Wir lesen … „Exhalation“ von Ted Chiang #exchianging – Zwischenfazit

Mir kommt es so vor, als ob ich gerade erst die Ankündigung unseres gemeinsamen Lesens geschrieben hätte. Zwei Jahre nachdem wir gemeinsam Ted Chiangs „Stories of your Life and Others“ lasen, haben sich Kathrin, Voidpointer und ich für Ted Chiangs aktuelle Kurzgeschichtensammlung „Exhalation“ zusammengetan. Fast ein kleines Jubiläum 😉 Ihr könnt unsere Eindrücke wie immer auf Twitter verfolgen – dieses Mal unter dem Hashtag #exchianging. Da ich jetzt etwas über die Hälfte gelesen und viele Eindrücke gesammelt habe, drängt es sich förmlich auf die Gedanken in einem Zwischenfazit festzuhalten.

„The Merchant and the Alchemist’s Gate“

Das war unerwartet! Oder nicht!? Bei dem Titel The Merchant and the Alchemist’s Gate wäre es eigentlich gar nicht so überraschend, dass sich die Erzählung wie ein Märchen aus Tausendundeine Nacht liest. Vermutlich sprang es mir deswegen nicht ins Auge, weil in einer früheren Erzählungen Chiangs schon mal Alchemisten auftauchten – in einer alternativen Welt. Hier spielt die Geschichte aber tatsächlich im Orient, wo ein Kaufmann die Geschichten wiedergibt, die ihm ein Alchemist erzählte. Die handeln von den schicksalhaften Abenteuern der Menschen, die durch das Tor des Alchemisten gingen, dass sie in die Zukunft respektive Vergangenheit führt. Wird der skeptische Kaufmann schlussendlich auch durch das Tor schreiten?

Der episodenhafte Charakter, das Setting im Orient, Chiangs an diese Muster angepasste Sprache – all das wächst über die Erwartungen an eine Science-Fiction-Geschichte hinaus. Keine Roboter, keine Raumschiffe, nur das Motiv der Zeitreise, das sehr dezent eingesetzt wird. Was ich schon im letzten Buch Chiangs sehr schätzte ist wie selbstverständlich er sich aus diesem Begriff von Science-Fiction hinausbewegt, die in der breiten Masse eben viel zu oft mit den zuvor genannten Motiven assoziiert wird. Seine Zeitreise-Variante ist durch das physisch existierende Tor des Alchemisten übrigens „natürlich bedingt“ eine „Ein-Welten“- statt „Viele-Welten“-Theorie, in der die Handlungen der Charaktere bereits geschehen und unvermeidlich sind. Diese tragischen oder auch mal entlarvenden Elemente führen zu einer grundlegenden Erkenntnis über den Mensch, das Schicksal und seine Vergangenheit. Hier fand ich es ganz interessant in den Story Notes zu lesen, warum Chiang dieses orientalische Setting gewählt hat.

„Exhalation“

Als wir überlegt haben unter welchem Hashtag wir auf Twitter über das Gelesene fachsimpeln wollen, gab es Vorschläge wie #WirExhalieren oder #exhalieren, die ich immer noch ganz cool finde. Aber wie ist der Titel der Geschichte und des Buches gemeint? „Exhalation“ kann neben ausatmen auch für Ausdünstungen stehen. Das war uns zu heikel. XD Exhalation ist dann aber tatsächlich schon die zweite Geschichte im Band – ich war sehr gespannt in welche Richtung diese gehen würde. Und auf den ersten zwei Seiten schon geschockt. Es geht um Sterblichkeit und Atmung. Die Charaktere in der Geschichte gaben an, dass ihnen regelmäßig die Luft ausgeht und sie ihre Lungen tauschen müssten. Manchmal braucht es so wenig um einen aus der Bahn zu werfen. Vor Jahren war ein Familienmitglied von mir auf eine Spenderlunge angewiesen. Das ruft Erinnerungen wach. Es ging nicht gut aus – wir müssen heute leider ohne ihn auskommen. Die Bilder aus Krankenhäusern und dem immer schlechter werdenden Zustand dieses Menschen, den ich mein ganzes Leben lang als gesund gekannt hatte, werde ich nicht vergessen. Noch viel schlimmer seine Mutter und sein Bruder. Es braucht manchmal nur einen Satz um vieles wieder aus dem Gedächtnis zu holen. Ich war quasi dankbar als sich die Geschichte immer weiter bewegte, transformierte und nur wenige Seiten später etwas ganz anderes wurde als ich erwartete.

Die Welt von der er erzählt ist bevölkert von einer Spezies, die ich kaum greifen kann. Sie verstehen sich selbst nicht, wissen scheinbar nicht wo sie herkamen und wie sie funktionieren. Da sie künstliche Lungen besitzen, die sie tauschen und ein Hirn, was aus Goldpartikeln oder -blättchen und Zahnrädern besteht, sind sie wohl Androide einer nicht näher beschriebenen Gestalt. Das Ungewisse über die eigene Spezies treibt den Hauptcharakter dazu sein eigenes Hirn zu sezieren und er gewinnt eine furchtbare Gewissheit über das Überleben seiner Spezies.

Ich war ähnlich baff wie Kathrin! Schon zu Beginn der Geschichte, weil sich meine Vorstellung der Welt die Chiang da beschreibt quasi ständig veränderte. Mit jedem kleinen Brotkrumen, den er uns hinwirft, wird das Bild ein bisschen kompletter. Gegen Ende der Geschichte war ich aber vor Allem darüber verblüfft wie unterschiedlich die ersten beiden Geschichten Chiangs in dem Band sind und was für ein Feuerwerk an Ideen und Theorien, die zu noch soviel mehr Gedanken inspirieren. Wow!

„What’s Expected of Us“

Hattet ihr bei Benutzung eines „remote Autoschlüssels“ bzw einer Funkfernbedienung schon mal das Gefühl, dass die LED blinkt, bevor ihr gedrückt habt? Mir ging das tatsächlich schon öfter so. Die nur vier Seiten lange Kurzgeschichte Chiangs hat unmittelbar mit diesem Gerät zutun und beginnt mit einer Warnung. Die anhand der LED nachgewiesene Erkenntnis, dass es freien Willen nicht gibt hat in dieser Kurzgeschichte ungeahnte Folgen. Ein genialer Einfall, der für meinen Geschmack etwas profan umgesetzt wurde. Chiang tarnt die smarte Geschichte, die sicherlich ihre Wurzeln auch etwas im Alltag findet, als eine wohlgemeinte Nachricht aus der Zukunft. Irgendwie denke ich, dass er mehr daraus hätte machen können. Dass die Geschichte im Nature Magazine erschien, erklärt die Länge bzw Kürze vielleicht.

„The Lifecycle of Software Objects“

Man merkt sehr deutlich, dass Ted Chiang einen Abschluss in Informatik hat. Dass er wahrscheinlich schon programmiert hat, auch wenn ich nur Informationen finden konnte, dass er als „technical writer (Technischer Redakteur)“ gearbeitet hat. Ich bin mir ehrlich gesagt unschlüssig, ob es diesen Beruf hierzulande überhaupt gibt? Seine Kurzgeschichte The Lifecycle of Software Objects gibt relativ genau wieder wie leicht angreifbar und kopierfähig die Instanz eines Software-Objektes ist. In der Welt der Programmierung hält ein „Objekt“ Daten und sobald nicht mehr gebraucht, wird es gelöscht. Spurlos. Weniger als ein Ächzen im Arbeitsspeicher. Die Firma in Chiangs Geschichte möchte hingegen, dass die Software Objekte die sie entwickeln länger als ein Ächzen existieren.

Sie kreieren Künstliche Intelligenzen (KI), die erzogen werden müssen und um attraktiver für potentielle Besitzer zu sein wie Tiere oder Roboter aussehen. Jedenfalls irgendwie „niedlich genug“. Ein schöner Gegenentwurf zu der Vorstellung, dass KIs von heute auf morgen existieren. Das ist mitnichten der Fall. Künstliche Neuronale Netze werden lange auf Ziele trainiert, bevor sie auch nur eine einzelne Mustererkennung beherrschen. Wer sich mit Genetischen Algorithmen befasst hat, kann ebenso ein Lied davon singen, dass KI Zeit braucht. Dass Chiang diesen Gegenentwurf wagt ist cool. Und Zeit und Wirtschaft spielen schmerzlich eine Rolle im Leben dieser Software Objekte. Tatsächlich habe ich auch hier wieder den Eindruck als ob die Geschichte irgendwie zu kurz ist und an ihrer Pointe vorbeigerauscht ist und einfach an einer beliebigen Stelle endet. Das missfällt mir etwas, so als ob Chiang hinter seinen Möglichkeiten zurück bleibt. Dabei strotzt „The Lifecycle …“ geradezu vor fantastischen Ideen. Lesbische Paare können mittels einer Ovarienfusion Nachwuchs haben, es gibt zig virtuelle Welten in die das soziale Leben verlegt wird (aber nicht ausschließlich!) – Chiang schreibt selten potentielle „Black Mirror“-Episoden. Seine Welt nimmt Technologie an wie wir es aus der Realität kennen. Sie kommt, sie wird genutzt, sie hat Vor- und Nachteile, aber sie führt nicht zwingend zur Dystopie. Ein sehr angenehmer Aspekt der sich in kommenden Geschichten noch mehr verdeutlichen soll.

Dieser Ted Chiang …

Man hört bei mir in den ersten zwei Geschichten Begeisterung raus und in den letzten beiden etwas weniger – der Eindruck täuscht nicht. Zwar erkennt man in ihnen allen Chiangs Handschrift und Stil, seine genialen Ideen und wie sehr er wissenschaftliche Denke und umfangreiches Wissen beweist, aber in den letzten beiden fehlt mir etwas. Vielleicht liegt es am Fehlen von Spannungskurven, aber es ist fast so als ob er an seiner eigenen Pointe vorbei erzählt hätte. Nicht, dass das besonders schlimm wäre – seine Geschichten haben immer noch das Potential, das man darüber reden möchte. Sich die Gedanken im Kopf im Kreis drehen und „Was wäre wenn“s spinnen. Er sprengt immer noch die Grenzen unserer Vorstellungskraft und stellt Fragen, über die wir uns noch gar nicht getraut haben nachzudenken. So muss gute Science-Fiction sein. Aber rein narrativ hoffe ich in den anderen Kurzgeschichten mehr von der Rafinesse von „Exhalation“ und „The Merchant and the Alchemist’s Gate“ zu finden. Ich bin selber gespannt zu erfahren wie meine Mitleser das sehen und von euch da draußen, ob ihr das ähnlich empfindet?

Zu den bisherigen Artikeln der Leserunde

08.07. Ankündigung hier im Blog

Habt ihr schon Bücher von Ted Chiang gelesen? Ist „Exhalation“ vielleicht euer Erstkontakt? Und wie sind eure Eindrücke? Habt ihr Empfehlungen für andere Science-Fiction-Autoren und -Bücher, die auch das „Science in Science-Fiction“ zurückbringen?

3 Antworten

  1. Avatar von voidpointer
    voidpointer

    Zu „The Lifecycle of Software Objects“ kann ich noch nichts sagen, aber wenn ich abzuschätzen versuche, wie viele Objekte ich instanziert habe, bin ich doch sehr gespannt auf die Geschichte. 😉

    Mein Favorit ist bisher „The Merchant and the Alchemist’s Gate“, weil es mir dichter am Leben erscheint. Bei Exhalation gefallen mir die geschickten Metaphern die wie Du richtig sagst ganz wunderbar Science mit Fiction verbinden. Science mit Fiction und Tiefgang kann Chiang wirklich hervorragend.

  2. In der ersten Hälfte des Buches waren unsere Eindrücke ja (noch) sehr ähnlich. 😀

    „Exhalation“ hat mich einfach umgehauen und ich finde bis heute einfach keine Worte, die das, was das Lesen der Geschichte in mir ausgelöst hat, auch nur annähernd beschreiben könnten.

    Was du über Chiangs Schreibstil in „The Merchant and the Alchemist’s Gate“ schreibst, fällt mir bei seinen Geschichten auch immer wieder auf. Es scheint ihm so leich zu fallen, seine Wortwahl und seine Art zu erzählen, an die unterschiedlichen Settings anzupassen, dass ich manchmal kaum glauben kann, dass sie demselben Autor entspringen. Abgesehen davon finde ich es immer wieder faszinierend, wie breit Chiangs Themenvielfalt ist – und wie ausgefeilt trotzdem alles ist. Ich frage mich, wie viel Recherche er immer in seine Geschichten steckt…

    „The Lifecycle…“ hat mir insgesamt gut gefallen, aber wie du schon erwähnst, fehlt irgendwie der Spannungsbogen, Neue Ansätze innerhalb der Geschichte konnten mich dann aber doch immer wieder abholen und verhindern, dass ich das Interesse verliere.

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