ausgelesen: Benjamin Myers „The Offing“ (engl. Ausgabe)

Ich bin ganz schön mutig euch im November ein Buch um die Ohren zu hauen, das eigentlich purer in Worte gegossener Sommer ist. Aber vielleicht brauchen wir das ja gerade? Kann ich mich erinnern, wann ich das letzte Mal geweint habe beim Lesen eines Buches? Ihr wisst, dass ich gern lese. Aber ich bin bei Filmen, Serien und Büchern nicht wirklich nah am Wasser gebaut. Die visuellen Medien wie Comics und Filme schaffen es eher bei mir die Tränen zu locken. Aber The Offing hat mich gleichermaßen viel zum Lachen und Weinen gebracht. Der Stachel sitzt so tief, dass ich beim Durchsuchen der Fähnchen nach Zitaten für diesen Blogartikel schon wieder nah dran war.

„Let the myth grow, I say, and fuck them all.“

In The Offing beschließt der Teenager Robert seinem tristen Nachkriegs-Alltag zu entfliehen. Der zweite Weltkrieg ist gerade erst vorüber, alle sind arm, trauern um Gefallene und fragen sich wie es weitergeht. Robert war zu jung um eingezogen zu werden und darf sich eigentlich glücklich schätzen, dass er dieser Katastrophe entgangen ist. Durch die Arbeits- und Perspektivenlosigkeit in seiner Gegend droht aber eine andere Art Kriegsopfer. So zieht er los und streift über britische Wiesen und Wege, um sich als Wanderarbeiter zu verdienen und etwas vom Land zu sehen. Hier und da liegen noch Fliegerwracks und Erinnerungen an Krieg rum. Die meisten Leute, für die er arbeitet, können nicht viel entbehren. Es ist aber die meiste Zeit purer Eskapismus und Wanderlust, was er empfindet. Natur ist heilsam. Aber macht nicht nur satt. Relativ ausgehungert trifft er die ältere Frau Dulcie in der Nähe eines Küstenstädtchens. Dulcie kocht unbeschreiblich gut, verjagt ihn nicht und als Dank repariert er was er kann an ihrem Cottage. Und so wiederholt sich das Spiel Tag um Tag. Was langweilig werden könnte, ist es nicht dank Dulcies spannender Geschichten, lässiger Einstellung zum Leben und ihren Denkanstößen für Robert.

„But, Robert, you should not be bitter or angry about it. War is war: it’s started by a few and fought by the many, and everyone loses in the end. There’s no glory in bloodshed and bullet holes.“ p.41

„German or British, Armenian, Dutch or Tongan – most people just want a silent life. A nice meal, a little love. A late-night stroll. A lie-in on a Sunday.“ p.42

Dulcie fordert Robert tatsächlich erheblich. Der sieht die durch den Krieg ausgelösten menschlichen Tragödien und Knappheit überall um sich herum und hasst die Deutschen. Als er aber Dulcie begegnet, appelliert sie v.A. an Aufgeschlossenheit. Sie redet den Krieg nicht klein und auch nicht deutsche (oder andere) Kriegsverbrechen. Aber sie erinnert Robert, dass nicht jede*r Deutsche ein Nazi ist. Dulcies Geschichten und Gedankenexperimente sind voller Weisheit. Als glühende Verfechterin von Poesie, Romantik, gutem Essen, Freiheit und naja einfach dem Leben gibt sie Robert einiges zum Nachdenken. Sie appelliert an ihn sich zu bilden, bringt ihn dazu Poesie zu lesen, … . Genauso fasziniert wie Robert von all den neuen Eindrücken ist, mit denen Dulcie sein Leben bereichert, so fand ich mich nickend und lächelnd vor dem Buch wieder. Ich konnte gar nicht aufhören Fähnchen ins Buch zu setzen und ich befürchte einige werden drin bleiben müssen. Wäre es aber nur das, wäre der Roman schnell erzählt. Aber Robert hört aus Dulcies Geschichten Lücken heraus, die sie einfach nicht auflösen will. Was dort wartet ist eine schöne, aber tragische Geschichte. Dulcies Vergangenheit trägt einen Namen: Romy.

„The silence that followed has been awful.“

Benjamin Myers hat kein ganz unbekanntes Setting beschrieben, deswegen ist das Buch relativ vorhersehbar und bleibt es bis Ende. Aber es war mir nie so egal wie hier. Es ist einfach erfrischend zu lesen wie Dulcie und Robert über das Leben philosophieren. Sie ist eine gute Geschichtenerzählerin mit viel Lebenserfahrung, er ein etwas wortkarger junger Mann, der schon ein guter Kerl ist, aber gerade noch dabei „ein fertiger Mensch“ zu werden. D.h. die Mittel zu kennen mit denen er hinterfragt, sich eine Meinung bildet und wie sein Wertesystem aussehen soll. Er versucht herauszufinden, was er für sein Leben will. Manche behaupten der Prozess ist nie abgeschlossen. 😉 Seine Begegnung mit Dulcie ist das Beste was ihm passieren konnte. Und für uns Leser*innen.

Das Zitat aus der englischsprachigen Buchkritik auf dem Cover wirbt „a novel for our times“ (Irish Times) – das ist Fakt. Nun, ich kann natürlich nicht hellsehen, aber ich sehe warum es ein Buch für „unsere Zeit“ ist. Es bringt den Eskapismus zurück. Die ausschweifenden Schilderungen der in der Sommerhitze flirrenden britischen Landschaften macht, dass wir auch wieder fühlen wie das Gras an unseren Waden kitzelt und sich die Sonne auf der Nase anfühlt. Und damit beziehe ich mich nicht nur auf den grauen November da draußen, denn der kann ja eigentlich auch ganz urig und schön sein, sondern auf ein Freiheitsgefühl wie wir es zwischen Lockdowns und Pandemienachrichten ganz dringend brauchen. Dazu kommt die wunderbare Eigenschaften Myers sehr episodenhaft und kurzweilig zu schreiben. Vor Allem aber auch alle Sinne anzusprechen. Mir tun zwar die Hummer leid, wenn dort beschrieben wird wie Dulcie sie für ein ausschweifendes Mahl zubereitet, aber andererseits ist das Buch auch dadurch anregend. Es macht Hunter auf Leben, auf den Eskapismus, das Rausgehen, dem Grau zu trotzen. Das Beste draus zu machen, den Kopf wieder aufzurichten und mit Hoffnung in die Zukunft zu schauen.

„[…], and once again the carousel of life spun faster still. Gin for breakfast, champagne for luncheon and a trail of unpaid room-service bills, all of that. Europe was so beautiful back then.“ p.152

„Where did life go?“

Das wohl angenehmste an dem Buch ist, dass es das alles ohne erhobenen Zeigefinger schafft. Genauso wie es einfach ganz nebenbei eine lesbische Liebesbeziehung schildert. Wie es von Liebe, Verlust, Selbstfindung und Ohnmacht berichtet. So großen Themen, die sich hier nie schwer anfühlen. Vielleicht liegt’s auch am Humor.

Bless the Germans. They have a word for everything and when they don’t they craft a bastard hybrid on the spot.“ p.221

Ich warte dann mal auf die Verfilmung. Lange dauern kann es nicht. Und man müsste schon sehr dumm sein das zu verkacken. Auf Deutsch erschien The Offing unter dem Titel Offene See bei Dumont. Ich bin mir sehr sicher, dass Übersetzer*innen hier eine ähnlich traurig-schöne Verknüpfung für den Titel finden. Das Cover nach dem man ja nicht werten soll, widerspricht meinem Empfinden nach allem was Dulcie Robert mit auf den Weg gibt leider, aber vielleicht ja nicht eurem. Das englische finde ich sehr sprechend. Leben vibriert und in allen Farben und will gelebt werden. Muss gelebt werden.

Fazit

Unbedingt lesen

Besprochene Ausgabe: ISBN 978-1-5266-1130-7, Bloomsbury Publishing

„As the distance from everything I had ever known increased I began to feel a sense of lightness about myself.“ p.11

„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂

9 Antworten

  1. Ist das auf dt „Offene See“?
    Fand ich auch sehr stark. Einer der ganz wenigen Romane, der um moderne Lyrik kreist und sich nicht blamiert, wenn dann wirklich mal ein Gedicht auftaucht. Leigt wohl auch daran, dass es die Dichterin wirklich gab?
    Als ich das Buch gelesen hab, dachte ich noch sie wäre fiktiv…

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Mensch, na gut, dass du es sagst! 🙂 Dafür mag ich Austausch in den Blogs so. Ich hatte zwar während des Lesens kurz den Gedanken „Musst mal nachlesen, ob es irgendwen wirklich gab“, es dann aber vergessen nachzuschauen. Also: ich hatte bis eben keine Ahnung, dass Romy Landau existiert hat. Vielen Dank! Ich sehe auch, dass ihre Texte veröffentlicht wurden, das werde ich mir mal anschauen.

      Und ja, es ist auf Deutsch „Offene See“

  2. „Offene See“ hab ich gerade als Hörbuch heruntergeladen, jetzt wartet das Buch nur noch auf die nächste Ost-West-Autofahrt. Bin nach deiner Besprechung sehr gespannt drauf! Das nächste Buch von Myers handelt wohl von Kornkreisen (?). Da hat mich der Klappentext zu diesem Buch etwas schneller abgeholt, ich bin auf jeden Fall gespannt auf Myers Sprache – wenn auch in der deutschen Übersetzung,

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Ooooh wie cool! Ich bin gespannt, was du dazu sagst!
      Das Thema der Kornkreise hat mich anfangs etwas Stirnrunzeln/Grinsen lassen, aber desto mehr ich darüber nachdenke, desto besser kann ich es mir vorstellen. Insbesondere weil es wohl sehr charakterzentriert sein soll. Das durfte jetzt doch auf meine To-Read-Liste hüpfen. Ich würde auch gern mal einen „früheren Myers“ lesen, weiß aber noch nicht so recht welchen.

  3. Es ist etwas amüsant, dass ich zuerst den Blogartikel über Buch noir und dann den über „The Offing“ gelesen habe. Ich merke, dass es mich doch etwas mehr zu The Offing zieht Aber das liegt wohl auch sehr daran, dass du sehr begeistert von dem Buch warst 😀
    Ich fühl das Buch gerade sehr für den Herbst, der die Tage gerade sehr kurz machen.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      In der Tat 😉 Ich weiß auch nicht welche Reihenfolge hier besser ist, aber es ist jedenfalls ein starker Kontrast! Wenn du mich fragst machen alleine die Landschaftsbeschreibungen, dass sich die Tage direkt wieder etwas heller anfühlen.

  4. Avatar von donpozuelo
    donpozuelo

    Danke… kommt direkt auf die Liste. Und schon muss ich wieder meine Liste für 2022 überdenken

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Es soll ja nicht zu einfach sein. 🙂

  5. […] das Gegenteil sucht und sich bereits nach dem Sommer sehnt, findet bei Miss Booleana mit „The Offing“ die passende Lektüre – ein Buch, das Steffi zum Lachen und Weinen brachte und viel Raum für […]

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