Kurz vor meinem Urlaub kam ich in den Genuss das großartige Buch zu Ende zu lesen. Es ist jetzt zwei Wochen her. Ich hätte das Gesamtfazit und den Rückblick auf den dritten Teil des Buches sicherlich kurz vor dem Urlaub mit der heißen Nadel stricken können, aber ich wollte nicht. Was Ted Chiang hier bietet, muss man auf sich wirken lassen. Unter den Büchern ist es der teure Wein. Aber der, der trotzdem schmeckt. Nach meinem letzten Fazit bleiben mir drei Kurzgeschichten, die unterschiedlicher nicht sein könnten und die ich hier in der selben Art wie bisher kurz besprechen möchte. Zuletzt schließe ich mit einem Gesamtfazit des ganzen Buches – quasi der Kurzreview. Wer das eine oder andere nochmal im Detail lesen will, findet die Links zu allen Beiträgen der Leserunde am Ende des Artikels. Denn richtig – ihr erinnert euch: wir sind insgesamt vier Blogger, die das Buch gelesen und diskutiert haben. Unter dem Hashtag #StorieOfChiang auf Twitter könnt ihr immer noch unsere Gedanken mitlesen. Wir halten es weitestgehend spoilerfrei. 😉
„The Evolution of Human Science“
In der mit nur vier Seiten kürzesten Geschichte des Bandes wird uns eine Zukunftsvision präsentiert, die Chiang für ein Wissenschaftsmagazin schrieb. Es ging auch genau darum eine Vision der Entwicklung der Wissenschaft zu formulieren. Das gelingt Chiang. In seinem Blick in die Zukunft stagniert der Fortschritt. Zumindest für die normale Menschheit – ehe man sich versieht, ist da plötzlich die Rede von Metahumans. Das sind durch wissenschaftliche Methoden weiterentwickelte Menschen. Ihre geistige Leistung und Wahrnehmung ist enorm. Sorgt allerdings dafür, dass sie sich nicht mehr auf einer Ebene mit den „normalen“ Menschen befinden und beide quasi asynchron nebeneinanderher existieren, nicht mehr miteinander kommunizieren können und der eine an der Welt der anderen nicht teilnehmen kann. Was mit wenigen Worten geschildert wird, wirft wieder einmal ein krasses moralisches Dilemma auf den Plan. Wenn für normale Menschen die Wissenschaft und Forschung an ihre Grenzen stößt, dann wäre es eventuell wünschenswert Meta-Human zu werden. Aber damit riskiert man beispielsweise nicht mehr mit der eigenen Familie leben zu können. Ich bin fast überrumpelt von all dem was diese Theorie impliziert und für mögliche Folgen haben könnte in punkto Zwei-Klassen-Gesellschaft, Starke und Schwache, etc.
„But as metahumans began to dominate experimental research […]“ Woah. Das hätte ich mal wieder nicht erwartet. p.201 #StoriesOfChiang
— MissBooleana (@MissBooleana) 9. September 2017
Aber so richtig warm werde ich nicht mit #TheEvoOfHumanScience es ist mir sogar für einen Artikel zu kurz. #StoriesOfChiang
— MissBooleana (@MissBooleana) 9. September 2017
Aber dieses Gefühl des Überrumpelt-Seins sorgt auch dafür, dass ich mich mit der Geschichte am wenigstens identifizieren kann. Auch mit dem Wissen, dass es sich um einen wissenschaftlichen Artikel mit Spekulation und Zukunftsvision handelt, holt mich das Gelesene am wenigstens von allen Erzählungen aus dem Band ab. Ich vermute es liegt an der Kürze und den vielen im Nichts verhallenden Fragen, die nach dem Lesen zurückbleiben.
„Hell is the Absence of God“
Ich dachte ehrlich, dass man über Religion nicht mehr schreiben darf, es sei denn man will provozieren. In letzter Zeit erscheint es mir wie ein heißes Eisen, was die Gemüter höchstens erregt und zu hitzigen Debatten führt. Aber dann kommt der Chiang um die Ecke und entführt uns in eine Welt, in der Himmel und Hölle real sind. Es ist eigentlich fast schöner, wenn man an die Geschichte herangeht und nichts weiß. Zumindest war das für mich wahnsinnig verblüffend. Bei all den wissenschaftlichen Themen und Zukunftsvisionen der Kurzgeschichtensammlung erscheint mir Religion und Glaube als Thema fast schon entrückend. Beim zweiten Gedanken aber nur natürlich. Denn Ted Chiang hat scheinbar neben Wissenschaft vor Allem ein großen Hang zu moralisch verzwickten Themen und Gedankenexperimenten. Wie würde unsere Welt wohl aussehen, wenn die Menschen sich vollkommen bewusst darüber wären und sogar fast tagtäglich Beweise dafür sehen würden, dass es Himmel und Hölle gibt!? Wäre die Welt besser oder schlechter? Gäbe es überhaupt noch Kriminalität? Chiang lässt mich hier ein bisschen im Stich, denn er beantwortet die Frage nicht so richtig. Aber das macht nichts. Er zeichnet stattdessen anhand dreier Personen ein Portrait dieser Welt und wie wichtig Glaube hier ist.
Ted Chiang reißt das wieder so unterschwellig an, baut eine sehr dichte Welt, aber das Szenario wirft soviele Fragen auf! Krass.
— MissBooleana (@MissBooleana) 9. September 2017
Hell is the absence of god: god as a maniac motherfucker who doesn’t care about people 4/5*@phantasienreise @void_pointer #StoriesofChiang https://t.co/bkXyqB0w0d
— Binge Reader (@DJ7o9) 1. September 2017
Sabine fasst das kürzer zusammen als ich 😉 aber auch sehr treffend. Denn unser vom Glauben abgefallener Hauptcharakter reißt einige sehr krasse Situationen aus Liebe, Bitterkeit und einer markerschütternden, antiheldenhaften Menschlichkeit. Habe ich die Bitterkeit erwähnt?
„[…] it had always seemed to remote to consider, like wealth or fame or glamour.“ Talking about #heaven . p.209 #StoriesOfChiang
— MissBooleana (@MissBooleana) 9. September 2017
„Liking What You See: A Documentary“
Liking What You See ist eine Pseudo-Dokumentation, die sich des Themas Lookism widmet. Lookism ist die Diskriminierung aufgrund von Aussehen. D.h. das beispielsweise jemand, der nicht klassisch schön ist, anders behandelt wird als jemand, der als schön wahrgenommen wird. Natürlich steht da immer die Frage im Raum: was ist überhaupt schön? Aber das würde den Rahmen sprengen. Tatsächlich halte ich Lookism für allgegenwärtig in unserer Gesellschaft und dank Beauty-Youtubern und Instagram-Posern wird es definitiv nicht besser. In Ted Chiangs Pseudo-Doku werden die Interviewantworten verschiedener Personen aufgelistet. Dort geht es um eine Bildungseinrichtung, an der die Verwendung von Calliagnosia (kurz Calli) vorgeschrieben werden soll. Sozusagen als Immatrikulationsbedingung. Calli ist ein Verfahren bei dem ein Botenstoff im Hirn außer Kraft gesetzt wird, der verhindert, dass Menschen etwas als schön bewerten, was ansonsten unterbewusst passiert. Sie sehen rein optisch immer noch alles, aber die Trennung und Bewertung entfällt. Alle sehen gleich gut aus, denn es gibt kein häßlich und schön mehr. Eigentlich ein ziemlich guter Gedanke … so war mein erster Eindruck.
Dass der Ted Chiang über #Lookism schreibt, geht natürlich nicht ohne Wissenschaft 😀wieder ein interessantes Gedankenspiel #StoriesOfChiang
— MissBooleana (@MissBooleana) 9. September 2017
Aber die unterschiedlichen Meinungen im Buch sind legitim und laden zu einer großen Debatte ein. Ist es gut die Wahrnehmung von Menschen einzuschränken und sie darauf festzulegen? Wenn beispielsweise Eltern über Kinder verfügen, die vielleicht eigentlich kein Calli anwenden wollen? Nimmt man ihnen dann nicht Erfahrungen im Umgang mit Diskriminierung und Fairness? Und müsste man nicht eigentlich wo anders ansetzen und das Problem der Gesellschaft lösen, die Schönheit soviel Wert beimisst?
Gesamtfazit
Tatsächlich haben mich die letzten drei Geschichten des Buches weniger abgeholt als die ersten fünf. Aber sie sind trotzdem außerordentlich gut und reich an Ideen und Gedankenexperimenten, die mich ein ums andere Mal ins Staunen versetzt haben. Beim Lesen der Erzählungen habe ich ähnliches erlebt wie beim ersten Lesen von Haruki Murakami und Gabriel García Márquez‘ Büchern. Während manche literarische Kost wie eine Tütensuppe ist, die mich nur mit Cliffhangern füttert und gerade so bei Laune hält, sind die Erzählungen Chiangs (und von Murakami und Márquez) wie ein Vier-Gänge-Menü. Ich habe das Buch verschlungen und wollte gern weiter mit diesen vielfältigen Ideen gefüttert werden. Ist das Völlerei? Auf jeden Fall für mein Hirn, denn ich mag es, wenn Bücher meinen Kopf fordern. Einfach nur unterhalten zu werden ist auch nicht zu verachten, aber Ted Chiang hat mit so unterschiedlichen Darreichungsformen (Pseudo-Doku, wissenschaftlicher Artikel, Kurzgeschichte, Vergleich zu mathematischen Formeln, …) und Ideen neue Maßstäbe gesetzt. Natürlich muss man ein gewisses Interesse an Fantasy, fordernden Gedanken und Science-Fiction mitbringen. Wenn man das tut, dann sollte man dringend Ted Chiang lesen und findet in den Geschichten etwas das unterrepräsentiert in der Science-Fiction-Szene ist. Das Talent komplexe Geschichten und Gedanken in wenige Seiten zu gießen und dabei das Herz nicht außer Acht zu lassen. Ich werde nie vergessen mit wieviel Wärme Chiang über die Eltern-Kind-Beziehung in Story of your Life geschrieben hat. Stapeln wir mal nicht so tief: ich werde wahrscheinlich keine dieser Geschichten vergessen.
Zu den bisherigen Artikeln der Leserunde
20.08. Ankündigung von Kathrin
21.08. Ankündigung Miss Booleana
28.08. Erstes Zwischenfazit Miss Booleana
03.09. Erstes Zwischenfazit Kathrin
06.09. Zweites Zwischenfazit Miss Booleana
17.09. Zweites Zwischenfazit Kathrin
Wow, dieser Ted Chiang … den Typ möchte ich jetzt unbedingt mal treffen. Kennt ihr andere Geschichten von Ted Chiang? Was könnt ihr empfehlen? Habt ihr evtl die Geschichten, die ich hier vorstelle gelesen und anders empfunden? Oder habt ihr ähnliche Erfahrungen gemacht? Und die wichtigste Frage … wann startet die nächste Leserunde? 🙂
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