2019 bekam die polnische Schriftstellern Olga Tokarczuk rückwirkend den Literaturnobelpreis 2018. Ihr Name war mir nicht geläufig und das wollte ich, wie scheinbar einige, ändern. Die Aktion #OlgaLesen wurde u.a. von Karla Paul ausgerufen. Aus einer Mischung aus Solidarität für weibliche Autorinnen und Neugier griff ich nun zu einem Buch, das mir bei der #OlgaRecherche sehr positiv auffiel. Gesang der Fledermäuse handelt von einer zurückgezogen lebenden, älteren Polin; die Astrologie praktiziert und sich sehr mit der Natur verbunden fühlt. Als in ihrer Umgebung ein Jäger stirbt, ist sie überzeugt: die Tiere üben Rache und schlagen zurück.
„Sicher, war er es gewohnt, Befehle zu erteilen und von Anderen Gehorsam zu ernten, und sicher kam er leicht in Rage. Eine typische Jupiterpersönlichkeit.“
p. 36
Wie unsere Protagonistin heißt, soll hier keine Rolle spielen. Denn sie ist der Meinung Namen seien sowieso Schall und Rauch. Da kommt jemand daher und gibt dir einen Namen ohne dich zu kennen. Wozu sich darüber definieren? Jeder sollte sich seinen Namen aussuchen dürfen. Ihren eigenen Wunschnamen verrät sie uns nicht, aber die, die sie anderen gibt. Wie beispielsweise Bigfoot – das ist der Nachbar mit den großen Füßen, der wildert. Oder Griselda, die Autorin, die immer ein wenig blass und grau aussieht. Die (Anti)Heldin unseres Buches verdient ihren Lebensunterhalt mit ein paar Stunden Englischunterricht und sieht ansonsten ein wenig nach dem Rechten an den Häusern der Umgebung, während deren Bewohner weg sind, d.h. meistens während des Winters. Die Todesfälle häufen sich im ansonsten idyllischen Glatzer Kessel. Als es mehr und mehr Hobby-Jäger und korrupte örtliche Würdenträger trifft und die Mordfälle obskurer werden, scheint sich ihre Vermutung zu bewahrheiten. Rächen sich die Tiere für die Wilderei? Die Füchse der Fuchsfarm für das Abziehen ihres Fells?
„‚Der Mensch hat schließlich dem Tier gegenüber eine große Verpflichtung – er muss ihm helfen, das Leben zu überleben. Und er muss den Gezähmten ihre Liebe und Zärtlichkeit erwiedern, denn diese geben uns viel mehr, als sie von uns zurückbekommen. Und es sollte Sorge dafür getragen werden, dass sie ihr Leben in Würde verbringen. […]“
p. 125
„Hej Sokoly – AnnaLu & Shavez“, via Yerar11Shavez (Youtube) – der populäre Song wird im Buch mehrmals erwähnt. Und ordentlich dazu getanzt und gebechert. Aus zuverlässiger Quelle weiß ich, dass der Song hier mit etwas Dialekt vorgetragen wird. Was ich noch sympathischer finde.
Gesang der Fledermäuse ist eine Geschichte, die mit viel Empathie für Menschen wie für alle anderen Lebewesen geschrieben ist. Aber auch mit einem feinen Gespür für das janusartige, doppelgesichtige der Gesellschaft. Die Protagonistin ist da keine Ausnahme. Ihr wird irgendwann vorgeworfen, dass sie für Tiere mehr Empathie hätte als für die Menschen. Viele entgegen ihr resigniert „Aber es waren ja nur Tiere.“ Aber das Buch stellt vor Allem eben auch gerade jene wichtige Frage: warum sollte beides nicht auf selber Stufe stehen? Vielleicht ist unsere Protagonistin ein Beispiel für die Übertreibung dessen, was andere zu wenig beachten. Dass alle Lebewesen gleich viel wert sind. Das scheinen viele nicht so zu sehen und besonders gegen Ende des Buches gipfelt es immer mehr in Lobpreisungen und scheinheiligen Lobesreden auf eben diejenigen, die ihre Mitmenschen, die Tiere und andere Meinungen weniger schätzen als sich selbst. Aber Olga Tokarczuk macht klar, dass sie hier alle Menschen in einen Topf wirft. Niemand ist unfehlbar. Auch nicht unsere Antiheldin. Mit ihrem Gerede über Astrologie und ihren Ausrastern in unpassenden Situationen beraubt sie sich ständig selbst wissentlich ihrer eigenen Glaubwürdigkeit vor den Affen, den sie den Spiegel vorhalten will. Immerhin passiert das sehr lesenswert und stellenweise amüsant.
„Viele Männer erkranken mit fortschreitendem Alter an Testosteron-Autismus, was mit einem langsamen Schwinden der sozialen Intelligenz und einem zunehmenden Unvermögen, was zwischenmenschliche Kommunikation betrifft, einhergeht und auch das Formulieren von Gedanken beeinträchtigt.“
p. 33
Tokarczuk lässt eben jene Antiheldin eine beeindruckende und entlarvende Alltagsweisheit an den Tag legen. In ihrer Schilderung von Städtern, die die einen Pflanzen aus der Erde reißen und andere, gekaufte neu einpflanzen, erkenne ich mich etwas wieder. ^^ Mal abgesehen von der Gesellschaftskritik und dem Aufruf zu gegenseitiger Empathie zeigt Tokarczuk viel Liebe für schrullige Charaktere. Das sind die, die andere als „vom Rand der Gesellschaft“ bezeichnen. Meistens solche, die sich selber für sehr angepasst halten. Rand gibt es ja nicht wie wir wissen. Sie haben etwas eigenwillige Hobbys – übersetzen in ihrer Freizeit leidenschaftlich Blake. Haben fiese Krankheiten. Wurden introvertiert geboren, gemacht oder fühlen sich so wohler. Oder hauen jedem bei erstbester Gelegenheit ihr Horoskop um die Ohren. Leben abgeschieden und halten sich mehr von Menschen fern als sie Kontakte pflegen. In diese Ode an die, die sich trauen anders zu sein, mischt Tokarczuk schöne Poesie von Alltagsbeobachtungen. Über die Schönheit in einfachen Dingen wie wenn unsere Protagonistin die Wetterhochs- und -tiefs auf den Wetterkarten ziehen sieht und sich der Muster erfreut. Innovative und interessante Ideen einer Querdenkerin.
„Eine bewährte Art und Weise, um Albträume loszuwerden, ist es, sie einer offenen Klosschüssel laut zu erzählen und dann die Spülung zu betätigen.“
p. 130
„Die Aufteilung der Menschen in drei Gruppen – Skifahrer, Allergiker und Autofahrer – überzeugt mich ganz und gar. […] Skifahrer sind Hedonisten. […] Autofahrer hingegen wollen das Schicksal in ihre Hände nehmen, […]. Dann die Allergiker – immer im großen Krieg. Ich gehöre ganz sicher zu den Allergikern.“
p. 55
Gesang der Fledermäuse ist ein sehr ruhiger Roman. Ein bisschen Krimi, ein bisschen was zum nachdenken und zum schmunzeln. Auch wenn er mich als Krimi nicht abgeholt hat, habe ich doch die Charaktere sehr ins Herz geschlossen. Olga Tokarczuk hat ein großes Talent ganz zart Zeitgeist in ihre Erzählung einfließen zu lassen und die zwischen den Zeilen verborgene Kritik mit viel Gewicht nachhallen zu lassen. Beispielsweise, wenn von „Küchenprojekten – ganz ohne EU-Fonds“ die Sprache ist. Nachdem ich ein paar Interviews mit ihr geschaut (das von arte kann ich sehr empfehlen) und etwas mehr über sie gelesen habe, bin ich umso beeindruckter von ihr als Person. Sie spricht beispielsweise in höchsten Tönen von der Aufgabe der Übersetzer und ließ große Teile ihres Nobelpreisgeldes in Stiftungen u.a. für Übersetzer fließen. Das war definitiv nicht mein letztes #OlgaLesen, ich komme wieder keine Frage.
„Das Gefängnis ist nicht außen, es steckt in jedem von uns. Vielleicht können wir ohne es nicht leben.“
p. 43
‚“Curiosity is an important motivation.“ Olga Tokarczuk, Nobel Prize in Literature 2018‘, via Nobel Prize (Youtube)
Fazit
stiller Roman mit wenig Krimi, aber viel Mitgefühl und smart eingestreutem Zeitgeist
Besprochene Ausgabe: ISBN 978 3 311 10022 5, Kampa Verlag
„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂
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