Wir lesen … „Exhalation“ von Ted Chiang #exchianging – Fazit

Zwei Jahre nachdem wir gemeinsam Ted Chiangs „Stories of your Life and Others“ lasen, haben sich Kathrin, Voidpointer und ich für Ted Chiangs neustes Buch „Exhalation“ zusammengetan. Das steht seinem Vorgänger an Ideen in nichts nach, soviel darf ich vielleicht vorweg nehmen. Wie es ein Kritiker treffend sagte, bringt Chiang das „Science“ zurück in „Science-Fiction“. So führte uns die erste Hälfte des Buches in virtuelle Welten, brachte uns mit fremden Spezies zusammen, erzählte Geschichten aus Tausend-und-eine-Nacht gepaart mit Zeitreise und stellte die Frage, ob wir einen freien Willen besitzen. Mit der Besprechung der zweiten Hälfte des Buches und dem entsprechenden Fazit endet für mich das gemeinsame Lesen hier schon – und es hat wieder viel Spaß gemacht. Unsere gesammelten Gedanken findet ihr auf Twitter unter dem Hashtag #exchianging. Und soviel sei hier schon verraten: mir hat die zweite Hälfte des Kurzgeschichtenbandes noch besser gefallen als der erste. Wer die Besprechungen der ersten Hälfte vermisst, kann gerne im ersten Zwischenfazit nachschlagen. 🙂

„Dacey’s Patent Automatic Nanny“

„Raising rational children“ – so das große Ziel von Dacey. Der musste kurz zuvor mit Erschrecken feststellen, dass seine Kinderfrau seinen Sohn schlecht behandelt. Ende des 19. Jahrhunderts beschließt er einen Automaten zu entwerfen, der ihm diese Aufgabe abnimmt und ohne irgendwelche Vorbelastungen, Stimmungen oder Bias ein Kind erzieht, indem er dessen grundlegende Bedürfnisse erfüllt. Mehr nicht. Das hat für Dacey, seinen Sohn und künftige Generationen Folgen. Chiang hat die Kurzgeschichte als (längliche) Beschreibung zu einem Museumsexponat eben dieser automatischen Nanny angelegt. Wieder sehr kreativ – Chiang sucht sich öfter eine spezielle „Darreichungsform“ seiner Geschichten aus. Wenn die jetzt noch entsprechend visualisiert wäre, würde das dem Ganzen das Sahnehäubchen aufsetzen.

Allerdings hat mich die Geschichte nicht so sehr abgeholt. Es ist nicht nur so, dass ich den Gedanken als abstrus empfand ein Kind emotionslos zu erziehen. Schließlich ist zu erwarten, dass es eine Konsequenz hat, die Chiang nach Cause-und-Effekt sehr smart auflöst. Die Beschreibung des Automaten wirkte aber leider sehr karg und ich konnte mir darunter nur ein kaltes Gerät mit wenigen Funktionen vorstellen. Mehr noch: ich habe mich gefragt wie diese Maschine überhaupt funktionieren kann. Wie in anderen Geschichten der Sammlung (wie The Lifecycle of Software Objects) hätte mir an der Stelle vielleicht etwas mehr Beschreibung geholfen, insbesondere wenn die Texte eher unemotionaler Natur sind (was durchaus nicht bei allen Geschichten Chiangs der Fall ist).

„The Truth of Fact, the Truth of Feeling“

Innerhalb der Kurzgeschichte gibt es zwei Erzählungen. Einmal die eines christlichen Predigers, der das Mitglied eines Stammes Lesen und Schreiben lehrt. Und zum Anderen die eines Vaters, der über eine neue Technologie schreiben soll, die es erlaubt jeden Moment des Lebens einer Person aufzuzeichnen. Er steht dieser Technik kritisch gegenüber. Zuerst habe ich nach der Verbindung der beiden Handlungsstränge gesucht, was mir dann die Geschichte selber bzw Chiang in seinen „Story Notes“ am Ende des Buches abnimmt. Der gemeinsame Nenner ist, dass beide Geschichten erzählen wie die Menschen von einer Form der Kommunikation zu einer neuen übergingen und welche Wachstumsschmerzen und Bedenken das mit sich bringt. Im Falle des Stammes von gesprochener Überlieferung zu geschriebener. Im Falle des besorgten Vaters zur Aufzeichnung von Erinnerungen statt der relativen unzuverlässigen und subjektiven Erinnerung der Menschen. Was wie eine Black Mirror Episode klingt (und ja tatsächlich sehr sehr nah an einer der ersten Staffel dran ist), hat aber eine überraschende Wendung und demonstriert wie selektiv unser Gedächtnis ist. Emotional hat mich die Geschichte mehr berührt und mir gefällt, dass Science-Fiction nicht immer nur in Dystopie ausarten muss, sondern auch eine „Tech-Positivity“ an den Tag legt. Würdet ihr euch so eine Technologie „installieren“ lassen?

„The Great Silence“

Das kam überraschend. Die Geschichte The Great Silence beginnt mit Reflexionen über die Versuche der Menschen mit extraterrestrischen Lebensformen zu kommunizieren. Aus der Sicht eines Lebewesens, das der Mensch fast ausgerottet hat – ich will nicht zuviel verraten, aber ich empfand die Geschichte kurz, zauberhaft, empathisch und erstaunlich versöhnlich.

„Omphalos“

Omphalos ist einerseits ein Relikt aus Delphi, das den Nabel der Welt markiert, als auch eine Idee des Kreationismus. Genauer gesagt die, das Gott die Welt erschaffen hat und bewusst „alt“ aussehen ließ. Chiangs Geschichte befasst sich daher nicht nur indirekt mit Religion. Wir sind darin Kopilot eine Wissenschaftlerin, die einen gemeinen Betrug aufdecken will. Währenddessen erfahren wir, dass in ihrer Welt die Existenz von Gott und der Schöpfungsgeschichte belegt ist. U.a. dadurch, dass Gott die Welt bewusst hat alt aussehen lassen – die Omphalos-Theorie. In dieser Version einer Welt ist es vollkommen normal, dass Wissenschaft und Religion koexistieren, ja quasi ineinander greifen. Hier offenbart die Wissenschaft mehr und mehr über die Schöpfung. Für mich verblüffend, da ich in unserem Alltag öfter eher wahrnehme, dass sich (Natur)Wissenschaft und Religion ausschließen. Mit einer Entdeckung gerät aber die Welt der Wissenschaftlerin dann ins Wanken.

Chiangs Omphalos hat mich total vom Hocker gehauen. Selten habe ich soviele interessante Ideen und Konzepte innerhalb einer Geschichte erlebt. Dabei macht er sich nicht nur Botanik und Astronomie zunutze, sondern schafft es auch Wissenschaft und Religion zu vereinen – zwei „Kräfte“ von denen ich eben den Eindruck habe, dass sie sich in unserem Alltag beißen und unvereinbar scheinen. Ein Dilemma, das bei mir als „gläubige Informatikerin“, manchmal zwei Herzen in meiner Brust schlagen lässt. Der Text ist als eine Art Tagebuch oder Gebet der Protagonistin geschrieben, zumindest spricht sie zu Gott.

„Anxiety Is The Dizziness of Freedom“

Lebt die Katze oder ist sie tot? Schrödinger lässt grüßen in dieser Quantentheorie-geschwängerten Geschichte. Anxiety Is The Dizziness of Freedom handelt von einer Welt, in der Menschen mittels eines Geräts Kontakt mit einer Paralleldimension aufnehmen können. Genauer gesagt entsteht eine solche „andere“ Version überhaupt erst durch den Versuch Kontakt mit der „anderen Seite“ aufzunehmen. Man verzweigt quasi die Realität durch das Anschalten des Kommunikationsgeräts. Der Datenaustausch ist schwierig. Bei manchen Geräten reicht es für nicht viel, bei modernen sind auch Videoübertragungen möglich. Die Kurzgeschichte hat gleich mehrere spannende Aspekte, die Material für ein ganzes Buch liefern. So sind viele Menschen schwer beeinflusst dadurch zu erfahren wie das Leben für sie in einer anderen Dimension verlief. Hat das andere Ich den Job bekommen? Den Typen rumgekriegt? Oder ist schlimm erkrankt? Daraus ergeben sich unweigerlich viele Konsequenzen. Einige Menschen machen daraus gar ein großes Geschäft. Die Möglichkeiten, die Chiang hier aufspannt haben streckenweise ein bisschen was von einem Krimi und sind sehr spannend zu lesen. Wer fragt sich nicht ab und zu wie sein Leben verlaufen wäre, wenn man sich an einem Scheidepunkt im Leben anders entschieden hätte?

Fazit

Was war das wieder für eine Fülle an Ideen und Konzepten! Chiangs Kurzgeschichten haben Potential aus dem andere ganze Bücher und Buchreihen gemacht hätten. Aber ich bin dankbar, dass er es nicht getan hat. So bleibt die Idee erhalten und ist der Haupt-Protagonist anstatt durch viel Beiwerk verwässert zu werden. Er bedient sich Motiven wie der Viele-Welten-Theorie gepaart mit Quantenphysik, solcher Konzepte wie dem Kreationismus und vereint Wissenschaft und Religion mit ganz anderem Spannungspotential und findet wie auch schon in „Stories of your Life and Others“ viele unterschiedliche Darreichungsformen. Mal ist seine Geschichte eine gut gemeinte Notiz aus der Zukunft, mal die Beschreibung eines Museumsexponats, mal ein Vergleich im Geiste, mal klingt sie wie ein Märchen aus Tausend-und-eine-Nacht. Vielleicht ist es Meckern auf hohem Niveau, aber insbesondere mit Dacey’s und The Lifecycle of Software Objects waren mir manche der Geschichten zu nackt. Es fehlte an beschreibender Sprache, die mir half mir das Geschehen vorzustellen. Und manchmal endete die Handlung für mich gefühlt mitten im Geschehen. Aber dann waren da die letzten vier Geschichten des Bandes rund um Omphalos, die mich tief beeindruckt haben und auch wie beispielsweise The Great Silence sehr berührten. Es ist eine große Stärke von Chiang, das er nicht nur die Technologie verteufelt und das Geschehen in eine Dystopie abgleiten lässt, sondern dass er von dem Umgang des Menschen mit eben dieser Technik erzählt. Und Visionen aus sovielen Konzepten und Ideen speist, sodass sich alles stets „neu“ anfühlt. Das ist eine seltene Gabe. Die erste Hälfte des Bandes hat mich nicht so gekriegt, aber die zweite ist genial und lädt zum diskutieren ein. Und der immer präsenten Frage: wie hättest du reagiert?

Zu den bisherigen Artikeln der Leserunde

08.07. Ankündigung hier im Blog
22.07. Erster Zwischenfazit hier im Blog

Bevor ich nun schließe, noch ein Dankeschön an meine Mitleser ♥ Ted Chiang macht es mir immer einfach am Ball zu bleiben, aber der Austausch mit euch hat mir so oder so wieder viel Spaß gemacht. Auf’s nächste Mal? 🙂 Und an alle Leser: Kennt ihr Chiangs Bücher? Habt ihr vielleicht sogar „Exhalation“ gelesen? Und wie hat es euch gefallen? Welche der Ideen hat euch überrascht oder womit hattet ihr sogar mal Anknüpfungspunkte? Ich habe mal irgendwann über Kreationismus gelesen. Auch hat mich aus beruflicher Neugier die Geschichte „The Lifecycle of Software Objects“ sehr interessiert. Dass KIs darin mühsam trainiert werden kommt der Realität ziemlich nah 😉

4 Antworten

  1. Bin auch schon sehr gespannt auf die neuen Kurzgeschichten von Ted Chiang und ihr habt mir noch mal mehr Lust drauf gemacht 🙂

  2. […] und Zugang kann „Omphalos“ auch ganz anders auf Leser*innen wirken, wie Miss Booleana in ihrem persönlichen Fazit […]

  3. „Chiangs Kurzgeschichten haben Potential aus dem andere ganze Bücher und Buchreihen gemacht hätten.“ Wahre Worte! Mir geht es jedes Mal so, dass ich aus Chiangs Kurzgeschichten mehr herauslesen kann als aus manchen 500-Seiten-Schmöker der groß gefeierten (Science Ficiton)Autoren. Eine gute Kurzgeschichte zu schreiben, ist eine ganz eigene Kunst und Herausforderung – Chiang meistert das aber immer wieder aufs Neue mit Bravour.

    Während des Lesens hatte ich bei manchen Geschichten noch nicht so ein Gefühl der Begeisterung, der Funke wollte nicht ganz rüber springen. Aber nachdem ich alles ein wenig sacken ließ, hat mir die Sammlung als Ganzes wieder sehr gut gefallen. Sicher, manche Stories hätten vielleicht noch ein wenig Feinschliff bedarft, aber bei Chiang ist das Meckern auf hohem Niveau und verglichen mit anderen Werken sind selbst seine schwächeren noch grandios.

    Mit „Omphalos“ habe ich mich, wie du weißt, sehr schwer getan. Ich mochte die Ansätze und die Verbindung von Religion und Wissenschaft, aber gewisse Entwicklungen haben mich einfach nicht überzeugt. Vielleicht liegt es daran, dass ich selbst nicht religiös bin … Aber das ist ja das Besondere an so einer Kurzgeschichtensammlung: Jeder kann sich in einer anderen Geschichte auf seine Weise wiederfinden und jeder findet „seine“ Themen. 🙂

    Über den Aufbau der Nanny bzw. ihre Funktionsweise habe ich mir, ehrlich gesagt, keine genauen Gedanken gemacht. Ich habe sie aber auch eher als Maschine und weniger als KI oder ähnliches vorgestellt.

    „The Truth of…“ war in dieser Sammlung eine der Geschichten, die mich zwiespältig zurückließ. Ich mochte, was Chiang uns mit ihr aufzeigt, aber aus erzählerischer/ dramaturgischer Sicht hat mir die ganze Zeit etwas gefehlt, das ich aber nicht genau benennen kann. So richtig weiß ich noch immer nicht, ob mir die Story gut oder weniger gut gefallen hat.

  4. […] Erster Zwischenfazit hier im Blog 07.08. Fazit hier im Blog 25.08. Fazit von […]

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