Als der Heartbeat-Teaser zu „Longlegs“ erschien, dachte ich mir: ok, effektives Marketing. Der Teaser vermittelt zwei Fakten. Zum Einen, dass Nicolas Cage in „Longlegs“ offenbar einen Serienkiller o.Ä. spielt und dass Protagonistin Maika Monroe mächtig Puls bekam, als sie ihn das erste Mal in Maske sah. Wir selber dürfen ihn in dem Teaser nicht sehen. Man kann sich vorstellen, dass das 1. sehr einfach zu faken ist und 2. trotzdem Neugier und Hype erzeugt. Dann kamen die Reviews und Stimmen, die sagen: „scariest movie of the year“! So viel Vorschusslorbeeren. Kann der Film da mithalten? Spoilerfrei.
FBI-Special Agent Lee Harker (Maika Monroe) ist noch „neu“, hat gerade ihren ersten Feldeinsatz hinter sich und schon einen Ruf. Sie scheint einen sechsten Sinn zu haben, der sie schon einmal auf die Spur eines Täters führt. Prompt will das FBI die These testen und setzt sie auf den bisher fruchtlosen Fall des Longlegs genannten Serienkillers an. Seit dreißig Jahren schreibt Longlegs Familien lediglich Briefe, bringt sie aber offenbar dazu sich gegenseitig abzuschlachten. Es gibt abgesehen von den Briefen keine Spuren, die darauf hindeuten, dass Longlegs überhaupt am Tatort war, geschweigedenn selber die Axt oder das Messer geschwungen hätte. Wie geht das? Man erwartet sich von Harker, dass sie dank ihrer „gesteigerten Intuition“ etwas entdeckt, was bisher allen entging. Und das tut sie. Allerdings entsteht auch der Eindruck, dass Longlegs auf sie gewartet hätte.
Oz Perkins scheint ein Lieblingsgenre zu haben – liegt das in der Familie? Mit Gretel & Hänsel und I Am the Pretty Thing That Lives in the House hat er uns schon auf schaurige Reisen mitgenommen und Genrekonventionen neu gedacht. Ähnlich vorigen Filmen ist Longlegs v.A. optisch eine Augenweide. Jedenfalls dann, wenn man den heftigen Gebrauch von die Stimmung drückenden Filtern (Sepia, Grau) ab kann. Dann scheint nichts zufällig, alles erzeugt Atmosphäre. Die Gewaltexplosion genauso wie der ruhige Moment im heimischen Blockhaus, wo Harker Stille sucht – aber zu selten findet. Worin der Film außerdem brilliert ist den 90er Jahre Vibe aufrecht zu erhalten. Hier mal ein Bild von Präsident Clinton an der Wand, dort mal ein Song oder Klamotten und Frisuren, die wir für Vergessen geglaubt haben.
Satanische oder okkulte Motive im Allgemeinen sind außerdem Gegenstand von Longlegs. Die Filmschaffenden haben in nahezu jeden Bereich Genremotive eingewebt, manche davon herrlich unkonventionell wie die rückwärts beginnenden Credits. Was Schocker betrifft, setzt der Film vorrangig auf Jump Scares. Die sind ein bewährtes Mittel und funktionieren, aber auch eines, das relativ einfach zu erzeugen ist. Horror ohne Jump Scares ist eine andere Hausnummer. Auch das lange Warten darauf Longlegs endlich wirklich zu sehen gehört zu den effektiven, aber eigentlich etwas einfachen Mitteln. Nic Cage wiederum erkennt man wirklich nicht als Longlegs, wenn man es nicht weiß und der Charakter erzeugt tatsächlich Schauer.
Die Charakterisierung der Personen ist durchwachsen und formelhaft in Haupt- und Nebencharaktere getrennt. Hauptcharaktere haben Grauzonen, Nebencharaktere sind fast Karikaturen eines Rachetyps. Harker scheint stets in einem Zustand von Anspannung und Vermeidung zu verharren. Das Telefonat mit der Mutter will sie möglichst schnell rumkriegen. Augenkontakt mit den Kollegen vermeidet sie. Man fragt sich fast: willst du wirklich diesen Job machen? Aber sie will und geht insbesondere in der Suche nach Longlegs auf. Gerade diese Dissonanz und die fast autistisch anmutenden Verhaltensweise machen sie zu dem wahrscheinlich Besten an dem ganzen Film. Die Nebencharaktere hingegen kann man teilweise kaum ernst nehmen wie den Chef einer Psychiatrie, der sich der potentiellen Gefahr für oder durch seine Patient:innen absolut nicht bewusst zu sein scheint. Sollte das Comic Relief sein?
Schade ist nur, dass sich der Film nicht über Popcornkino-Muster erhebt und damit am Ende des Hypes nicht gerecht wird. Dazu gehören Quatsch-Details der Ermittlungen wie den Umstand, dass die Briefe von Longlegs bisher unentzifferbar waren. Dreißig Jahre lang. Es brauch erst die geniale Lee Harker, um das zu lösen. Selbst ich als Zuschauerin kann beim Anschauen der Briefe sehen, dass es eine einfache monoalphabetische Substitutionschiffre ist, d.h. jedes Symbol einem Buchstaben entspricht. Sowas löst man dank u.a. Buchstabenhäufigkeiten in jedem „Kryptografie für Anfänger“-Kurs. Ok, ich bin jobbedingt hier ausnahmsweise im Vorteil, aber ernsthaft: Kryptografie gab es auch schon in den 90ern, in denen der Film spielt.
Solche Details wollen an Spezialfälle und noch dazu reale wie den Zodiac-Killer erinnern, aber zumindest in diesem Fall mangelt es ein wenig an Glaubwürdigkeit, was schnell die Atmosphäre ruinieren kann. Etwas, das ich eigentlich auch nicht mehr in Thriller oder Horrorfilmen sehen will ist das, was ich den „Hollywood-Freeze“ nenne: wenn Hauptcharaktere in entscheidenden Situationen „einfrieren“ und nicht mehr fähig sind zu handeln. Natürlich ist das eine Stress- oder Angstreaktion, die sogar sehr real sein kann. Aber von geschulten Menschen und mehrmals im selben Setting sind das einfach ausgetretene Muster, die hin und wieder mal glaubhaft wirken mögen, aber es in den meisten Fällen nicht tun und gelinde gesagt nerven. Genauso wie die fehlenden Überraschungen im Writing – abseits von Jump Scares. Wer sich nicht gleich zu Beginn denken kann, dass Harkers Vergangenheit und die schräge Beziehung zu ihrer Mutter eine größere Rolle spielt, denjenigen ist nicht mehr zu helfen.
Also zurück zur Frage am Anfang: kann der Film dem Hype gerecht werden? Für mich nicht, nein. Man muss so viel eingestehen: er ist optisch überzeugend und ja, er hat einige schrecklich schaurige Szenen. Aber er baut sehr viel Erwartung auf und kann dann all der aufgebauten Energie nicht gerecht werden. Müsste ich die Punktewertung in einem Wo0rt ausdrücken, bediene ich mich bei der wortkargen Wertung meines Mannes(!): solide©.
Longlegs, USA, 2024, Oz Perkins, 102 min, (7/10)
Habt ihr auch dem Hype nachgegeben und „Longlegs“ geschaut? Wie hat er euch gefallen? Am Ende lässt der sich übrigens genug Freiheiten, um einen zweiten Teil zu ermöglichen, aber auch als „abgeschlossen genug“ betrachtet zu werden. Ich bin mir unsicher, ob ich ein Sequel, Prequel oder was auch immer schauen würde.
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