckung, allerdings auch mit dem verstörenden Psychogramm eines Menschen und seiner Taten, die leider nicht so fiktiv sind wie der Rest

Besprochene Ausgabe: ISBN 978-3-446-26202-7, Hanser Verlag

„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂

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