ausgelesen: Jules Verne „20.000 Meilen unter Meer“ Band 1 #aufDerNautilus

Ende Mai brachen einige eifrige Leser, Blogger, Tweeter auf um unter dem Hashtag #aufDerNautilus über Jules Vernes Klassiker „20.000 Meilen unter dem Meer“ zu sprechen – und den natürlich zu lesen. Der Leserunde schlossen sich Jana von Wissenstagebuch, Matthias alias @_quoth_, „Nadelnerd“ Ariane und Christin alias Kaisu an. Dieses Zwischenfazit zur Leserunde tarnt sich nicht grundlos als Besprechung des ersten Bandes, denn „20.000 Meilen unter Meer“ erschien (bei einigen Verlagen) in zwei Bänden. Dabei schaue ich gleichzeitig auf die gemeinsame Reise unserer Runde zurück.

„Es wandert, es bewegt sich vorwärts und zurück, es stürzt auf uns los!“

Jules Vernes 20.000 Meilen unter dem Meer beginnt mit zahlreichen Schiffsunglücken auf hoher See, die aufgrund Ihrer Umstände und Häufung das Interesse der Allgemeinheit erregen und für fantastischste Spekulationen sorgen. Ist es ein Ungeheuer, dass die Schiffe und Seefahrer auf dem Gewissen hat? Welches Lebewesen ist so schnell, so stark, dass es all die Unglücke und seltsamen Sichtungen provoziert, von denen berichtet wird? Presse is on fire. Gesprächsstoff bei Coktailpartys garantiert. Der französische Forscher Prof. Aronnax wird auf die Fregatte Abraham Lincoln eingeladen der Jagd auf das Ungetüm beizuwohnen und die Crew zu beraten. Er nimmt seinen Assistenten Conseil mit und lernt dort u.a. den kanadischen Harpunier Ned Land kennen. Als sie das Objekt endlich sichten und bald schon auf Metall anstatt organischer Masse treffen, ist klar, dass es sich hier um kein Ungeheuer aus Fleich und Blut handelt. Das Aufeinandertreffen endet fatal – Aronnax, Conseil und Ned Land gehen über Bord und werden von dem „Ungeheuer“ auf offener See aufgelesen. Die Schiffbrüchigen müssen erkennen, dass es sich dabei um ein Unterseeboot handelt, das auf den Namen Nautilus getauft wurde.

Einige Zeit lang bekommen unsere Drei keinen Menschen zu Gesicht und fühlen sich wie Gefangene. Als sie kurze Zeit später den Kapitän der Nautilus kennen lernen, wird sich das nur geringfügig ändern. Kapitän Nemo nennt er sich, aus dem lateinischen übersetzt bedeutet das niemand. Er erklärt ihnen, dass er der Gesellschaft und Landbevölkerung den Rücken gekehrt hat und möchte, dass seine Person, seine technologischen und wissenschaftlichen Errungenschaften inklusive der Nautilus geheim bleiben. So gibt es für die Schiffbrüchigen nur eine Wahl: an Bord der Nautilus bleiben und den Befehlen des Kapitäns gehorchen. Dafür werden sie als Gäste Nemos betrachtet und werden Zeuge der Wunder der Weltmeere. Aus Mangel an Alternativen sind die Drei von nun an Begleiter Nemos – mobilis in mobile, beweglich im Beweglichen.

Auf ihrer Reise werden Aronnax und seine Freunde Zeuge aller möglicher technischer Errungenschaften, mit denen Nemo (und Jules Verne) seiner Zeit um einiges voraus war. Zwar gab es Mitte des 19. Jahrhunderts wohl bereits Unterseeboote, aber bei weitem nicht auf dem technischen Niveau der Nautilus. Da ist von Elektrizität die Rede, die das Schiff erleuchtet und von einer Atemluftversorgung. Nicht alle der technischen Eckdaten halten der Prüfung durch Leser des 21. Jahrhunderts stand – aber die Visionen Jules Vernes sind nach wie vor faszinierend und wegweisend, wenn man bedenkt, dass das Buch 1869–1870 erschien. Wobei … ein bisschen geben sie ja schon an. 😉 Nemo macht gar mit Aronnax eine Roomtour und beweist, dass er nicht nur Kunstschätze, sondern eine ganze Bibliothek an Bord hat. Das Herz der Bücherfans schlägt laut. Es gibt außerdem Andeutungen, dass sich Nemo an Bord eine eigene Gesellschaft und Sprache aufbaut – allzu viel erfahren wir aber leider nicht darüber. Die Recherche zum Satz „Nautron respoc lorni virch“ bleibt fruchtlos. Ebenso wie sich die Fahrt in der Nautilus für Ned Land anfühlt, während die Forscher Aronnax und sein Gehilfe Conseil sich der Wunder der Meere erfreuen. Die schiere Masse an Schilderungen von Unterwasserfauna und -flora ist beeindruckend. Es ist extrem einladend (v.A. in Zeiten von Corona und Reisestopps) mit dem Finger auf der Landkarte mitzureisen. Das alles lenkt gut ab vom Dilemma unserer Protagonisten.

Ist der Mensch das Ungeheuer?

Der erste Band wirft mehr Fragen beim aufmerksamen Leser auf, als er beantwortet. Wie sich die Nautilus selbst versorgt und manche technische Errungenschaften liegen zum Teil auf der Hand oder werden erklärt. Aber mit den zahlreichen Aufzählungen von Touren und Meeresbewohnern aller couleur beschäftigt Nemo Professor Aronnax sehr gut und lenkt zumindest ihn und Conseil sehr effektiv von der Tatsache ab, warum er wohl der Gesellschaft den Rücken gekehrt hat. Man fragt sich, was jemanden dazu veranlasst, ein solches Unternehmen zu starten? Unter großem finanziellen, planerischen und intellektuellem Aufwand eine Nautilus zu bauen und zu sagen „Ich bin dann mal weg!“ Das macht man nicht, weil man mal schief angeschaut wurde. Was ist Nemo widerfahren? Aus seinen Worten hört man Zorn. Zorn auf die Welt, auf die Menschen … aber nicht sich selber? Und wie können per se alle Menschen schlecht sein?

„Nicht neuer Kontinente bedarf’s auf der Erde, sondern neuer Menschen!“ p.263

Was auch immer es ist, das Nemo der Gesellschaft den Rücken kehren ließ, legitimiert es seine Entdeckungen und Errungenschaften der Menschheit vorzuenthalten? Errungenschaften, die Hunger lindern und große Probleme lösen könnten? Legitimiert das Menschen alternativ- und perspektivenlos gefangen zu nehmen? Nemo ist für mich als Leser interessanter als Aronnax Betrachtungen, als Ned Lands Jagd-Streifzüge. Nicht immer faszinierender als die Unterwasserwelt, aber unbeantwortete Fragen ziehen immer. So platt ich das sonst finde, aber hier ist es Programm: the man, the mystery. Kein Wunder, dass man von Nemo hört und er zahlreich in verschiedensten anderen Medien erwähnt und adaptiert wurde, aber der Ruf dem Erzähler und Protagonisten des Romans eher nicht vorauseilt. Hoffen wir, dass Nemo kein MacGuffin bleibt und wir noch ein paar Antworten bekommen. Denn so wundervoll die Schilderungen (und Bilder!) von der Reise unter dem Meer sind, fühle ich mich doch arg hingehalten. Wenn unser Dreiergespann nicht so gut für comic relief sorgen würde und ich nicht stets nach Hinweisen auf Nemos Vergangenheit warten würde, fühlte ich mich weniger gut unterhalten.

„Die Entdeckung der Existenz eines ncoh so fabulösen, noch so mythologischen Geschöpfes hätte meinen Verstand nicht in dem Grade überrascht. Daß das Wunderbare von Gott kommt, ist ene einfache Sache. Aber unter seinen Augen auf einmal das Unmögliche geheimnisvoll als Menschenwerk verwirklicht zu sehen, das stürzt den Geist in Verwirrung.“ p.93

Der, die, das Nautilus? Oder: die Abenteuer des gemeinsamen Lesens

Und dieses Mal hatten wir eine Menge zu bereden. Sehr umtriebig diskutierten wir v.A. die Unterschiede unserer Ausgaben, die sich nicht nur am Titel bemerkbar machen. Schon als ich das Buch mal im (Real-Life-)Buchclub vorschlug, kundschaftete Matthias aus, dass es von dem Buch zig Ausgaben mit den abenteuerlichsten Seitenzahlen gibt. Kürzung, ick hör dir trapsen? Vielleicht. Auch dachte ich lange, dass es nur eine Entscheidung vom Diogenes-Verlag war, dass meine Ausgabe(n) in zwei Bänden erschien. Aber nein – die Ausgabe enthält die Illustrationen der Originalausgabe und dort findet sich ein Titelbild für dessen Übersetzung mein Schul-Französisch ausreicht und die „zweiter Teil“ besagt. Neben Merkur statt Quecksilber ist es aber v.A. die Frage, warum es statt feminin „die Nautilus“ (weil Schiffe typischer im feminin bezeichnet werden) im Buch vorrangig der Nautilus heißt. Ich habe beim Linguistikblog meines Vertrauens nachgefragt – ihr findet die Vermutung in den Kommentaren unter diesem Beitrag bei Der Zwiebel. Wie passend. 😀

Und es hat sehr Spaß gemacht diese Unterschiede auszuloten, aber wie auch einfach zu diskutieren wie wir diverse Stellen in dem Buch auffassen. Leserunden sind v.A. auch dort schön, wo man sich einer Deutung nicht sicher ist, wo man gerade eine Talfahrt oder einen Hänger hat oder zu faul war um zu googeln und das eine oder andere im Buch einfach hingenommen hat. So hat Jana beispielsweise mal nachgeschlagen, was es mit der Insel Crespo auf sich hat, wo Nemo Aronnax und Konsorten mal an Land gehen lässt. Die Antwort:

Das gemeinsame Lesen hat also Spaß gemacht – und tut das auch weiterhin. 🙂 Müsste ich nun nach dem ersten Band ein Fazit ziehen, würde ich das sehr unfair finden. Schließlich ist die Geschichte nicht abgeschlossen. Da es aber nun in „ausgelesen“-Beiträgen Tradition ist, soll es das Fazit geben. Der erste Band von 20.000 Meilen unter Meer ist ein faszinierender Abenteuerroman, der seiner Zeit ganz klar voraus war. Ein visionäres Stück, das Fernweh befüttert, Wissensdurst aufkommen lässt und teilweise sogar stillt. Leider macht es aber auch ein zu großes Geheimnis aus seinem Geheimnis ohne befriedigende Antworten anzubieten und sich zu oft in Aufzählungen zu verlieren. Nichtsdestotrotz sieht man nach der Lektüre die Welt und v.A. Natur und Wissenschaft mehr als die Wunder, die sie sind. Am Ende des ersten Bandes gibt es auf die Fragen, die mich so beschäftigen und reizen keine Antworten. Soviel Spoiler sei mir verziehen. (Hoffe ich.) Aber Professor Aronnax und seine Freunde werden daran erinnert, dass sie Gefangene auf der Nautilus sind, womit es im zweiten Band etwas kritischer und reflektierter weiter geht – das kann ich schon sagen.

Zu den Artikeln der Leserunde

30.05. Ankündigung hier im Blog

Besprochene Ausgabe: 978-3-257-20244-1, Diogenes Verlag

Kennt ihr „20.000 Meilen unter (dem) Meer“? Welche Ausgabe lag euch vor und was ist euch besonders in Erinnerung geblieben? In welchen Medien/Adaptionen ist euch Kapitän Nemo schon begegnet? Ich erinnere mich u.a. noch an den aus den „Willy Fog“ Animationen, Der „Macht des Zaubersteins“ mit Nadia und als Teil der „Liga der außergewöhnlichen Gentlemen“. Ganz dunkel erinnere ich mich auch an eine direkte Verfilmung von „20.000 Meilen unter dem Meer“. Aber die hole ich dann wohl später nochmals nach. 🙂

4 Antworten

  1. „Die schiere Masse an Schilderungen von Unterwasserfauna und -flora ist beeindruckend.“
    Oh ja! Wie sehr habe ich das damals geliebt. Ich hätte diesen Schilderungen tagelang voller Faszination lauschen können. Verne schafft es einfach, die Natur und die Technik als gewaltige Wunder zu schildern und – was ich so sonst nur bei Ted Chiang erlebt habe – in Einklang zu bringen. Bei ihm stehen Natur und Wissenschaft / Technologie nicht in Konkurrenz, sondern können ganz wunderbar nebeneinander stehen.

    Was die Geheimnisse um Nemo betrifft: Es gibt noch Infos, aber insgesamt bleibt es vage und er bis zu „Die geheimnisvolle Insel“ ein Mysterium, ein Unnahbarer. Mich hat das damals tatsächlich nicht gestört. Einerseits wollte zwar auch ich gerne mehr über Nemos Leben und Beweggründe erfahren, andererseits hat aber gerade diese Unerreichbarkeit des Kapitäns auf mich eine Faszination ausgeübt.

    Und zur Frage, warum Nemo seine Technologie nicht zur Verbesserung der Gesellschaft nutzt: Vielleicht war Verne auch hier seiner Zeit voraus, aber wie oft schon wurden Erfindungen für Böses missbraucht?! Ich denke da bspw. nur an Atomenergie.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Das passt überraschend gut zu den anderen Kommentaren unter anderen Beiträgen, die ich gerade beantwortet habe 😉 Auch hier hätte mich das Buch wohl mehr fasziniert, wenn ich es früher gelesen hätte. Die Aufzählungen waren mir schon gegen Ende des ersten Bandes irgendwann zuviel, im zweiten Band war ich dann doch noch ungeduldiger muss ich sagen und manchmal sogar ein Stück weit genervt. Aber ihre Wirkung verfehlen sie andererseits auch nicht – ich wurde gut aus dem Alltag entführt. Und desto bunter die Schilderung war, desto lieber habe ich sie gelesen (und mir vorgestellt).

      Über Nemo habe ich dann aus dem Nachwort des zweiten Bandes eine ganze Menge mitgenommen. Ansonsten kam mir das hier doch um einiges zu kurz – aber auch auf beide Bücher betrachtet.

      Ja das stimmt natürlich – aber ich meine im zweiten Band deutet er dann an, dass nach seinem Tod bzw dem Tod des letzten Crewmitglieds der Nautilus alle seine Pläne als Flaschenpost ins Meer geworfen werden sollen, sodass sie von der Nachwelt gefunden werden. Da kann er ja auch nicht kontrollieren, in wessen Hände das gerät. Das ist doch echt schade. Aber man merkt eben, dass der Mann absolut auf Rache aus war und dem der Rest und das Wohl der Menschheit halt piepegal war … damit ist er eine tragische Figur, die wohl ihre Wirkung nicht verfehlt, wenn man an seinen Zustand am Ende denkt.

  2. […] Miss Booleana, Jana von Wissenstagebuch, Ariane von Nerd mit Nadel, Christin von Life4Books and more und Matthias alias _quoth_ haben gemeinsam eines meiner Lieblingsbücher gelesen: Jules Vernes „20.000 Meilen unter dem Meer“. Ihre Eindrücke könnt ihr auf Twitter über den Hashtag #aufderNautilus nachlesen. Außerdem findet ihr bei Miss Booleana auch ausführliche Überlegungen zum ersten der insgesamt zwei Teile. […]

  3. […] 13.06.20        Zwischenfazit bei Miss Booleana […]

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