Es gibt ja immer so ein paar oscarnominierte Filme, die im Fahrwasser der Preisverleihung kassenwirksame Kinostarts bekommen. D.h. eine Woche vor der Verleihung. Ob das bewusst so angelegt wird, kann ich nicht beurteilen. Und dann laufe ich los. Warum? Ich mache mir halt immer noch zu gern vor dem Oscar-Abend ein Bild über die Filme. Und dann sind die zu spät für meine Oscar-Edition und da sitzen wir nun. 🙂 Die Besprechung ist spoilerfrei.
Jetzt im Vorfeld der Oscars wird häufig getitelt, dass Cate Blanchett mit Lydia Tár die Rolle ihres Lebens spielt. Mit solchen Labels habe ich immer ein Problem, weil 1. ihr Leben hoffentlich noch lange nicht vorbei ist und da noch einiges kommen kann. 2. hat Cate Blanchett einige fantastische Rollen auf Lager. Vielleicht drängt sich das Urteil auf, weil Cate Blanchett nun die weibliche Version dessen spielt, was ansonsten „alten weißen Männern“ vorbehalten bleibt und awardwirksam ist. Eine Geschichte des Abstiegs, von Machtmissbrauch und Kontrollverlust. Das wäre nicht die Revolution, die ich mir wünsche für Frauen im Film. Aber es ist interessant und auch sicherlich absolut so gewollt, keine Frage. Lydia Tár (Cate Blanchett) ist die erste weibliche Chefdirigentin eines Orchesters in Deutschland. Sie lebt mit ihrer Frau Sharon (Nina Hoss) in Berlin und sie haben ein Kind adoptiert. Tár hat gerade ein Buch veröffentlicht („Tár on Tár“) und steht vor einem bedeutenden Schritt ihrer Karriere mit der Inszenierung und Aufnahme von Gustav Mahlers 5. Symphonie. Allerdings nutzt sie ihre Position aus, um die Welt um sich herum so zu gestalten wie sie das gern hätte und schon oft getan hat. Die Vergangenheit holt sie ein und lässt sie wortwörtlich nicht in Ruhe schlafen.
TÁR | Offizieller Trailer #3 deutsch/german HD, Universal Pictures Germany, Youtube
Hat Tár ein Genre? Würde man Lydia Tár fragen, wäre das Genre wahrscheinlich „Tár“ 😉 . Tatsächlich ist der Film angenehm zwischen den Schubladen einzusortieren. Es müsste ein Drama sein, weil es den Abstieg der Protagonistin zeigt. Es fühlt sich aber nicht wie eins an, weil Lydia Tár eine schreckliche Person ist und man ihren Abstieg vielleicht sogar erwartet. Viel mehr finden wir hier Elemente des Thrillers, weil wir erwarten, dass das Kartenhaus Társ mit Gewalt über ihr zusammenstürzt. Wie sie versucht Posten zu beeinflussen, Menschen vor den Kopf stößt und lügt ist schon ein reizvolles Geflecht mit einigen sehr vorsichtig platzierten Mysterie- oder Horrorelementen. Die sind allerdings nie zuviel. Man gruselt sich höchstens wegen der Selbstverständlichkeit mit der Tár all das macht. Und die begründet sich in zwei faszinierenden immer wiederkehren Elementen. 1. Der Nervosität anderer Menschen in ihrer Umgebung. Vom nervösen Klicken mit Kugelschreibern ihres Vize bis hin zu dem nervös tippenden Fuß des Studenten neben ihr. Und 2. in Lydias eigenem Mindset. Immer öfter wird sie die Menschen um sie herum als Roboter bezeichnen. Insbesondere, wenn sie sie weniger inspiriert, weniger professionell, weniger mit Gaben gesegnet empfindet als sich selbst.
Dass man nicht gleich schreiend wegläuft und sagt, dass das alles sehr offensichtlich konstruiert ist, liegt wahrscheinlich an der Analyse hier. Nicht am Film. Der fügt das alles sehr feingliedrig zusammen und versteckt die einzelnen Hinweise auf Lydias Psychogramm und ihre Lügen. Dass diese an ihr nagen und sie sich dessen wahrscheinlich nicht mal selber bewusst ist. Stattdessen hält sie sich wohl eher für sabotiert. Die anderen sind Schuld, die Roboter. Es machte zumindest mir regelrecht Spaß in den zweieinhalb Stunden die Hinweise zusammeln, was sie sich zu Schulden kommen ließ und wie sich das Gesamtbild der Lydia Tár fügt. Ich mochte die feinen Verwebungen von Mysteryelementen, das Symbolhafte und v.A. die Überraschungen. Wenn der Film auf selbstironische Weise aus den eigenen Mustern ausbricht oder plötzlich sogar ziemlich witzig ist. Ich mochte wie der Film mit der Endroll beginnt und wie Hildur Guðnadóttir, die eine großartige Filmmusik inszeniert hat, selber im Film erwähnt wird. Ich mochte, dass „Apartment For Sale“ als eigener Track gelistet wird. Ich habe mich ausgezeichnet unterhalten gefühlt, weil sich der Film der gängigen Tropen von Machtmissbrauch so bewusst ist und steuert. Mal mittenrein, mal dagegen. Was ich nicht mochte ist, dass er gute 45 Minuten kürzer hätte sein können und sich am Anfang wahnsinnig viel Zeit nimmt Tár zu zeigen, die eben ist wie sie ist.
Wo die Meinungen aber offenbar am weitesten auseinandergehen ist bei der Debatte, ob Todd Field hier letzten Endes einfach „nur“ Cate Blanchett/Lydia Tár in die Rolle eines weißen Mannes steckt. Affären, Machtmissbrauch, Diskriminierung gar – dazu die Aura des intellektuell und professionell überhöhten. Ich habe oft gelesen, dass viele dem Film wenig(er) abgewinnen können, weil sie das nicht neu oder kreativ finden. Mir geht das an der Stelle etwas anders. Relativ zu Beginn wird Tár mit der Frage konfrontiert, ob sie Frauen nicht besonders fördern wolle und sie entgegnet, dass die Genderfrage überflüssig sei. Frauen seien in dem Metier absolut erfolgreich. Dabei manipuliert sie die Karriere von einigen Frauen wie der Film später zeigen wird. Auch über das gendern macht sie sich lustig. Später wird sie sich sogar als Vater ihres Kindes bezeichnen. Hier ist vielleicht der Knackpunkt – dass sie sich selbst nie als das Produkt von Männern ihrer Branche erkannt hat. Oder der Öffentlichkeit. Der Gesellschaft. You name it. Wir wissen es nicht. Das ist mir anders genug. Und die Botschaft: wir müssen aufhören zu forcieren, dass Frauen wie Männer sein müssen. Das Ende ist dann eins der überraschendsten, dass ich seit langem in einem Film gesehen habe.
Tár, USA, 2022, Todd Field, 158 min, (8/10)
Habt ihr „Tár“ schon gesehen und wie ist eure Meinung zu dem Film? Holt Blanchett den Oscar? Neben oben genanntem Last-Minute-Kinobesuch gibt es eben aber auch welche wie „The Whale“, die ich doch zu gern vorher gesehen hätte und die erst sehr viel später in die Kinos kommen. Vielleicht sind eben doch nicht alle Kinostarts perfekt orchestriert. Vielleicht aber trotzdem kassenwirksam. Wer weiß.
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