In der Arte Mediathek findet sich noch bis Februar ein Film, der wenn man die Zusammenfassung liest an die Corona-Pandemie erinnern könnte. Manch Werbetext möchte auch gern diesen Zusammenhang herstellen. Er mag zwar so gesehen zum rechten Zeitpunkt gekommen sein („Apples“ erschien 2020), viel mehr ist er aber eine fabelhafte, ruhige Tragikomödie, um Erinnerung und was man braucht, um mit dem Leben weiterzumachen. Die Besprechung ist spoilerfrei.
In den Nachrichten hören wir noch von den sich häufenden Fällen von plötzlicher Amnesie, dann sehen wir sie. Niemand weiß wie es dazu kommt, aber das System hat sich behelfsmäßig orientiert. Als unser namenloser Protagonist (Aris Servetalis) schlafend in der Endhaltestelle im Bus gefragt wird, wer er sei, bleibt er eben antworten- wie namenlos. Er führt keine Papiere mit sich. Und so landet er in demselben Krankenhaus wie andere Opfer der Amnesie-Pandemie. Tests werden gemacht, aber es scheint schlecht um sein Gedächtnis zu stehen. So bleibt nur eins: ab ins Programm, um sich ein neues Leben aufzubauen.
Was gehört zu einem Leben? Er bekommt eine Wohnung gestellt, Klamotten und auch ein Einkommen, um erstmal über die Runden zu kommen. Das System scheint hier die Menschen aufzufangen und doch irgendwie nicht. Unser Protagonist erhält täglich Aufgaben, die er absolvieren soll. Es bleibt unklar, ob die helfen sollen seinem Gedächtnis wieder auf die Sprünge zu helfen, seine eigenen Vorlieben kennenzulernen oder ihm die Gelegenheit geben sollen eine Identität zu formen. Denn ja, zum Leben gehören auch Erfahrungen, Wünsche, Individualität. Nur werden die Aufgaben gefühlt immer absurder und dieses neue Leben für den Protagonisten immer unbequemer.
Spätestens ab dem Zeitpunkt zu dem er die Klinik verlässt, hat der Film episodenhafte Züge, in denen sich der Namenlose durch seinen Alltag schlägt und versucht die Aufgaben zu bewältigen. Dabei lernt er u.a., dass er nicht so gern vom 10m Brett der Schwimmhalle springt. Der ganze Film hat in seiner herrlichen, unkommentierten Note einige schräge Momente, in denen man sich beispielsweise bewusst wird wie viele Menschen an dem irrsinnigen Programm teilnehmen. Das mag attraktiv klingen – Vater Staat macht darin, dass man erstmal „weitermachen“ kann. Aber weiter womit? Die Identitätslosigkeit und Anonymität all der Amnesie-Patient:innen gipfelt in absurden Situationen wie solchen, in denen beispielsweise der Protagonist einen anderen Mann trifft, der ihm fast bis auf’s Haar gleicht und auch dieselben absurden Aufgaben bewältigt. Worin ist da das neue Leben? Worin ist da der Mensch, der er oder der andere einmal war?
Ohne uns viel vorzugeben, stellt Apples (manchmal etwas zu leise) die Frage nach Identität und unseren Vorstellungen unseres Lebens. Erinnerungen, gute wie schlechte oder schmerzhafte, sind darin offenbar ein essentieller Bestandteil. Ohne sie wirkt unser Protagonist, als ob man ihm einen Teil seines Selbst amputiert hätte. Vielleicht gibt es auch noch einen kleinen Twist.
Apples (Μήλα „Mila“), Griechenland/Polen/Slowenien, 2020, Christos Nikou, 90 min, (8/10)
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„Apples“ hat mir sehr gut gefallen und es wäre schade sich eine solche kleine Filmperle entgehen zu lassen. Zumindest, wenn er euch nach der Besprechung einigermaßen interessant erscheint. 😉 Dieser Beitrag ist Teil des Booleantskalenders 2024. Jeden Tag in der Vorweihnachtszeit soll ein Post erscheinen.
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