Als Régine Fosca trifft, hält sie ihn für einen Sonderling. Aber gerade interessant genug, um ihn zu bemerken. Sie ist schön, arrogant, lebenslustig; eine Schauspielerin mit einem unstillbaren Durst nach Anerkennung. Er hingegen scheint sie kaum zu beachten. Und das macht sie wahnsinnig. Als sie endlich seine Aufmerksamkeit hat, drängt sie ihn, von sich zu erzählen. Was Fosca tut. Und das ist eine längere Geschichte, denn Fosca ist unsterblich. Er wurde im 13. Jahrhundert in der fiktiven italienischen Stadt Carmona geboren. Er sieht in Carmona Könige aufsteigen und fallen und beschließt das Elend zu beenden und der Stadt zu Wohlstand und Ruhm zu verhelfen. Doch schon nach kurzer Zeit merkt er, dass das ein längeres Unterfangen ist. Ein so langes, dass das kaum innerhalb eines Menschenlebens gelingen kann. Dann nimmt er einen Trunk zu sich, der ihn angeblich unsterblich machen soll. Und es funktioniert. Von da an vertritt Fosca sein Ziel mit allen Mitteln. Er wird König sein, Kaiser beraten und Luther begegnen, der übrigens wie ein Popstar gefeiert wird. Er wird seine Lieben verlieren, er wird selber verlieren, er wird betrogen werden, er wird aber nicht sterben. Er wird die Jahrhunderte überstehen, aber er wird nie in der Lage sein verschwinden zu dürfen. Und wird fast wahnsinnig.
„Ich bin am 17. Mai 1279 in Italien, und zwar in einem Palast in der Stadt Carmona, geboren. Meine Mutter starb kurz nach meiner Geburt. Ich wurde vom Vater erzogen, der mich selbst im Reiten und Bogenschießen unterwies; ein Mönch war damit betraut, mir Unterricht zu erteilen; er bemühte sich, mich Gottesfurcht zu lehren. Aber von frühester Jugend an dachte ich nur an die Erde und fürchtete mich vor nichts.“ p.103
Bis man dahin kommt, dauert es ein bisschen. Das Hin und Her zwischen Régine und Fosca nimmt gut ein Viertel des Buches ein. Ab dann ist Fosca der Erzähler, wo es bisher ein allwissender war – noch dazu einer mit einem kritischen Blick. Dieser Erzähler der Rahmenhandlung verhilft uns dazu zu verstehen, dass Régines krankhaft übersteigertes Bedürfnis das Hauptaugenmerk am besten aller Menschen in ihrem Umfeld zu sein, steigert sich zu der Besessenheit durch den unsterblichen Fosca selber unsterblich zu werden. Ein schwieriges Dilemma. Hätte sie Fosca nie kennengelernt, so hätte sie auch nie den Wunsch verspürt unsterblich zu sein. Zumindest nicht so. Aber Régine ist nicht nur ein eitles Miststück. Als sie beginnt Fosca zu lieben, hat man fast Mitleid mit ihr, der plötzlich alles andere nichts bedeutet. Für Fosca ist aber ein Menschenleben nur ein Wimpernschlag.
„Doch voll ernster Sorge sagte ich mir: Man kann den Hunger besiegen, man kann die Pest überwinden: aber wie wird man der Menschen Herr? p.255
„Vernunft wird die Welt regieren: meine Vernunft.“ p.215
Er musste früh erkennen, dass die Menschen eine unberechenbare Bande sind. Und während er an einem Ort versucht das Geschick zu lenken und alles wunderbar zu machen, entscheidet sich an einem anderen Fleck auf der Erde alles gegen ihn. Bald machen Macht, Titel und Kriege für Fosca keinen Unterschied mehr. Die zahlreichen Menschenleben, die er verloren hat, machen ihn müde. Und damit sind nicht nur die verstorbenen, geliebten Menschen gemeint. Sondern vor Allem die Kontinuität und der immer gleiche Ablauf. Erzählt er ihnen von seiner Unsterblichkeit, resignieren sie früher oder später und hassen ihn dafür, dass sie sterben müssen und er nicht. Erzählt er ihnen nicht davon, verliert er sie ja doch. Es läuft immer auf das Gleiche heraus. Der Fluch der Unendlichkeit.
„Die Leichen wurden begraben, die Häuser wieder aufgebaut, ich gewährte den Handwerkern Nachlaß für ihre Schulden; im Frühling blühten die Mandelbäume wie in jedem Jahr und die Webstühle schnurrten in den befriedeten Straßen. Aber in meinem Herzen war Asche zurückgeblieben.“
Während Simone de Beauvoir Fosca durch Jahrhunderte schickt und unser Geschichtswissen etwas aufpoliert, erleben wir einen mehr oder weniger rasanten Ritt. Während ich fasziniert davon war, welchen Kaisern und Persönlichkeiten er begegnet und wie er den Wandel der Zeiten und Mentalitäten erlebt; kam das Buch im Buchclub durchwachsen an. Typischerweise gab es Leser, die entweder die Rahmenhandlung mit Régine gut fanden, dafür aber nicht Foscas Ausführungen über sein Leben oder aber Leser, bei denen es genau umgekehrt war. Für mich war alles großartig. Ich konnte nicht genug davon bekommen zu erfahren was Fosca alles gesehen hat. Als er von seinen zahlreichen Leben und Abschieden gezeichnet nur noch ohne Zeitgefühl durch Kanada wabert und erzählt, dass er zwischendurch in Asien war, war ich sogar traurig, dass die rund fünfhundert Seiten nicht noch hundert mehr mit Berichten aus Asien enthalten. Auch wenn mich meine Geschichts- und Geografiekenntnisse zwischendurch auch mal verlassen haben, so hätte das noch eine Weile für mich weitergehen können, was auch maßgeblich an Simone de Beauvoirs cleverer Sprache liegt. Auch wenn der Inhalt an vielen Stellen trocken sein mag, wenn man sich für Geschichte nicht begeistern kann, so ist es die Sprache jedenfalls nie. Sie schildert Foscas Gedanken und den Wandel der Zeit lebendig, entlarvend, clever und so als ob es heute geschrieben wäre. Und nicht 1949. Der Roman ist zeitlos.
„‚Haben Sie sich auch verirrt?‘
‚Ich kann mich nicht verirren‘ sagte ich, ‚denn ich habe kein Ziel’“ p.298
„‚Finde dich damit ab‘, sagte ich. ‚Ich sterbe nun einmal nicht.‘ ich lächelte. Ich verstand es sehr gut, so zu lächeln wie sie.“ p.344
Aber auch ein bisschen schwer zu verdauen. Man muss zwischen den Zeilen lesen. Für Fosca, der in Resignation und Wahnsinn abgleitet, ist das Leben bedeutungslos. Dahinter steckt doch vor Allem die Botschaft, dass das Leben nur dann bedeutungslos ist, wenn es nie endet. Dass Unsterblichkeit und das Streben danach das Leben sinnlos macht. Zu wissen, dass Freud und Leid nie einzigartig sein wird, zermürbt und macht den Geist müde. Was ist schon Unsterblichkeit? Dann doch lieber ein Leben leben. Aber glücklich sein, dass es ist. Und war. Alle Menschen sind sterblich hat mir viel gegeben.
„‚Um der Liebe Gottes Willen, gehen Sie fort‘, sagte er. ‚Gehen Sie fort, sonst fängt alles wieder von vorne an.’“ p.27
Fazit
Aufgrund der längeren Passagen um Foscas längeres Leben ist es von Vorteil, wenn man sich ein bisschen für Geschichte interessiert. Oder zumindest die Schilderung der geschichtlichen Zusammenhänge sowie einen nicht nur lebensbejahenden Unterton abkann. Wer das braucht, kann das als Trigger-Warnung verstehen. Wer das also abkann, den erwartet ein großartiges Buch.
„‚Und ich?‘ sagte sie.
‚Oh! Sie?‘ sagte er. Er zuckte die Achseln. ‚Das geht vorbei.’“ p.477
Besprochene Ausgabe: ISBN 978-3-499-11302-4, Rowohlt Taschenbuch Verlag
„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂
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