ausgelesen: Kazuo Ishiguro „Klara und die Sonne“

Neulich ging ich mein Bücherregal durch. Ich versuchte mich zu entscheiden, welche Bücher bleiben, welche ihr nächstes Leben bei anderen glücklichen Leser:innen leben dürfen. Da fiel mir Klara und die Sonne in die Hand. „Der erste Gedanke ist immer der Richtige“ hat meine Oma früher gesagt. Klara muss also gehen. Ich hatte aber noch Fähnchen in dem Buch. Als ich die so durchging und eigentlich alle Passagen so diskutierenswert empfand, fragte ich mich: warum nochmal wollte ich Klara und die Sonne loswerden!?

Der Roman erschien 2021 und war eines der Bücher auf das ich in dem Jahr wohl am gespanntesten war. Kazuo Ishiguro wurde 2017 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet und ich hatte das erste Mal das „Hey, den kenne ich auch!“-Gefühl. Beschwingt davon, dass auch mal Literatur, die ich lese, den Preis wert war, wartete ich auf seinen nächsten Roman. In dem folgen wir erstmal Klara, einer Künstlichen Freundin (KF). Tagtäglich sitzt sie in einem Schaufenster oder an anderen Tagen auch mal nur im Laden und wartet darauf, dass eine Familie sich für sie entscheidet. KFs werden nicht genau beschrieben. Sie sind offensichtlich Androide, die irgendeine Form zwischen Haushaltshelfenden und Seelsorgenden einnehmen. Sie werden insofern gebrandet, dass sie einen Namen haben und über bestimmte Funktionen verfügen, die von KF zu KF etwas unterschiedlich ausgeprägt sind. Ein Hauch Individualität umgibt sie, weniger der von Massenware. Modellreihen und Produktbezeichnungen gibt es aber, genauso wie die Furcht der KFs nicht mehr so gefragt zu sein, wenn neue KF-Reihen in den Laden kommen. Dann tritt Josie und deren Mutter in Klaras Existenz, die sie dann eben doch eines Tages mit nach Hause nehmen.

Josie ist von nun an Klaras Mündel, wenn man so will. Klara spricht mit ihr, passt ein wenig auf sie auf. Geht es Josie schlecht, ruft Klara Hilfe. Und Josie geht es oft schlecht. Lesende erfahren, dass das daran liegt, dass Josie eine „Gehobene“ ist. Josies bester Freund ist Rick, der offenbar einer anderen „Schicht“ anzugehören scheint und von ihm wird gesagt, dass er nicht „gehoben“ wurde. Wir erfahren nie genau wie das funktioniert, verstehen aber bald, dass dadurch eine Kluft zwischen den Menschen entsteht. Und obwohl Josie und Rick davon wissen und diese Kluft verhindern wollen, ahnt man, dass das letzten Endes unvermeidlich ist. Sie sehen keinen Zweck darin es Klara zu erklären, weil Klara für sie trotz anfänglicher Sympathie und warmen Worte eben doch nur ein Gerät ist. Da Klara die Erzählerin ist, erfahren wir so wie sie nie mehr Details.

Das aus Klaras Sicht geschriebene Buch erklärt sich von da an die neue Umgebung mit einer offenbar begrenzten Wissensontologie über das Leben der Menschen. Ein Smartphone, Tablet oder Laptop ist für sie erstmal nur ein „Rechteck“ bis ihr jemand etwas anderes sagt. Vielleicht hat sie darüber keine Kenntnis, damit sie nicht beginnt sich als ein ähnliches „Convenience Gerät“ zu betrachten? Auch ist für uns unklar wie genau Klara aussieht und wie menschlich ihre Wahrnehmung funktioniert. Sie teilt was sie sieht häufig anhand eines Grids ein. Auch hat sie Probleme über unebene Flächen zu laufen. Ich habe mir Klara als einen weniger menschenähnlichen Androiden vorgestellt, sondern eine Zwischenstufe der Technologie. Nicht perfekt humanoid, sondern irgendwas davor. Trotzdem erfüllt sie ihren Zweck: sie ist Josie eine Begleiterin. Unumstößlich transportiert dabei jeder irgendwas auf Klara. Josie sieht sie anfangs als Freundin, manche sehen sie als unnützes „Gerät“. Sei es auch nur Josies Mutter, die eines Tages auch mal will, dass sich Klara so verhält und so spricht wie Josie. Wir können das sehr gut deuten und verstehen auch schnell, dass Klara vielleicht weniger gut versteht woher diese Wünsche kommen.

„Als ich an diesem Tag die Schiebetür öffnete, bildeten die Möbel mehrere ineinandergreifende Gitter, in deren komplexem Muster die Gestalt von Melanie Haushälterin fast unkenntlich war. Dennoch entdeckte ich sie; sie saß aufrecht auf der Kante eines weichen Quaders und war eifrig mit ihrem Rechteck beschäftigt. Sie sah mit unfreundlichem Blick zu mir auf, doch als ich ihr mitteilte, dass Josie hinausgehen wolle, warf sie ihr Rechteck beiseite und marschierte an mir vorbei.“ p.72

In Klaras Kopf zu sein verschleiert für uns viele Wahrheiten und wir als Lesende müssen kreativ werden, um zu verstehen, was da gerade passiert. Szenen der Diskriminierung gegen Klara wirken besonders falsch und schlimm, dadurch, dass sie diese eben nicht so erkennt. In Klaras Kopf zu sein verschiebt die Perspektive und macht sie zu einer wahrhaft einzigartigen Erzählerin. Auf sehr rührende Weise wird hier demonstriert, dass auch eine KF eine Form von Aberglauben und tiefen Gefühlen entwickelt. Wir als Menschen sind aber sehr gut in der Lage das zu ignorieren, wenn sie uns unbequem werden oder ihre Rolle nicht mehr erfüllen. Klara bekommt irgendwann den Eindruck, dass die Sonne die Menschen auflädt. So als ob die Sonne sie heilen könne. Irgendwann beginnt Klara die Sonne anzubeten und für Josies Genesung zu bitten. Die Dialoge (in denen die Sonne stumm bleibt), sind zwar irgendwie naiv, aber auch wunderschön. Wann ist den Menschen abhanden gekommen, was Klara hat? Der unaufhörliche Glaube und die Hoffnung? Die Widmung, das Bekennen und die Verpflichtung? Die Seelenverwandtschaft und unumstößliche Nächstenliebe?

Ishiguro macht es einfach zu glauben, dass das nicht alles programmiert ist, sondern sich entwickelt hat, was sich in Klaras Bewusstsein abspielt. Am Ende steht die Frage, ob Klara doch mehr als ein Convenience Gerät ist und ob sie einen festen Platz in der Familie einnimmt. Ob die Sonne Josie heilt und wo ihr Platz in dieser Welt aus „Gehobenen“ und „Ungehobenen“ ist? Klara und die Sonne ist wie bereits Alles, was wir geben mussten ein Buch über Klassen von Lebewesen und Beziehungen (Mensch-Mensch, Mensch-Maschine), aber keins über Revolte. Es ist eins über gesellschaftliche Phänomene, die für einige so attraktiv sind, dass man sie nicht wegdiskutiert bekommt, obwohl sie teilweise schädlich sind. Damit ist er Ishiguros Vorgängerromanen ähnlich. Aber er lässt uns zu sehr außen vor. Stößt uns ab so wie Josie es nicht für notwendig hält Klara einzubeziehen.

Wir nehmen die wenigen Brocken über „Gehobene“ und interpretieren uns hinein, was uns eben so einfällt. Das Gefühl außen vor zu bleiben und nie die notwendigen Fragen stellen zu können, weil Klara sie nie stellt, ist letzten Endes zu ausschließend und hermetisch. Auch der lange Weg bis dahin ist sehr gemächlich und erfordert einiges an Ausdauer. Dabei ist das Ende eins der schönsten und melancholischsten, dass ich lange in einem Roman gelesen habe und dass mir noch lange in Erinnerung bleiben wird. Dass ich auch noch wusste, auch wenn ich nicht mehr wusste, warum das Buch jetzt gehen muss.

„Du bist meine KF. Wir müssen gute Freunde sein, oder?“
Aber es war kein Lächeln in ihrer Stimme. Es war klar, dass sie mit ihrer Zeichnung allein sein wollte, daher verließ ich das Zimmer, um draußen im Flur zu stehen.
p.130

Fazit

Eine der außergewöhnlichsten Erzählerinnen spricht zu uns in philosophischen Untertönen, die Erzählung lässt uns aber (gewollt) außen vor

Besprochene Ausgabe: ISBN 978-3-89667-693-1, Blessing Verlag

„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂

6 Antworten

  1. „Alles, was wir geben mussten“ fand ich ja großartig. Daran kann dieser Roman wohl leider nicht anschließen?

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Naja, „Klara und die Sonne“ folgt einem ähnlichen Muster wie „Alles, was wir geben mussten“. Von daher hätte ich auch gedacht, dass es mir total gut gefällt. Aber es war sehr langatmig und noch viel weiter weg davon zu erklären oder irgendwie anders zu ergründen, was in der Welt da vor sich geht und was das mit Klara, Josie etc zutun hat. Also wenn du es abkannst, wenn sich alles noch langsamer und schemenhafter entwickelt als in „Alles, was …“, dann ist das vielleicht schon was für dich.

      Aber nein, für meinen Geschmack kann es daran nicht anknüpfen, auch wenn die Androidin/Roboter/KI als Erzählstimme sehr spannend ist und es drei berührende Szenen hat.

  2. Hach, ich bin so unschlüssig, ob ich dieses Buch lesen soll. Eigentlich hatte ich es schon von der Merkliste gestrichen, weil ich schon von so vielen Seiten gehört habe, dass das Buch zu viel unbeantwortet lässt. Aber deine Gedanken zu Klara selbst machen mich nun doch wieder neugierig – auch wenn ich fürchte, dass ich das Buch unbefriedigt beenden würde, weil ich es absolut nicht mag, wenn ich ein Szenario nicht annähernd verstehen kann, weil es zu wenig Informationen gibt.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Das ist immer schwer zu sagen, wem das Buch gefallen könnte und wem nicht. Da es in den grundsätzlichen Merkmalen „Alles, was wir geben mussten“ ähnelt, hätte ich gedacht, dass es mir gefallen müsste. Tat es aber nicht so sehr. V.A. wegen der Langatmigkeit und den eben ausbleibenden Erklärungen über die Welt.
      Was da abgeht versteht man schon so irgendwie mit der Zeit. Oder sagen wir mal: das kann man sich so hininterpretieren. Aber es wird eben nie erklärt oder bestätigt, was in Hinblick auf manche Aspekte der Handlung sehr unbefriedigend ist. So empfand ich es. Also wenn dich drei berührende Szenen nicht mit 350 Seiten im Nebel stehen versöhnen können, dann ist es vllt ganz gut, dass du es von der Merkliste genommen hast.

      Nichtsdestotrotz denke ich, dass es Leser:innen findet, die es mehr mögen und die mehr daraus mitnehmen als vielleicht ich…

      1. 3 Szenen von 350 Seiten … Das klingt wirklich unausgewogen. 😀 Vermutlich wird es kein Buch, das ich mir kaufen werde, aber vielleicht mal ausleihe (falls ich meinen SUB mal niedrig genug habe, um mich in der Stadtbibliothek anzumelden) oder mitnehme, wenn ich es in einem Bücherschrank finde.

  3. […] ähnlich wie Stevens seiner Aufgabe nachkommt, Perfektion hinterherhängt und wenig hinterfragt. In Klara und die Sonne kann unsere Klara aus ihrer Rolle unmöglich raus. Sie ist ein Roboter, geschaffen zu dienen. In […]

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