Als im Januar und Februar alle darum bangten, ob der Lockdown verlängert wird (und die Antwort schon kannten), kam „Piranesi“ gerade recht. Susanna Clarkes Roman war der perfekte Eskapismus. Und gemeinsam entkommen war umso schöner. Und ist es noch! Jana vom Blog Wissenstagebuch, Matthias alias @_quoth_, Kathrin (Phantasienreisen.de) und ich lasen im Januar bzw. Februar gemeinsam „Piranesi“, den neusten Roman von Susanna Clarke. Warum der so richtige Lockdown-Lektüre, gleichzeitig aber unschlagbar in punkto Eskapismus ist, verrät die Besprechung. Unsere Gedanken konserviert Twitter für uns und euch zum nachlesen unter #PianesiLesen.
Das Geliebte Kind Des Hauses
Susanna Clarkes Piranesi ist ein Roman in Tagebuchform, dessen kreative Zeitangaben schon vorweg nehmen, dass wir uns von einem uns bekannten Setting verabschieden, wenn wir den Buchdeckel aufschlagen. Der Protagonist Piranesi lebt offenbar schon eine ganze Weile in Dem Haus. Einem riesigen Gebäude mit einer unfassbar großen Zahl von Räumen, die hauptsächlich Statuen enthalten. Das Haus hat mehrere Stockwerke, die unteren sind geflutet. Überhaupt gibt und nimmt das Haus viel. Es ist ein gefährlicher Ort, es ist ein entbehrungsreicher Ort, aber ein wunderschöner. Zusammen mit Piranesi leben dort Meerestiere und zahlreiche Vögel. Das Haus ist umgeben von Der Welt. Aber Piranesi kennt den Ausgang aus Dem Haus nicht, obwohl er es erkundet und gar kartografiert. Er kennt die Gezeiten, er hat einen Überblick über die Fluten, er weiß wie man in dem Haus überlebt. Er hat Lieblingsorte und Statuen zu denen er spricht. Und er weiß, dass es auf Der Welt 15 Menschen gibt außer ihm und Dem Anderen. Denn er hat ihre Leichen gefunden. Auch weiß er, dass Piranesi nicht sein wirklicher Name ist.
„Der Andere teilt sich seine Zeit akribisch ein und gestattet nie, dass unsere Treffen länger als eine Stunde dauern. […] Piranesi. So nennt er mich. Was seltsam ist, denn soweit ich mich erinnere, ist das nicht mein Name.“ p.19
Während all diese Details auf den Leser einprasseln, lädt das zum Theorien spinnen ein. Man kann sich der Faszination die Lücken zu schließen nicht entziehen. Es war eins der beliebtesten Themen unserer Leserunde, aber auch des Buchclubs, dem ich im „Real Life“ beiwohne und in dem wir (nicht ganz) zufällig zur selben Zeit das Buch gelesen haben. Hat Piranesi Amnesie? Wo kommt er her? Was ist Das Haus? Wie lange ist er schon dort? Und warum? Ist Das Haus in unserer Welt oder etwas ganz anderes? Man will es zwangsläufig wissen. Und das ist auch ein großer Teil des Spaßes. Ein anderer war für mich Das Haus. Gerade wenn bedingt durch Lockdown und frostige Temperaturen wenig Möglichkeiten für Zerstreuung bleibt und man gerne mal etwas Neues sehen, fühlen und erleben will, dann kommt einem Das Haus sehr gelegen. Auch ich fühlte mich wie ein Geliebtes Kind Des Hauses. Ich hätte noch eine Weile mit Piranesi durch Das Haus wandern können. Entlang gefluteter Säle, die von Seerosen bevölkert sind. Oder Statuen entdecken, die auf wundersame Weise Situationen abbilden oder Gefühle versinnbildlichen, die Piranesi hat. Oder wir.
Die Fragen stelle ich mir auch. Woher kommt der Andere, wohin verschwindet er und wie kommt er so leicht an Dinge an diesem isolierten Ort? #Piranesilesen
— Phantásienreisen (@Phantasienreise) February 14, 2021
Das System der Jahre wechselt ja abrupt. Und Piranesi kann sich 2011 und 2012 als Jahresangabe auch nicht mehr erklären. Irgendwas ist da vorgefallen. #Piranesilesen
— Phantásienreisen (@Phantasienreise) February 5, 2021
Das das das! Ist das Haus real? Ist es eine andere Dimension? Sind die Statuen Abbilder teils real existierender Wesen?
Warum fühlt Piranesi sich in dieser unwirtlichen Umgebung geborgen und nicht allein oder verängstigt, hoffnungslos oder verzweifelt? #PiranesiLesen
— Jana (@Wissenstagebuch) January 25, 2021
Aber ich mag diese Entdeckervibes … gerade jetzt während des Lockdowns eine angenehme Note des Eskapismus. Mein Kopfkino dreht frei. #PiranesiLesen Aber hier was mitzunotieren oder zu versuchen Das Haus zu skizzieren … fast unmöglich, oder?
— MissBooleana (@MissBooleana) January 24, 2021
In meinem Geiste sind sämtliche Gezeiten
Am Anfang habe ich mich ganz bezaubert von Dem Haus noch gefragt, ob ich es mitzeichnen und kartografieren kann. Ganz schnell war klar, dass Das Haus solche großen Ausmaße annimmt, dass das keinen Sinn macht. Dabei verlor ich mich so gerne mit Piranesi in dieser Welt, die so viel schönes enthält. Dinge, in denen ich mich gern verliere, wenn ich von der Welt genug habe. Kunst: Statuen, schöne Architektur. Natur: Tiere und Pflanzen. Diese Weltenflucht kam mir sehr gelegen. Vor Allem zu diesem Zeitpunkt. Ob es Susanna Clarke beim Schreiben des Buches genauso ging?
„Als der Mond im Dritten Nördlichen Saal aufging, lief ich in das Neunte Vestibül, um die Vereinigung dreier Fluten zu erleben. Dies ist ein Ereignis, das nur alle acht Jahre stattfindet.“ p.13 (Buchbeginn)
Das Labyrinth aus Räumen, aber auch Geheimnissen, in das uns die Autorin mitnimmt, erinnert jedenfalls stark an Mark Z. Danielewskis House of Leaves. Auch die Minotaurus-Statue in einem der Säle, die Piranesi regelmäßig besucht, kommt hier als Parallele sehr gelegen. Auch Fans von Stoffen wie The OA könnte der Roman gut gefallen. Ein richtiges Easter Egg gibt es aber auch noch: Doctor Who wird hier indirekt erwähnt. Und somit vielleicht für Fans von Zeitreisen eine falsche Fährte gelegt. Wobei … Zeit spielt eine nicht unwesentliche Rolle. Manche Hinweise auf Piranesi erscheinen als niedrig hängender Ast, geben uns aber auch wenige wirkliche Hinweise. So sagt er selber, dass Piranesi nicht sein echter Name ist. Und wie die Recherche zeigt, war der „echte“ Piranesi ein Künstler, der sich u.a. Architektur widmete. Ähnlich unserem Buch-Piranesi, der von der Schönheit Des Hauses bezaubert ist.
Und an der Stelle nochmal etwas Anerkennung für dieses #DoctorWho Easter Egg in #PiranesiLesen pic.twitter.com/Lghqa3S7Sb
— MissBooleana (@MissBooleana) February 19, 2021
Überhaupt strahlt Piranesis Begeisterung für das Haus und seine Flora und Fauna eine Art unschuldige Begeisterung aus, ich möchte gar von Naturverbundenheit sprechen, die mich berührt hat. Aber auch Piranesis Schicksal und seine Beziehung zu dem Anderen machen das Lesen zu einem Auf und Ab. Ab der Hälfte wird es so spannend, dass man das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen möchte. Und das nicht nur um zu erfahren, ob die eigens gestrickten Theorien über die Auflösung des Ganzen stimmen.
„Laurence Arne-Sayles‘ Ausgangsidee war, dass die Menschen der Frühzeit eine andere Beziehung zur Welt hatten, dass sie sie als mit ihnen interagierend erlebten. Wenn sie die Welt beobachteten, beobachtete die Welt sie ebenfalls. Wenn sie zum Beispiel in einem Boot auf einem Fluss fuhren, war dem Fluss in gewisser Weise bewusst, dass er sie auf seinem Rücken trug, und er hatte darin eingewilligt.“ p.168
Welt(en)schmerz
Allzu viel mehr möchte ich über das Buch gar nicht verraten, da ich gewillten Lesern sonst den Spaß daran nehme. Das Rätseln gehört dazu. Es macht ganz klar einen nicht unwesentlichen Reiz an der Reise aus. Deswegen diskutiere ich das Ende im nachfolgenden Absatz spoilerbehaftet. Wer also darüber reden möchte, kann sich das sehr gern ausklappen. Für alle anderen hülle ich mich weiter in Schweigen. Übrigens blättert man ja selten nach der Lektüre eines Buches zu den ersten Seiten zurück. Das lohnt sich hier aber sehr wie ich finde, dank der Zitate die Susanna Clarke ausgewählt und dort eingefügt hat. Nun stellt sich sicherlich die Frage: wird bei all den Mysterien die Handlung aufgelöst oder bleibt die Auflösung zum Schluss dem Leser überlassen? Keine Sorge, es wird sehr deutlich aufgelöst. Keine offenen Enden. Vielleicht noch etwas Raum zum Spekulieren über Details, aber das wirklich nur am Rande. Was nun Wochen nach der Lektüre bleibt ist für mich anhaltende Faszination. Vielleicht reise ich nochmal zurück in Das Haus mit Piranesi.
„Aber was sind schon ein paar Tage Frieren im Vergleich zu einem neuen Albatros auf der Welt?“ p.43 #PiranesiLesen mein Lieblingszitat bis jetzt
— MissBooleana (@MissBooleana) January 24, 2021
Der nachfolgende Abschnitt diskutiert das Finale und enthält Spoiler. Aufklappen auf eigene Gefahr. 🙂
Was ich im Hauptteil der Besprechung nicht groß aufgegriffen habe, ist dass im Zentrum des Interesse neben Piranesi auch sehr bald Der Andere steht. Der einzige lebende Mensch neben Piranesi in Dem Haus. Der ist auf der Suche nach dem Geheimen Wissen und braucht dazu offenbar Piranesi. Der Andere ist ein Charakter von dem man sich anfangs Antworten erhofft, den wir im Buchclub wie in der Leserunde sehr bald angefangen haben wild zu hassen, weil recht schnell klar wird, dass er mehr über Piranesi weiß und vielleicht sogar schuld daran ist, dass er in Dem Haus festsitzt. Der Andere ist ein mieser Charakter und es ist eine umso schönere Botschaft, dass letzten Endes Piranesi aufgrund seiner Tugenden derjenige ist, der das geheime Wissen erlangt. Und das ohne abgefahrene Rituale, sondern einfach weil er er selbst ist.
Ich denke ein großer Bestandteil des Dilemmas ist der „Fakt“, dass für Piranesi der Andere der einzige andere lebende Mensch ist. Den will man als Freund, schätze ich. Und sieht dafür über einiges drüber weg
— MissBooleana (@MissBooleana) February 19, 2021
„Er selbst sein“ ist auch ein gutes Stichwort für die traurig schöne Entwicklung am Ende. Nach allem was Piranesi passiert ist, kann er nicht zum normalen Leben Matthews zurückkehren. Und das erscheint mir sehr plausibel. Schauen wir auf andere Abschnitte unseres Lebens zurück, dann finden wir sicher alle solche früheren Ichs, die wir nicht mehr sind. Auch ohne solche dramatischen Umstände. Im Buchclub wie in der Leserunde wurde oft die Naivität Piranesis in Bezug auf Den Anderen diskutiert. Tatsächlich finde ich das sehr nachvollziehbar. Wenn es nur einen anderen Menschen auf der Welt gibt, dann möchte man gern mit dem befreundet sein. Es wäre eine allzu düstere Weltsicht (und woher sollte dieses Misstrauen überhaupt kommen, wenn man ganz unbefleckt ist), wenn der einzige andere Mensch auf der Welt dein Feind sein soll. Durch den Einfluss Der Welt oder Des Hauses scheint Piranesi sein Gedächtnis zu verlieren und ohne seine Erfahrungen ist er in vielerlei Belangen wieder wie ein Kind. Ich finde es sogar erfrischend wie unbedarft er den Sachverhalten begegnet. Das sorgt zuweilen ja auch für etwas Comic Relief. 🙂 Was aber selbst mir zu gutgläubig war ist wie Matthew Rose niemandem sagen konnte wo er hingeht … aber nun gut.
„Die Schönheit Des Hauses ist unermesslich, seine Güte grenzenlos.“ p.269
Zu den Artikeln der Leserunde
23.01.21 Ankündigung hier im Blog
12.02.21 Quiz zu Piranesi von Susanna Clarke bei Jana
21.02.21 Besprechung/Fazit von Jana
„Piranesi“ war ein gutes Buch zum diskutieren – ich habe sehr davon profitiert, dass wir sowohl in der Leserunde als auch im Buchclub soviel darüber geredet und Theorien ausgetauscht haben. Manche Dinge habe ich dadurch anders gesehen oder Zusammenhänge realisiert, die mir beim Lesen durchgerutscht sind. Über Bücher reden (wie ja auch hier im Blog 😉 ) kann viel. Kennt ihr das Buch vielleicht? Oder habt Empfehlungen für ähnliche Lektüre? Was waren eure Theorien beim Lesen?
Besprochene Ausgabe: ISBN 9783896676726, Blessing
„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂
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