Russischer Herbst: Sachbuch-Besprechung zu „Russische Geschichte“ von Andreas Kappeler

Wie vor einer Weile angekündigt, möchte ich mich dieses Jahr mit russischer (und ukrainischer) Literatur auseinandersetzen. Die Ursache dafür ist u.a. der blinde Fleck auf meiner Literatur-Landkarte. Immer wieder begegnen mir Tolstoi und Dostojewski und doch hatte ich von all diesen wegweisenden Autoren bisher nichts gelesen. Oder noch krasser: gar keine russische Literatur gelesen. Das möchte ich nun ändern und hatte das Gefühl dazu auch mit Wissenslücken eines viel größeren Ausmaßes abrechnen zu müssen. Was weiß ich über Russland? Es ist nicht soviel wie ich es gern hätte. Da erschien mir das Buch „Russische Geschichte“ von Andreas Kappeler aus dem C.H.Beck Verlag aus der Wissen-Reihe als perfekte Aufwärmung und Vorbereitung.

Kappeler hat das nur etwas mehr als hundert Seite starke Buch in zwei Teilen angelegt. Der erste ist eine dem Zeitstrahl folgende Zusammenfassung der Geschichte Russlands bzw. Rus, d.h. der Gebiete und Völkergruppen, aus denen sich das heutige Russland entwickelt hat. Wiederum der zweite Teil fokussiert sich auf bestimmte Themen wie das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Staat, Frauen- und Männerrollen und noch viele mehr und bildet diese Aspekte über die Zeit ab. Dass die Eingrenzung beim Zeitstrahl und ab wann die Geschichte betrachtet wird nicht leicht fällt, wird schon im Vorwort erwähnt und beim Lesen ersichtlich. Russland ist schnell gesagt und als Begriff herangezogen – dem was wir aber heute als Russland bezeichnen geht eine lange Geschichte voraus, die alleine geografisch sehr bewegt war. So beginnt das Buch beim Kiever und Moskauer Reich – auch der Begriff Rus war mir tatsächlich neu und lässt sich wahrscheinlich gut als frühe ostslawische Länder und Völkergruppen umschreiben.

Der erste Teil beginnt im 10. Jahrhundert mit dem Kiever Reich und die Geschichte zieht wortwörtlich schnell an einem vorbei, hinweg über das Moskauer Reich vom 15. bis ins 17. Jahrhundert mit der Eroberung Novgorods durch Ivan III, der Erschließung weiterer Gebiete und die Staatsbildung und Zentralisierung zu einem Zarenreich, die einige lose Punkte in meinem Wissensstand über russische Geschichte verbindet mit der Erwähnung des Sohns Ivan III., Ivan IV. – auch bekannt als „Ivan, der Schreckliche“. Eigentlich bedeutet sein Beititel wohl eher „Ivan der Strenge“. Nachfolger werden dann die Romanovs, der Zweig der Familie, die den meisten als Zaren rund um Peter den Großen wahrscheinlich am bekanntesten sein dürften, u.a. weil nach ihm Petrograd bzw. das heutige Sankt Petersburg benannt wurde. Interessant: Peter war der erste, der westliche Einflüsse förderte, starkes Fortschrittsdenken an den Tag legte und Reformen durchsetzte. Ihm folgten u.a. Peter III und später dessen Frau, die spätere Zarin Katharina II auch bekannt als Katharina die Große. An diesem Punkt hätte ich gern mehr über die Hintergründe gewusst, was zum Teil später einsetzt. Während sich ein Unterkapitel Katharina II widmet, wusste ich bis zur eigenen Recherche (und darüber hinaus) nicht, warum im Buch erwähnt wird „[…] und der nicht ganz normale Peter III […]“ (p. 27). Was ich aus anderer Lektüre und dem Internet herauslese ist, dass er (evtl zu Unrecht) als Träumer und Wirrkopf verschrien war und letztendlich aus einer Verschwörung innerhalb der Familie gestürzt wurde. Einen Stammbaum der Romanovs als kleine gedankliche Stütze gibt es übrigens bei Wikipedia (wo sonst). So zieht sich die Erzählung verknappt und deswegen in schnellem Tempo dahin bis zur Oktoberrevolution 1917, dem Sturz des letzten Zaren (Nikolaus II), der Übernahme der Bolschewisten rund um Lenin und den erhofften Veränderungen, die sich mehr oder weniger umsetzen ließen bis hin zur Diktatur Stalins. Witzigerweise ist er vermutlich von allen Personen, die erwähnt wurden, der von dem ich dank Geschichtsunterricht und Goerge Orwells Animal Farm das meiste wusste dicht gefolgt von Gorbatschow und seiner Glasnost-Politik und Perestroijka. Hier bewegen wir uns dann in Gewässern, in denen ich mich auch etwas auskenne – Geschichte, die nicht weit zurückliegt und der man die Aktualität anmerkt, denn das Kapitel schließt mit Vladimir Putin und der immer noch anhaltenden Krise in der Ukraine.

Das nenne ich Geschichte kurz zusammengefasst! Das zweite Kapitel setzt das mehr oder weniger fort, indem es sich Themenkomplexen widmet und deren Entwicklung im Laufe der Zeit erläutert. So beispielsweise Staat und Gesellschaft (Themen u.a. intelligente Oberschicht löst Adel ab, Kolchose und Abschaffung der Leibeigenschaft, …), Leben auf dem Land und in der Stadt (Russland war seit dem Anbeginn ein auf die Landwirtschaft angewiesener Staat) oder auch Geschlechterrollen und in späteren Kapiteln wird sehr häufig der Einfluss der russischen Literatur, Zensur und Aufbegehren erwähnt sowie zahlreiche Namen genannt, die zum Teil auch in meiner Leseliste stehen. Gogol, Dostojewski, Tolstoi natürlich – neben vielen anderen.

Was dieses zweite Kapitel betrifft, schlagen in meiner Brust zwei Herzen. Einerseits finde ich es sehr interessant und spannend nochmal die russische Geschichte anhand einiger Kernthemen zu besprechen und sich nicht nur am Zeitstrahl langzuhangeln. Andererseits war der Zeitstrahl spannend (und ich bin nicht mal ein besonders großer Geschichts-Nerd) und mir an einigen Stellen fast zu knapp. Gerade Formulierungen wie die oben erwähnte Bezeichnung Peter III als „nicht ganz normal“ verlangen zumindest ein bisschen mehr Erklärung. Obwohl das Buch natürlich als eine kurze und prägnante Zusammenfassung gedacht ist, das ist klar. Aber die Formulierung ist nicht hilfreich und passt nicht zum ansonsten hohen Niveau des Buches, mit dem der Autor sich wie schon im Vorwort deutlich wird, von anderen, üblichen Sichtweisen abheben möchte. Ein weiterer Aspekt, der mich befremdet hat war u.a. die Schreibweise russischer Namen. Beispielsweise wird Jelzin hier El’cin geschrieben und Gorbatschow stattdessen Gorbačev, beides entspricht scheinbar der wissenschaftlichen Transliteration, die deckt sich aber leider nicht mit der in Deutschland allgemein bekannten Schreibweise. Es gibt noch mehr Aspekte in der Sprache des Buches, bei denen man sich fragen muss: richtet es sich an Osteuropawissenschaftler oder an Ottonormalerverbraucher wie mich, die ihre Wissenslücken stopfen wollen? Es klingt eher so als wäre die Zielgruppe ersteres, was schade ist. Nichtsdestotrotz ist es ein gutes Buch, dank dem ich endlich blinde Flecken meiner Geschichtslandkarte füllen konnte und eine Übersicht über die russische Geschichte habe. Trotz der Kritikpunkte hat es mir in jedem Fall sehr weitergeholfen und gerade für mein Projekt Russischer Herbst war es eine gute Vorbereitung – sehen wir mal was ich nach dem Russischem Herbst denke, währenddessen dazugewinne oder welche Fragen sich später ergeben.

Bisherige Artikel der Beitragsreihe

I: Ankündigung

Header image photo credit: Anton Murygin

Wie bewandert seid ihr eigentlich in der russischen Geschichte? Was wurde bei euch in der Schule gelehrt oder was habt ihr so mitbekommen? Beim Lesen haben sich immense Lücken bei mir geschlossen. Ich konnte beispielsweise nie so richtig die Oktoberrevolution und Lenin einordnen, weil das bei uns damals nicht wirklich unterrichtet wurde. Oder auch die Zaren und wie das russische Kaiserreich entstanden ist. Klar: der Fokus lag eher auf der deutschen Geschichte, die ab der Zeit der sowjetischen Besatzung und DDR natürlich enger verzahnt ist und dann Stalin und Glasnost thematisierte. Aber ich muss gestehen, dass der Effekt ein ziemlich cooler und Aufwind gebender ist, wenn man zuschauen kann wie sich die eigenen Wissenslücken schließen und bin jetzt richtig heiß drauf mit russischer Literatur weiterzumachen. Habt ihr evtl Empfehlungen für mich, wo ich noch etwas mehr über russische Geschichte mitbekomme?

6 Antworten

  1. Ich bin von deinerKurzfassung der russischen Geschichte gerade sehr angetan. Ich habe mal damit 45 Minuten bei einem Referat benötigt… Das Projekt finde ich übrigens sehr cool und würde dir gerade mal zwei Bücher empfehlen, außerhalb der Tolstoi oder Dostojewski Sparte.

    Zum einen „Sibirski Punk“ von Marlene Hilbk, eine Reiseroman einer Nichtrussin. Sehr schön geschrieben
    Zum anderen das Buch „Der Russe ist einer, der Birken liebt“, ist zwar kein historischer Roman aber man lernt irgendwie die Kultur sehr schön kennen. Es wäre von Olga Grjasnowa (sie ist jedoch in Baku geboren nicht in Russland, weiß also nicht ob das ein Ausschluskriterium wäre)

    In Anbetracht dessen, dass unser Geschichtslehrer im Herzen ein Kommunist/ Sozialist war, hatten wir am Ende des Abiturs definitiv keine Fragen mehr ;D Wir haben sogar mal im Unterricht die Internationale gesungen, die ist eigentlich wirklich schön

  2. […] Bücher. Letzteres noch mehr wenn ihr mich fragt. Für den Russischen Herbst habe ich die Russische Geschichte aus dem C.H. Beck Verlag gelesen und Dostojewskijs Der Spieler angefangen. Außerdem einige Manga […]

  3. Avatar von voidpointer
    voidpointer

    Mit russischer Geschichte ist es bei mir nicht weit her fürchte ich. Wenn ich mich richtig entsinne, dann hat Peter III. leider auch zu denkbar unpassenden Gelegenheiten mit Zinnsoldaten gespielt und im Suff das Hauspersonal geprügelt. Wie viel davon tatsächlich wahr ist, kann ich allerdings nicht sagen. Wenn man sein Ende bedenkt, ist es nicht unwahrscheinlich, dass man ihn in ein schlechtes Licht gerückt hat.

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