Es ist eine Geschichte voller Missverständnisse. Unter den Fans der Animationsfilme des japanischen Studio Ghibli ging ein Seufzen durch die Reihen der Fans als 2014 offiziell verkündet wurde, dass man das Studio umstrukturieren und im Zuge dessen keine neuen Filme produzieren würde. Wenig später setzte sich Hayao Miyazaki zur Ruhe, der trotz der zahlreichen anderen Mitglieder des Studios für viele das Gesicht Ghiblis war und der Regisseur vieler Fan-Favoriten. Es wäre nicht verwunderlich, wenn bei dieser Nachricht Tränen vergossen wurden, die einen See füllen könnten. Ghibli steht für Träume, für Hoffnung, Ermutigung und den Glauben an das Gute in uns allen. Aber wie das eben so mit Workaholics ist, die das was sie tun sehr sehr lieben: Die kommen wieder, wahrscheinlich bis es zu Ende geht. Siehe Isao Takahata – ebenso Gründungsmitglied von Ghibli und Regisseur von Filmen wie Die letzten Glühwürmchen und Prinzessin Kaguya. So inszeniert Miyazaki einen Kurzfilm für das Ghibli Museum („Kemushi no Boro“) und arbeitet eben doch wieder an einem Animations-Spielfilm („Kimitachi Wa Dō Ikiruka“), der aber noch einige Jahre Produktionszeit benötigt. Dabei waren schon alle am rumrätseln … was kommt nach Ghibli, Takahata und Miyazaki? Und sind es immer noch.
„Wer wird der neue Hayao Miyazaki?“
Die Frage wurde lähmend oft gestellt, nachdem Hayao Miyazaki verkündete, dass er in den Ruhestand gehen würde. Selbst nachdem er wiederkehrte, war klar: irgendwann geht jeder von uns. Manchmal war die Frage auch: „Was kommt nach dem Studio Ghibli?“ Eine Frage, die ich besser finde, denn das Studio Ghibli besteht nicht nur aus Hayao Miyazaki. Die letzten Glühwürmchen beispielsweise ist von Isao Takahata und einer meiner anderen Lieblingsfilme Ghiblis Erinnerungen an Marnie von einem früheren Animator und Regisseur, der aus dem Studio hervorgegangen ist: Hiromasa Yonebayashi. Denn das gehört auch dazu: Ausbildung und somit das Erbe.
Für manche Fragesteller zielt es darauf ab, jemanden zu finden, der ihnen das gibt, was ihnen Hayao Miyazaki oder das Studio Ghibli gegeben haben. Filme, die den Glauben an die Menschheit wieder herstellen, Hoffnung spenden, Genki-Genki-Spirit verbreiten oder den Widrigkeiten des Lebens und der Geschichte rührend und bodenständig begegnen. Zudem ist das Studio Ghibli einer der Verfechter der handgemachten Animation, die auf Computeranimationen weitestgehend verzichtet (außer zur allgemeinen Verarbeitung der Daten, Abspielen der Einzelbilder etc.) Das gibt es nicht mehr so wahnsinnig oft. Ich für mich stelle die Frage nicht, wer das neue Studio Ghibli sein wird. Wenn man zwei Mal darüber nachdenkt, dann ist das auch kein wünschenswertes Ziel. Alles geht einmal zu Ende und wenn jemand daherkommt, der genauso dasselbe kann und macht, was Ghibli tat und es genauso aussieht und sich genauso anfühlt, dann wäre Ghibli nicht mehr so besonders wie es war und der Stern des Studios würde nicht mehr so hell strahlen wie er es in unseren Herzen jetzt vielleicht tut. Es ist eben viel schlimmer: wir wollen etwas neues, was uns in Zukunft bezaubert und die Animeszene auch in Zukunft füllt. Als 2016 Makoto Shinkais Your Name den Kino-Thron bestieg und Chihiros Reise ins Zauberland als Animationsfilm, der in Japan (seit jeher!) am meisten eingespielt hat, ablöste, sagten viele: das wird der Nachfolger Ghiblis/Miyazakis/was auch immer! (Shinkai selber ist auch kein großer Fan dieses Vergleichs.) Kurz davor wurde Studio Ponoc gegründet, kurz danach erschien der erste Film Ponocs: Mary und die Blume der Hexen, der nicht nur zahlreiche ehemalige Mitarbeiter Ghiblis vereint, sondern auch den visuellen Stil Ghiblis hat. Ja, wenn man schon unbedingt von Nachfolgern sprechen muss … wer ist es denn nun?
„Beyond Ghibli – A look at Japan’s best anime directors“, via Beyond Ghibli (Youtube)
Studio Ponoc – missverstanden
Studio Ponoc wurde 2015 gegründet, d.h. in nicht allzu kurzer Zeit nachdem Ghibli die Umstrukturierung verkündete. Im Studio arbeiten viele Mitglieder Ghiblis. Das ist nicht die einzige Parallele, so hat der Name des Studios ähnliche Wurzeln. Der Name wurde vom kroatischen Wort ponoć abgeleitet, was „Mitternacht“ bedeutet und für „den Beginn eines neues Tages“ stehen soll. Nicht schwer zu verstehen, dass es für etwas Neues nach Ghibli steht. Es geht weiter. Es ist noch nicht zu Ende. Eine Ära, und sicherlich auch der Arbeitsplatz vieler Zeichner bekommt damit kein Ende, sondern einen Neuanfang. Bei dem ersten Blick auf Mary und die Blume der Hexen und auch nach Sichtung des Films, gab es viele Stimmen und Meinungen. Die einen sahen es als eine nahtlose Wiederaufnahme des visuellen Stils und erzählerischen Erbes von Studio Ghibli und Hayao Miyazaki. Andere fühlten sich betrogen und sahen in „Mary“, nicht das was sie sehen wollten (idR Miyazakis Stil oder Ghiblis Art sich neu zu erfinden) – zuviele Ähnlichkeiten zu Kikis kleiner Lieferservice und Chihiros Reise ins Zauberland. Die anderen waren gar sehr kritisch und betrachteten es als müden Aufguss, der auf der Ruhmeswelle des Studio Ghibli mitschwimmen will. Das kann sicherlich schnell so wirken, wenn man den ähnlichen visuellen Stil und Namen des Studios betrachtet.
Wer aber etwas tiefer gräbt, der erfährt, dass Mary und die Blume der Hexen auch eine Hommage und ein filmisch gehauchtes Danke in Richtung Studio Ghibli ist, was das Hexen-Thema sogar bewusst mit Kikis kleiner Lieferservice im Hinterkopf ausgewählt hat. Es ist also nicht alles nur abgucken, aber so realistisch müssen wir sein: als Animator, Autor, Regisseur, etc. wäre auch ich dankbar, wenn mein Arbeitsplatz gesichert ist, ich an ähnlichen Dingen weiterarbeiten kann und dabei nicht ganz erfolglos bin. Lasst uns abwarten, was Studio Ponoc nach „Mary“ macht. Aber ihr 2018er-Werk sieht schon interessant aus und deutet eine eigene Gangart an. „Modest Heroes“ vereint drei Kurzfilme unterschiedlicher Regisseure (Hiromasa Yonebayashi ist aber wieder mit dabei) und erzählt dabei unterschiedliche Geschichten. Eine Fantasy-Geschichte zweier Kinder, die ihren Vater wiederfinden wollen und sich einem riesigen, gefährlichen Fisch stellen müssen; außerdem die einer Mutter mit einem Sohn, der eine schwere Lebensmittelallergie hat und die eines unsichtbaren Mannes. Die Geschichten sind zu einem Film zusammengefasst als erster Teil des „Ponoc Short Films Theatre“. Und das was ich da sehe und erfahren habe, finde ich vielversprechend und freue mich sehr darauf. Nicht nur wegen des Ghibli Spirit, sondern v.A. weil es wie etwas klingt, was ich so vielleicht noch nicht kenne und andeutet, dass Ponoc seinen Weg gefunden hat.
„Modest Heroes: Ponoc Short Films Theatre, Volume 1 [Official US Trailer, GKIDS – Jan 10 & 12]“, via GKIDS Films (Youtube)
Ponoc vs Shinkai vs Mamoru Hosoda vs ???
Aber einige suchen jetzt immer noch Hayao Miyazakis Nachfolger, oder? Makoto Shinkai ist mit Your Name wahrscheinlich für viele nun the man. Gemessen an dem Thron, von dem Your Name 2016 Chihiros Reise ins Zauberland schubste. Aber wer wird das schon an Geld messen? 😉 Betrachtet man Shinkais Werk, dann fing er sicherlich auf beeindruckende Weise als Ein-Mann-Animationsstudio an, allerdings mit ganz anderen Stoffen. Seine Geschichten waren wesentlich melancholischer bis hin zu deprimierend und widmeten sich durchaus schwer verdaulichen Themen wie Tod, den unvermeidlichen Dingen des Lebens und dem Ende von Beziehungen. Im Laufe der Zeit, wurde die Botschaft seiner Geschichten munterer, fröhlicher und damit auch populärer bis hin zum großen Erfolg mit Your Name. Studio Ponoc ist aber auch noch da – nicht vergessen. Und wenn ich die mir unliebsame und höchst unnötige Frage nach Miyazakis Nachfolger beantworten müsste, dann würde ich (mich erstens weigern und wenn ich ja doch muss) sagen: Mamoru Hosoda.
„Interview with Mamoru Hosoda“, via Madman (Youtube)
Hosoda begann als Regisseur von Digimon-Filmen und diversen anderen Stoffen für u.a. Toei Animation. Er wäre fast zur Familie des Studio Ghibli dazugestoßen um an Das wandelnde Schloss mitzuwirken, aber Miyazaki übernahm den Job. Was man nämlich auch nicht vergessen darf: die Meister des Studio Ghibli gaben nicht besonders oft oder gern das Zepter ab. Hosodas weiterer Weg führte ihn als Regisseur zur Produktion von Das Mädchen, das durch die Zeit sprang zu Madhouse und führte ihn mit Character Designer Yoshiyuki Sadamoto und Autorin Satoko Okudera zusammen. Der Film schlug ein, begeisterte und das Gespann setze seine Serie an wunderbaren Filmen fort, auch wenn Drehbuchautor und Studio dabei wechseln, ist der Name Hosoda etabliert. Und seine Werke haben nicht exakt den Ghibli-Spirit und nicht dieselbe die visuelle Note, aber eine eigene. Und das ist wichtig. Und die funktioniert. Hosoda ist Erzähler und Inszenator von Stoffen, die Helden mit ähnlichen Eigenschaften haben. Sie sind aufrechte Leute, die das Herz am rechten Fleck haben, aber nicht fehlerfrei sind. Die Protagonistin von Das Mädchen, das durch die Zeit sprang benutzt ihre plötzlich gewonnene Fähigkeit durch die Zeit zu reisen auch gern mal zum eigenen Vorteil und um länger Karaoke singen zu dürfen, bessere Noten zu bekommen und so oft sie will ihre Lieblingsgerichte zu essen. Mal ehrlich: wir würden es auch tun, solange wir dabei nicht mit Zeitreise-Paradoxen Unfug machen oder Paralleldimensionen … okay lassen wir das. Aber theoretisch würden wir das doch auch gern, oder? In Summer Wars hält gar eine ganze Familie zusammen um das Ende der japanischen Zivilisation mit Computer Games zu verhindern. Ame und Yuki ist die Geschichte einer Mutter mit zwei besonderen Kindern, für die sie ihr Leben umkrempelt und lernen muss loszulassen. Und sein neuster Mirai no Mirai dreht sich um zwei Geschwister, die durch Zeitreise näher zusammenrücken und Empathie füreinander gewinnen. Hosoda kann ein Thema besonders gut: Familie. In all ihren Facetten. Den unschönen, traurigen, tragischen, ernsten. Und er kann uns an das Band erinnern, das Familie bedeutet – egal ob biologische oder Wahl-Familie. Und das tut es für mich. Nicht zuletzt dank der konsequent großartigen visuellen Umsetzung. Ich bin Team Hosoda. Aber nicht als Nachfolger von irgendwem. Sondern einfach so. Denn … einen Nachfolger von Satoshi Kon will ich beispielsweise auch gar nicht suchen. Und Nachfolger von irgendwem zu sein, haben diese kreativen Köpfe nicht verdient.
„Anime’s Next Big Thing: Mamoru Hosoda, Animator of the Human Soul“, via The Take by ScreenPrism (Youtube)
Ich würde Hosoda ja gern einmal meine monatliche Werkschau widmen, aber er war oft angestellt für nicht originelle Werke (One Piece oder Digimon-Filme, damit meine ich, dass sie Ableger bekannter Reihen sind) und seine bisherigen originellen Filme habe ich schon zu oft in andere Werkschauen aufgenommen wie die über Sommer-Filme. Meine eigenen Regeln für den Blog stehen mir da … ähem, etwas im Weg. Aber ich rufe auch so dazu auf, den Blick von der Frage nach dem nächsten Miyazaki oder Studio Ghibli abzuwenden und einfach mal unbedarft einen Hosoda-Film zu schauen. Wie ist eure Meinung? Kennt ihr Filme Hosodas und Shinkais (außer Your Name)? Gehört ihr auch zu denen, die den Nachfolger Miyazakis suchen? Oder für das Studio Ghibli? Für alle, die übrigens so gar nicht loslassen können: man munkelt, dass Studio Ghibli mehrere Eisen im Feuer hat und da vielleicht noch mehr kommt und Goro Miyazaki macht auch wieder einen Film. Und wer ist das eurer Meinung nach? Eine Frage, die ich mir übrigens schmerzlich stelle: wo sind die Frauen unter den großen Animationsfilm-Namen??
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