ausgelesen: Julia Armfield „Our Wives Under the Sea“ (engl. Ausgabe)

Eigentlich heißt es ja Don’t judge a book by its cover. Hier hingegen, möchte man auf das wunderschöne Cover deuten und sagen Please! Judge this book by its cover! Julia Armfields Our Wives Under the Sea handelt von dem Ehepaar Miri und Leah, das versucht mit dem Leben nach der Katastrophe klarzukommen. Leah galt für Monate als verschollen, niemand glaubte mehr an ihre Rückkehr von der Unterwasser-Expedition. Miri war am Boden zerstört. Dann erreichte sie die Nachricht, dass Leah wieder da sei und sie ihre Frau abholen könne. Nur ist seitdem nichts mehr wie es war. Leah scheint vollkommen verändert, redet kaum und schon gar nicht über das, was an Bord des U-Boots passiert ist.

„The deep sea is a haunted house: a place in which things that ought not to exist move about in the darkness.“ p.3

Armfield widmet sich abwechselnd jeweils in einem Kapitel den Realitäten von Miri, dann wieder von Leah. Voller Nostalgie schildert Miri die Gegenwart und das schwierige Zusammenleben mit ihrer Frau. Wie sie Miri nicht wiedererkennt, der Funke zwischen ihnen erloschen zu sein scheint und im Körper eine Vertrautheit füreinander gespeichert ist, die plötzlich keinen Nährboden mehr findet. Mit jeder Schwierigkeit, jedem neuen Problem, scheint das Mitgefühl füreinander zu versiegen. Und darin liegt eine ganz eigen Brutalität. Miri schweigt, es ist gar nicht an Antworten über ihre lange Abwesenheit zu denken. Der Arbeitgeber Leahs, den Miri gern zur Verantwortung ziehen möchte, verbirgt sich hinter einem Schleier aus Bürokratie und Telefon-Warteschlangen. Hilfe ist rar, aber wen man soll man auch fragen? Was ist der genaue Befund? „Meine Frau redet nicht und hat eine Obsession mit Wasser“.

All das steht stets im starken Kontrast zu den Rückblicken Miris auf ihr gemeinsames Kennenlernen, erste Male und etwas, das mal die ganz große Liebe war. Aus den Zeilen Miris klingt viel Verlust, aber auch Nostalgie und ein Hauch Mysterium. Denn bald geht Miri auf, dass die Veränderungen, die Leah durchläuft nicht „nur“ Trauma sind. Es nimmt überhand, es ist nichts mehr, was man mit Therapeuten, Vitaminen und gutem Willen richten kann. In Leahs Kapiteln suchen wir nach Antworten für ihr Verhalten, für ihre Obsession mit Wasser, das immense morgendliche Zahnfleischbluten und all das, was noch dazu kommt. Tatsächlich nimmt uns Leah aber mit unter Wasser, schildert Stück für Stück wie das U-Boot aus unerfindlichen Gründen sinkt und die Kommunikation ausfällt. Wie ihre Crew und sie versuchen mit der Situation umzugehen. Mit Ungewissheit, Enge, Isolation und Angst. Es ist der Missing Link, den sie Miri verschweigt, und ein Versprechen auf Antworten. Während wir immer tiefer in die Geschichte der beiden tauchen, sind auch die Kapitel nach den Tiefenzonen des Meeres benannt. Bis zu denen, in die kein Licht mehr drängt.

Müsste ich Our Wives Under the Sea in zwei Worten beschreiben, dann würde ich wohl Horror und Verlust wählen. Zum Einen, weil der Verlust, den Miri empfindet uns immer persönlicher und tragischer erscheint, desto mehr wir über sie als Paar erfahren. Desto mehr ihre Anfänge und Weggabelungen uns an uns selber erinnern. Zum Anderen, weil Verlust einfach etwas monströses ist. Es ist eine Geschichte vom machtlosen nicht retten können, was für einen mal alles war. Neben dieser Ohnmacht, hat das Buch auch etwas Surreales und einen kräftigen Touch Body Horror. Surreal wegen Randdetails wie der Nachbarn, deren Fernsehen rund um die Uhr läuft und der Umgebung, von der sich Miri und Leah angesichts ihrer Situation plötzlich komplett entfremdet fühlen: Freunde, Firma, Job, Hobbys – alles ist plötzlich wie nicht existent. Body Horror, wegen dem was Leah durchmacht.

Wer sich schnell ekelt, wird eine harte Zeit mit dem Buch haben. Zwar sind die gore-artigen Szenen wenige und stets kurz, aber prägnant beschrieben. Mit wenigen Worten, die sehr konkrete Bilder zeichnen. Auch die gesichtslose, bürokratische Front, der sich Miri gegenübersieht, hat einen kraftraubenden Horror. Nicht zu vergessen Leahs Schilderungen aus dem U-Boot, die eine Enge erzeugen, die die Klaustrophobiker:innen unter uns sicherlich nicht kalt lässt. Dass sich der Roman nicht nach torture porn anfühlt liegt daran, dass da stets der Blick voller Wärme auf die Beziehung ist. Miri, die ihre Leah zurück haben will. Und da der eigentliche Horror: wenn der Mensch, den du liebst noch da ist und doch nicht mehr, was tust du?

„My heart is a thin thing, these days […]“ p.155

Auch sehr hilfreich ist Miris innere Stimme, die sehr oft ironisch das Geschehen schildert oder die ihre Gedanken erklärt, sinnige wie unsinnige, zu verzeihende, nachvollziehbare. Das Suchen nach Normalität und Eskapismus, begleitet von einem Humor, der das Geschehen oftmals auflockert. So beispielsweise wenn sie ein Internetportal für Frauen findet, deren Männer im All verschollen sind und das als eine Art morbiden, fiktiven, geskripteten Eskapismus entlarvt. Die Suche nach einem Katalysator für etwas schwer beschreibbares, vielleicht sogar eine düstere Form von Romantik oder die Suche nach Gleichgesinnten. Man ahnt es: daraus ergibt sich auch indirekt der Titel des Buchs.

Ich bin geradezu durch das knapp 200-Seiten-Buch geglitten, nicht zuletzt durch die poetische Sprache Armfields, die für namenlose Gefühle Beschreibungen findet. Ich hätte gern jeden vierten Absatz rausnotiert, weil mir die Vergleiche und Beobachtungen so treffend und klug erschienen. Und Drama und Horror so gut verquicken. Sicherlich sind manche Dinge, etwas einfach gelöst wie die gesichtslose Firma Leahs, die sich immer rarer und rarer macht. Andererseits braucht man sie nicht, um diese Geschichte von Verlust zu erzählen. Wobei: ist es eine? Zwar sehe ich das so, aber unser Buchclub hatte eine Menge Theorien für das was passiert, was nicht passiert und wie man es lesen soll. Ich kann aber nur allen raten: sich eigene zu machen.

„I used to think there was such a thing as emptiness, that there were places in the world one could go and be alone. This, I think, is still true, but the error in my reasoning was to assume that alone was somewhere you could go, rather than somewhere you had to be left.“ p.4

Fazit

Sprachlich starker Roman, der sich verschiedener Formen des Horrors bedient und trotzdem eine große Liebesgeschichte erzählt

Besprochene Ausgabe: ISBN 978-1-5290-1723-6, Picador


Authors Julia Armfield and Nikki Dekker in conversation with Lisa Weeda | Writers Unlimited, Youtube

„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂

5 Antworten

  1. Avatar von donpozuelo
    donpozuelo

    Hab ich auch geliebt. Tolles Cover, das mich überhaupt erst auf das Buch gelockt hat. Und das Buch selbst ist auch einfach toll… großartige Story, tolle Charaktere und ich bin einfach Fan von so Tiefsee-Zeug

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Ich dachte bisher nicht, dass ich ein Fan von Tiefsee-Zeug bin, aber inzwischen sehe ich das schon 😀

  2. Wow, das klingt unglaublich gut- und ist ganz toll von dir rezensiert. Ich lese aus jeder Zeile Begeisterung und war nach wenigen Sätzen angefixt genug, um zu sagen: „Ich will das unbedingt lesen.“

    Sehr spannendes Szenario. Und endlich mal ein Roman mit einem queeren Paar, dessen Handlung sich aber nicht darum dreht, sondern bei dem die gleichgeschlechtliche Liebe genauso normal behandelt wird wie eine heterosexuelle Beziehung.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Vielen Dank! Das freut mich sehr und ist heute an einem komischen Tag ein sehr willkommenes Lob 🙂
      Ist aber auch einfach ein tolles Buch und dann einfach so nebenbei auch Repräsentation eines queeren Paars ohne Holzhammermethode oder Stereotype. Superklasse. Ich bin sowieso ein großer Fan davon, wenn man nicht immer den Stempel „JETZT NEU MIT LGBTQ+ “ Charaktere drauf machen muss, damit jemand hinguckt, es nur von Outing handeln kann, etc. Sondern es als etwas völlig normales in völlig normale Genre-Stoffe reinpackt. Nicht, dass die anderen Themen nicht wichtig sind, aber wenn es für queere Paare nur um Outing gehen kann, dann wäre das ja auch nicht die natürlichste Repräsentation ihrer Leben …

  3. […] Booleana hat Julia Armfields „Our Wives Under the Sea“ gelesen – und ihre Liebe zu diesem Roman ist in jedem Satz spürbar. „Our Wives Under […]

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