Jeder von uns hat mindestens eine Adaption eines Philip K. Dick-Romans als Film oder Serie gesehen – darauf würde ich wetten. Meine Erstbegegnung mit Philip K. Dick als Autor war Das Orakel vom Berge und obwohl ich das Buch spannend fand, bin ich nicht ganz glücklich damit geworden. Da Blade Runner einer meiner Lieblingsfilme ist, war klar, dass sich der Vergleich zur Literaturvorlage Do Androids Dream of Electric Sheep? nicht ewig aufschieben lässt. 🙂 Soviel darf ich schon verraten: es ist anders als der Film, aber auch gut, wenn nicht sogar besser und ich konnte es kaum zur Seite legen.
Die Handlung setzt im Jahr 1992 ein. Die Erde ist ein unwirtlich gewordener Planet. Ein verheerender Krieg, der von allen als World War Terminus bezeichnet wird, hat nur Verlierer zurückgelassen. Durch die von Radioaktivität verseuchte Umwelt, sind die meisten Tiere ausgestorben, die Menschen durch Krankheiten gezeichnet und man sieht keine Sterne mehr am Himmel. Wer über irgendwelche körperlichen oder mentalen Beeinträchtigungen verfügt, wird nicht ganz unironisch als special bezeichnet oder gar abwertend als chickenhead. Ihnen ist es verboten zu heiraten oder zu emigrieren. Denn wer kein „special“ ist, hat die Möglichkeit zum Mars auszuwandern. Rick Deckard arbeitet für die Polizei von San Francisco als Kopfgeldjäger. Er mag zwar kein special sein, aber durch seinen Beruf ist er an die Erde gebunden. Deckard arbeitet als Kopfgeldjäger für die Polizei von San Francisco und „schickt Androiden in Rente“, die meisten von ihnen sind Flüchtlinge vom Mars.
„Do you think I’m an android? Is that it?“
Androiden werden Menschen als Anreiz geboten auf den Mars auszuwandern. Offenbar sind damit aber nicht längst alle „Andys“ zufrieden, vielleicht auch gerade wegen ihrer geringen Lebensdauer von nur wenigen Jahren. Auf der Erde werden Androide eher als Gefahr betrachtet und auf sie ein Kopfgeld ausgesetzt. Deckard muss zu Beginn des Buches einen besonders kniffligen Fall übernehmen, bei dem ein Kollege bereits schwer verletzt wurde. Er soll gleich mehrere Androide jagen, die Modelle eines neuen und besonders menschenähnlichen Typs sind. Um sie überhaupt von Menschen unterscheiden zu können, muss er dabei auf den sogenannten Voigt-Kampff-Empathy-Test zurückgreifen. Der Test fußt auf der These (oder Tatsache?), dass Androide keine Empathie für andere Lebewesen, vor Allem nicht für Tiere, empfinden. Ob dieser Test überhaupt noch bei der neuen Modellreihe funktioniert, testet er bei den Herstellern der Rosen Corporation selber, genauer an Rachael Rosen.
Als sich Rachael während des Tests als Android herausstellt und es selbst gar nicht wusste, verändert das etwas in Deckards Denke. Das Paradox ist ebenso auffällig wie der Überlebenswille der Androide. Offiziell gelten sie nicht als lebendig, aber ist es nicht ein Zeichen von Lebendigkeit einen Überlebenswillen zu haben? Und das beweisen die Androiden, die Deckard jagt ein ums andere Mal. Egal, ob man das an der Erschütterung Rachaels misst, der Aggressivität Roy Batys oder dem Versuch Luba Lufts sich aus der Situation herauszuwinden und Rick zum Zweifeln zu bringen. Von ihr stammt auch das Zitat, das hier als Überschrift dient. Luba Luft fasst den Widerspruch dabei gut zusammen. Warum sind dann Androide keine Kopfgeldjäger, denn offenbar haben sie ja keine Empathie. Warum sind Menschen Kopfgeldjäger, die sich doch aber durch ihre Fähigkeit zu Mitgefühl auszeichnen? Dieser Aspekt wird insbesondere in dem Film Blade Runner 2049 aufgegriffen.
Was erforderlich ist zu empfinden
Empathie ist ein großes Thema in Do Androids Dream of Electric Sheep? Vom Reinen Mitgefühl wurde es zur Religion und zur gesellschaftlichen Pflicht erhoben. Wie dieser „Trend“ entstand, wird nicht genauer erklärt. Aber er äußert sich prominent in der Verbreitung des Mercerism als Religion. Der Quasi-Glaubensführer ist Wilbur Mercer. Die Menschen haben zuhause sogenannte Empathy Boxen, die es ihnen erlauben Wilbur Mercer aufzusuchen und sein Leid während eines beschwerlichen Aufstiegs eines Hügels mit ihm zu teilen. Er wird mit Steinen beworfen. Während der Fusion können alle, die gerade teilnehmen, gar die Steine abbekommen und Wunden davontragen. Jeder bringt seine eigenen Emotionen mit in die Fusion – die Teilnehmer können so in suizidale Situationen geraten oder euphorisch-ekstatische. Es gilt als gesellschaftliche Verantwortung gegenüber anderen, das man Glück teilt und sich einer solchen Fusion anschließt.
„In that elevator at the museum, he said to himself, I rode down with two creatures, one human, the other android … and my feelings were the reverse of those intended. Of those I’m accustomed to feel – am required to feel.“ p.124
Empathie gilt v.A. auch Tieren und dem Leben – all dem, was auf der Erde auf dem absteigenden Ast ist. Der Voigt-Kampff-Empathy Test besteht beispielsweise aus reichlich Fragen, die mit Tieren zusammenhängen. Die Bedeutung von Tieren ist allgemein groß – sie gelten aufgrund ihrer drohenden Ausrottung als Statussymbol. Wer sich kein echtes Tier leisten kann, lässt sich ein elektrisches Anfertigen. Auch die „ersatz animals“ sehen den echten täuschend ähnlich. Niemand will, dass die Nachbarn merken, dass man „nur“ ein elektrisches hat. Rick Deckard und seine Frau haben ein elektrisches Schaf. Aber sobald Rick irgendwo ein echtes Tier sieht, ist er wie ein Abhängiger, der überlegt in wievielen Raten er es abstottern könnte, würde er es jetzt kaufen. Vielleicht ist es nur meine steile Vermutung, aber ich denke das hat weniger mit Empathie gegenüber den Tieren als der Angst der Menschen vor der eigenen Ausrottung zutun. Schließlich sind Menschen vielleicht bald eine vom Aussterben bedrohte Spezies.
„‚The androids‘, she said, ‚are lonely too.’“
Geneigte Leser dieses Blogposts ahnen es schon: Do Androids Dream of Electric Sheep? ist voll von faszinierenden, aber auch deprimierenden und nachdenklich machenden Ideen. Zig habe ich noch nicht genannt. Beispielsweise verfügen Haushalte über ein sogenanntes Mood Organ – eine Maschine, die es einem erlaubt seine Stimmung zu programmieren und die offensichtlich wirklich sehr viele unterschiedliche Modi kennt. Deckards Ehefrau Iran hat gar einen durchdachten Plan, wann sie welche Gefühle empfinden will. An der Ehe der beiden wird demonstriert wie einsam und desillusioniert doch die verbliebenen Menschen zu sein scheinen. Rick und Iran haben sich zu Beginn des Buches wenig nettes zu sagen. Iran hat es sich beispielsweise schon so abgewöhnt etwas auf natürlichem Weg zu empfinden (mental illness: „absence of appropriate affect“, p.3), dass sie sogar in ihrem Mood Organ scheduled, wann sie verzweifelt oder deprimiert ist.
Aber ihre Empathie füreinander kommt vielleicht zurück, wenn klar wird wie lebensbedrohlich Deckards Auftrag wirklich ist. Neben Deckards Suche nach den entflohenen Androiden gibt es auch noch einen parallelen Handlungsstrang, um einen „special“ – John Isidore. Er lebt in desolaten Umständen, ist wenig selbstsicher und hadert damit, dass er als chickenhead abgestempelt wird. Er begegnet der Androidin Pris, empfindet auch für sie viel Empathie und entscheidet sie vor Kopfgeldjägern zu verstecken. Natürlich ist es Rick, der Pris auf den Fersen ist.
„So I left the TV sound off and I sat down at my mood organ and I experimented. And I finally found a setting for despair. […] So I put it on my schedule for a twice a month; I think that’s a reasonable amount of time to feel hopeless about everything, about staying here on Earth after everybody who’s smart has emigrated, don’t you think?“ p.3, Iran zu Rick
empathisch = lebendig?
Es ist ein schmaler Grad zwischen dem scheinheiligen Maß, ob empathisch gleich lebendig bedeutet und nur lebendig schützenswert ist. Wenn Pris weint als sie einen frischen Pfirsich kostet oder fraglich ist, ob Rachael nicht Rick liebt und Liebe (oder Eifersucht) nicht mehr als genug Beweis für Empathie ist, dann befindet man sich schon knietief in den moralischen Fragen, die Philip K. Dicks Roman auslöst. Was das betrifft, tut es das Buch vieles anders als der Film, aber facettenreicher, mit mehr offenen Fragen und „anders gut“. Vor Allem dann, wenn der Spieß umgedreht wird. Es gibt ein Kapitel, in dem Rick ernsthafte Zweifel hegt, ob er nicht selbst ein Androide ist – wahnsinnig spannend gemacht! Echter Mindfuck. Es herrscht stetig eine sehr eigentümliche Stimmung von Zweifel an dem Begriff der Menschlichkeit, Existenzangst vs existenzieller Angst, Love lost und Love won.
Was es mir aber schwer gemacht hat dem Roman zu folgen ist, dass Philip K. Dick kein „Over-Explainer“ ist. Begriffe wie das Mood Organ, die Empathy Box oder der Mercerism an sich werden nicht erklärt, sondern erlebt und als Leser*in muss man sich selber einen Reim darauf machen. Hier hat das noch relativ gut funktioniert, da das Erleben sehr plastisch geschildert ist. Aber bei Das Orakel vom Berge hat mich das schon einmal fast vertrieben. Was mich aber fasziniert hat, sind die ganzen fundamentalen Fragen rund um das Sein und die langsame Erkenntnis Deckards, dass er es nicht mehr lange über sich bringt Androiden „in Rente zu schicken“. Das Buch ist ein Wachrüttler was falsche Empathie betrifft, denn dahinter verbirgt sich offenbar nur eine eher auf „früher war alles besser“ gerichtete Nostalgie und mangelnde Akzeptanz des „Fremden“. Es ist der älteste Fehler der Menschheit ein Lebewesen über das andere zu stellen. Die größten Unterschiede zum Film liegen wohl darin, dass der ganze Mercerism und die Metapher auf Tiere ausgelassen wird neben kleineren Details wie dem Begriff Replikant (Film) statt Android („Andy“) (Buch). Beim Lesen des Buches fällt deutlich auf wieviel Villeneuves Blade Runner 2049 aus der Literatur bezogen hat, was in Ridley Scotts Film fehlte.
Zum Abschluss noch ein paar spoilerbehaftete Fragen und Gedanken – ausklappen auf eigene Gefahr. Wer in den Kommentaren mitdiskutieren will, Spoiler bitte unbedingt gut kennzeichnen. Danke 🙂
Währen dich die ganze Zeit über eher etwas Mitleid mit den Androiden hatte, gibt es gegen Ende ein paar Handlungen, die fast den Eindruck erwecken, dass Androide tatsächlich keinerlei Mitgefühl haben (Pris und die Spinne, Rachael und die Ziege). Vielleicht versuche ich mir die Androiden jetzt „gut“ zu erklären, aber ist es nicht auch möglich, dass Pris‘ Folter eine Art Trotzreaktion ist, weil Menschen sie schlecht behandeln und töten wollen und sie sich an etwas rächen will, dass schwächer als sie ist und/oder von Menschen verehrt wird? Eine Art Rache? Dass Rachael die Ziege der Deckards tötet, könnte Eifersucht sein. Schließlich wird nur kurz zuvor die These aufgestellt, dass Rick die Ziege mehr liebt las seine eigene Frau und Rachael!? Und wie bereits oben angeteasert bringt mich das zu der Frage: haben sie wirklich keine Empathie? Warum haben sie keine?? Dass ihre „Schöpfer“ die Androiden für ihre eigens kreierten Mängel bestrafen zeugt auch von wenig Empathie. Die Theorie, dass Androide eben doch Empathie haben können, würde das Buch dann ziemlich auf den Kopf stellen und auch die Frage nochmal auf den Tisch bringen, ob Rick nicht doch ein Android sein kann. Er wurde getestet, ob er Empathie für Androide hat – aber es ist nicht bekannt, ob Androide Empathie füreinander haben können. Sie wurden immer nur auf Tiere und Menschen getestet.
Abgesehen von diesen fundamentalen Fragen ist es sehr spannend sich zu überlegen wieviel echte Menschen im Vergleich zu Androiden wir in den Buch kennen gelernt haben. Und sich zu fragen, wie viele Androide eigentlich auf der Welt sind!? Insbesondere die Fernseh-Ikone Buster Friendly befremdet mich. Der ist ja offenbar Nonstop auf Sendung. Vielleicht ist es aber auch einfach eine schöne Metapher auf Berieselung durch Medien. Auch interessant ist wie Ricks Begegnungen mit Mercer gegen Ende zu deuten sind. Einmal sieht er sich gar selber als Mercer, obwohl bereits bekannt wurde, dass Mercer ein einziger großer Betrug ist. Ist es, weil er inzwischen selbst mit den Androiden Empathie hat? Hat Rick die absolute Empathie erlangt?
„He thought, too, about his need for a real animal; within him an actual hatred once more manifested itself toward his electric sheep, which he had to tend, had to care about, as if it lived. The tyranny of an object, he thought. It doesn’t know I exist. Like the androids, it had no ability to appreciate the existence of another. He had never thought of this before, the smilarity between an electric animal and an andy.“ p.36
Fazit
Must-Read
Besprochene Ausgabe: ISBN 978-0-575-07993-9, Gollancz Fiction @ Orion Books
„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂
Schreibe einen Kommentar