ausgelesen: Eva Reisinger „Männer töten“

Knaller Titel oder notwendiges Clickbait? Ich sage letzteres. Aber fangen wir mal mit Zahlen an. (TW/CW für Femizid und sexualisierte Gewalt) „Laut einem UN-Bericht wurden im Jahr 2022 rund 89.000 Frauen und Mädchen vorsätzlich getötet – der höchste Stand seit 20 Jahren“ kann man auf der Seite von Amnesty International (Stand 17.03.24) nachlesen. Ich habe Podcasts dazu gehört, Zeitungsartikel gelesen und weiß es immer noch nicht: warum werden in Österreich (im EU-Vergleich) so besonders viele Femizide begangen? (siehe „Verheerende Aktualität: Warum gibt es in Österreich so viele Frauenmorde?“ auf profil.at, vom 30.04.21) Warum ist die Gewalt gegen Frauen in Österreich so hoch?

Mehr Zahlen? Fast jede dritte Frau erlebt sexualisierte Gewalt am Arbeitsplatz, mehr als jede fünfte ab 18 erlebt allgemein sexualisierte Gewalt (Quelle: statistik.at, abgerufen am 17.03.24). Zähl mal ab in der Straßenbahn, was das bedeutet. Diese Taten werden oft von Beziehungspartnern, Ex-Partnern, der eigenen Familie oder verprellten Männern verübt. In Eva Reisingers Buch Männer töten findet sich nun Anna Maria in Engelhartskirchen wieder. Einem Ort in dem das Matriarchat existiert. Hier feiern die Frauen lauter, hier wird die Pfarrerin nicht hinterfragt, was hier verschwindet sind eher die Männer.

„Wie nett hier alle sind. Das ist absurd.“

p. 191

Protagonistin Anna Maria arbeitete in Berlin, hat die Stadt und ihre Arbeit dort satt und folgt ihrem neuen Kerl in dessen Heimat nach Oberösterreich. Irgendwas an Engelhartskirchen ist anders. Anfangs kann Anna Maria den Finger nicht drauf legen, dann merkt sie es nach und nach. Frauen können hier alles. Einen Bauernhof führen, mittags saufen, in Designerklamotten eine Predigt halten, einander heiraten – alles ohne gehässige Kommentare am Gartenzaun. Bald schon kommt sie aber dahinter, dass die Männersterblichkeit in Engelhartskirchen höher ist als an anderen Orten und ihre eigene Vergangenheit kommt aus Berlin angereist.

Liest man den Klappentext, ist man sich nicht sicher, ob das Buch nicht gar Fantasy sein könnte? Wacht Anna Maria eines Morgens in einem Ort auf, in dem Milch und Honig fließen? Ein anderer Dimension, einem Teil des Multiversums, in dem alles besser ist? Nein, Fantasy sehe ich jetzt tatsächlich nicht. Reisingers Roman ist leider ziemlich real. Er greift neben Femiziden auch Themen wie Erasure, sexualisierte Gewalt, vernachlässigte Frauengesundheit und Stalking auf. Dankbarerweise hat Männer töten Facetten. Es sind bei Weitem nicht alle Männer Täter und nicht alle Frauen Verbündete oder Opfer. Anna Marias Chefin ist knallhart und nahezu unmenschlich, sie wird im Buch auch stets mit Die Chefin betitelt. Auch Anna Marias Mutter ist nicht gerade ein Ally.

„Anna Maria bleibt Zeit, die riesigen Madonnen-Abbildungen an der Wand hinter dem Altar zu bewundern. […] Maria mit einem Tuch auf dem Kopf und den Händen auf der Brust. […] Anna Maria sucht nach dem Jesus am Kreuz, der in jeder Kirche hängt, und findet ihn nicht. Dafür glaubt sie andere Heilige zu erkennen. Bernadette zusammen mit Maria. Die heilige Barbara. Und Katharina von Siena. Sie ist froh, dass ihre Namen darunter stehen, denn sie hat diese Bilder noch nie gesehen.“

p. 88

Brisant ist das Buch angesichts des deutschen Zögerns sich dem „Nur Ja heißt Ja“ in der EU-Debatte anzuschließen und stattdessen beim „Nur Nein heißt Nein“ zu verharren. (Quelle: Deutschlandfunk, 11.02.2024) Man könnte schützen – übrigens nicht nur Frauen! Aber man entschied sich dagegen. Wo kommen wir da hin, wenn wir statt das System zu ändern Frauen raten sich zu ändern? Das ist keine Drohung, das ist eine Überlegung. Den Titel des Buches kann man auf zwei Weisen auslegen. Einerseits die nüchterne Feststellung, dass „Männer töten“ (und andere zuschauen?) oder die nüchterne Feststellung, dass in diesem Buch „(Frauen) Männer töten“.

Wie zuverlässig ist aber die Erzählung? Ist Männer töten am Ende surreal? Es gibt einen Moment, in dem erwähnt Anna Maria, dass der Stadtteil (Berlins), in dem sie mit ihrem Ex wohnte jetzt leer ist. Welcher Stadtteil Berlins ist denn leer? Auch andere Aspekte gegen Ende des Buches machen den Frieden zu einem trügerischen und es endet mit dem notwendigen Diskurs. Eva Reisinger schenkt uns nie zu viel, sondern gibt uns auch genug zum nachdenken. Trauma scheint den Gesetzen der Thermodynamik zu folgen. Keine Energie verschwindet einfach aus dem System. Gewalt setzt sich fort, hinterlässt Spuren. Das Matriarchat kommt mit einem Preis.

Dass Männer töten trotz all der wichtigen Denkanstöße und großartigen Zitate nicht ganz mein Buch wurde, lag an dem fragmentarischen Erzählstil und der langen Exposition. Wir befassen uns sehr lange mit Anna Marias Berliner Leben im schrecklichen Job und bei Berliner Clubszene (mit der ich mich wenig identifizieren kann), mit Bauernhöfen in Österreich, bevor Tacheles gesprochen wird und sich verdichtet was in Engelhartskirchen passiert. Viele Andeutungen sind ein Versprechen und reichen in der Kürze aus. Aber andere unausgesprochene Dinge fehlen mir wie die Stimme von Anna Marias neuem Partner. Das Ende lässt dann für mich eine Frage zu viel offen. Da ich gern mit guten Dingen schließen will, weil es das Buch verdient hat: das Buch ist klimaneutral und plastikfrei (laut Angabe auf dem Buch) hergestellt worden. Es wird gegendert im Buch (mit *). Engelhartskirchen. So kanns sein.

„Die Polizei rät Frauen, selbstbewusster zu sein, dann würden sie nicht vergewaltigt.“

p. 130

Fazit

eine starke und notwendige Botschaft, stark fragmentarisch erzählt

Besprochene Ausgabe: ISBN 978-3-7011-8297-8, Leykam Verlag

„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert