Im „Booleantskalender“ widme ich mich heute einem Thema, an dem sich sicherlich schon die einen oder anderen von uns die Zähne ausgebissen haben. Und wer weiß – vielleicht liegt ja an Weihnachten unter dem Baum für euch einer dieser angeblichen Literaturklassiker. Um die soll es heute gehen, genauer die Begriffe Weltliteratur, Literaturklassiker und die sogenannten „Bücher, die man gelesen haben sollte“. Ich wette alle Literaturfans, Bücherwürmer und Buchblogger sind früher oder später bereits an den Klippen solcher Klassiker zerschellt. Müssten die nicht eigentlich gefallen oder sich gewichtig anfühlen? Warum war’s dann nicht so? Warum „Klassiker“ ein Begriff ist, den man nicht überbewerten muss.
Der Anlass für den überlangen Artikel und was „Krieg und Frieden“ damit zutun hat.
Leider muss ich ausholen, damit ihr wisst, von was einem Standpunkt ich komme. Aber hey: die Schlussfolgerung ist kürzer! Im Grunde gab es für meine Auseinandersetzung mit den Begriffen drei Auslöser. Zum Einen habe ich dieses Jahr Krieg und Frieden (KuF) gelesen und hatte damit eine nur mäßig gute Zeit. Ohne Fans des Buches verletzen zu wollen, muss ich sogar sagen: ich wünschte ich könnte mir die darin investierte Lebenszeit zurückholen. Es ist nicht mein Ziel euch zu verletzen. Das gilt für alle nachfolgend erwähnten Bücher und deren Fans. Liebt ihr es? Das ist vollkommen fein! Ich gebe ja nur meine Erlebnisse wieder, geprägt von anderen Erfahrungen und Erwartungen. Vielleicht hätte mir das Buch besser gefallen, wenn es nicht so oft in anderen Büchern referenziert oder von anderen Menschen als „Buch, das man gelesen haben muss“ und als „Klassiker der Weltliteratur“ genannt worden wäre. Vielleicht ist das Wort „Klassiker“ auch nur ein Schuss ins Knie. Mit KuF wurde ich das erste Mal seit Verbrechen und Strafe von Klassikern enttäuscht. Vor Allem vom Begriff des Klassikers. Das beide Autoren russische Autoren sind, ist nur ein Zufall. Ich wurde in meinem Leben auch schon von anderen Klassikern enttäuscht. 😉 Diese Leseerfahrungen bringen mich zu der Frage: Was ist ein Klassiker?
Auch der zweite Auslöser betrifft KuF. Als ich neulich durch diverse Social Media Beiträge von mir zu dem Thema scrollte, fand ich dort einen positiv gestimmten Kommentar, dass es schön sei, dass der Klassiker immer noch gelesen werden würde, v.A. da das die ungebrochene Relevanz in dieser Zeit zeigen würde. Ich vermute, dass das ein Hinweis auf den Ukrainekrieg ist, der kurz vor dem Kommentar ausbrach. Ich akzeptiere die Meinung der Person und schätze die Person sehr, aber sie deckt sich nicht mit meiner Einschätzung. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte und antwortete nichts. Einen freundlichen Kommentar wollte ich nicht mit einer Wall of Text quittieren. Das TLDR; meiner oben verlinkten Review ist, dass das Buch zumindest für mich ein überlanger Rant eines Mannes ist, der mit Historikern unzufrieden war und dachte, er muss mal auf die Pauke hauen. Ein Antikriegsbuch ist es für mich nicht. Klar, Tolstoi streut auch Gesellschaftsbilder der damaligen, russischen Eliten und Oberschicht ein. Sekundärliteratur kann man entnehmen, dass Tolstoi einen Wahnsinnsaufwand betrieben hat, die Napoleonischen Kriege nachzuvollziehen und aufzuarbeiten, was ich nicht unter den Tisch fallen lassen möchte. Es gibt sicherlich Gründe, warum das Buch als Klassiker bezeichnet wird. Aber was hat das mit dem Jetzt zutun? Oder sogar mit dem Jetzt eines Ukrainekrieges?
Viele Passagen sind aus der Sicht nie geläuterter, kriegs- und kaiserverliebter Jünglinge geschrieben, die Krieg trotz haarsträubender Gegenbeweise in all ihrer Vernarrtheit glorifizieren. Der Rest obliegt dem Moralkompass von Lesenden. Wenn ich das nehme, ist der einzige Ankerpunkt zum Jetzt mit Ukrainekrieg, der „Krieg“ im Titel. Ich kann also nicht die Relevanz des Buches für die Menschheit beurteilen, aber zumindest für das oben genannte „Jetzt“, dadurch dass der Krieg mir sehr nahestehende Menschen direkt betrifft und ich mich viel damit auseinandersetze. Macht mich das jetzt zu einer Autorität? Sicherlich nicht, ich bin ja nur „eine Person“. Und wer ist das dann? Das bringt mich zu der zweiten Frage: Worin liegt die Relevanz von Klassikern?
KuF zu lesen hat mir niemand aufgedrängt. Ich war neugierig, wegen der Atmosphäre, die der Begriff „Klassiker“ mit sich bringt, weil es das Lieblingsbuch einer sehr geschätzten Freundin ist und wegen meines positiven Bildes von Tolstoi und seiner Anna Karenina. Aber was ist mit dem empörten „Das ist doch aber ein Klassiker!“ das ab und zu jemand zwischen den Lippen herauspresst, wenn man sagt „mochte ich nicht“. So erst vor wenigen Wochen wieder erlebt im Zusammenhang mit einem Buch eines spanischen Autors. Was erwarten wir denn von einem Klassiker? Dass er automatisch gefallen muss, weil er so wichtig ist? Wer ist denn die Autorität, die ein Buch zum Klassiker erhebt? Beim Rumgoogeln über Sinn und Unsinn des Klassikerbegriffs stieß ich auf die Seite einer Uni, die mir Klassiker vorschlug: „Falls Sie einmal nicht wissen, was Sie gerade lesen sollen“. Vielleicht ist das schon augenzwinkernd gemeint. Wenn nicht, dann tue ich es 😉 Einiges davon habe ich gelesen und fand es gut, anderes erscheint mir nicht zwingend als ein happy-read und wiederum anderes finde ich sogar sehr fragwürdig. So eine Liste kann nur schief gehen, oder? Und so komme ich zu der dritten Frage: welche Klassiker sollte ich wirklich gelesen haben?
Wenn du mal wieder auf der Suche nach der Definition des Begriffs „Weltliteratur“ bist und die Seite der Uni Tübingen findest. Sorry Uni, nix gegen dich, aber … ich finde eine solche Liste kann nur failen. Oder bin ich jetzt nur eine andere Art Snob? https://t.co/tLXhTdzR5D pic.twitter.com/ln7KeoaLGl
— MissBooleana (@MissBooleana) June 16, 2022
Was ist ein Klassiker?
Was ist ein Klassiker? Wenn ich das mal ganz naiv in eine Suchmaschine meiner Wahl eingebe, dann finde ich u.a. die Definition des Liwi-Verlags:
„Ein Literaturklassiker im Sinne des Verlagsbuchhandels bezeichnet Werke, die den Stil ihrer Zeit und ihren Zeitgeist überdauert, die ihre Gültigkeit bewahrt haben, Werke, die bereits unzählige Male aufgelegt und noch immer gerne und oft gelesen werden. Klassiker sind Bücher, die ganze Lesergenerationen begeistern.“ Quelle: Liwi-Verlag
Der Verlag hat viele Klassiker im Programm. Vielleicht ist „immer noch lesen“ also auch ein Wunsch. Versteht mich nicht falsch, ich finde die Definition gut. Im selben Zusammenhang wird das kürzere und prägnantere Zitate Frank Kermodes verwendet: „Klassiker? – Alte Bücher, die die Leute immer noch lesen.“ Mit dieser Definition kann ich verblüffend gut leben. Aber das würde auch bedeuten, dass nur die Zeit zeigt, was sich als Klassiker bewährt. Ist das fair? Ist dann das Label „moderner Klassiker“ ein Oxymoron? Wikipedia versucht es so:
„Als „klassisch“ im allgemeinen sprachlichen Sinne wird etwas bezeichnet, das typische Merkmale in einer als allgemeingültig akzeptierten Reinform in sich vereint und mithin als formvollendet und harmonisch gilt. Das Klassische bildet somit den zeitlosen Kontrapunkt zur zeitabhängigen Mode.“ Quelle: Wikipedia
Was ist denn jetzt aber die Reinform von KuF? Urfassung oder äh, eine der „anderen“? Und was ist daran harmonisch? Versteht mich nicht falsch, das Ende von Verbrechen und Strafe ist sicherlich mega harmonisch, aber ist der sprunghafte Weg dahin formvollendet? Verständlich finde ich dann aber den Gegensatz zu Mode und das gibt mir einen Anhaltspunkt.
In seinem Artikel zu Filmklassikern befand Marco: „Ein Filmklassiker ist ein Film, der als übergeordnetes Vorbild für andere Filme fungiert.“ Später erweitert Marco das Zitat um die Aspekte Vorbild nach technischen Aspekten, etc. Hmmm ok. Geht das auch für Bücher? Und wie misst man eigentlich ein „Vorbild“? Müsste ich um den Klassikerstatus zu vergeben, dann schauen wie viele sich davon inspirieren ließen und woher weiß ich das? Gefühlt ist das eine spannende Definition, wissenschaftlich wohl aber nicht tragbar, weil nicht messbar. Der Duden hat sehr viele Definitionen für die Begriffe klassisch und Klassiker, die in eine ähnliche Richtung gehen. Bei Weltliteratur ist man sich aber einig. „Welt“ ist geografisch und kulturell geprägt:
„Gesamtheit der hervorragendsten Werke der Nationalliteraturen aller Völker und Zeiten“ Quelle: Duden
Mmmh, okay Duden, aber wer definiert hervorragend? Der Durchschnittswert der Bewertungen auf Amazon? Oh ich verschiebe das Problem in den nächsten Abschnitt. Auf jeden Fall sehen wir hier aber: auch der Kontext spielt eine Rolle. Klassiker werden offenbar nicht als Klassiker geboren. Ich mache daraus jetzt einen Mischmasch und komme raus bei meiner Definition eines Klassikers:
„Ein literarisches Werk gilt dann als Klassiker, sobald dessen Bekanntheitsgrad die Mode überlebt.“ Quelle: Miss Booleana, Kommentar: „Ich gab mein Bestes“. Ihr könnt, müsst aber nicht applaudieren.
Jetzt fragt ihr euch sicherlich wie man Mode definiert? Und ob ein bedeutendes Werk automatisch kein Klassiker ist, sobald wenig bekannt? Aaaah, ihr habt die Schwächen meiner Definition erkannt. Schade! 😉 Wissenschaftlich ist auch nicht. Ich vermute: der Definitionsversuch von denen da oben ist erwartungsgemäß schon gut. Ein Klassiker tut sich aus der Zeit und seiner Bedeutung hervor.
Worin liegt die Relevanz von Klassikern?
Der Stern sagt „15 Bücher, die man gelesen haben muss“, sind solche, die uns in faszinierende Welten eintauchen lassen und zum Nachdenken bringen. Hmmm, ok. Das müssten aber wohl nicht nur Klassiker sein, was? Pokémon lässt mich auch in faszinierende Welten eintauchen. In Denis Schecks Buch von 2019 (Schecks Kanon: Die 100 wichtigsten Werke der Weltliteratur) heißt es: Von »Krieg und Frieden« bis »Tim und Struppi«. Ah. Da ist er wieder. KuF. Welt.de ist vielleicht nicht meine erste Anlaufstelle für Literaturtipps gemessen an ihren Prioritäten: „Diese sechs unlesbaren Romane müssen Sie lesen“ titelt die verlinkte Webseite. Mein Bedarf ist für dieses Jahr gedeckt. Und für nächstes. Esquire sagt: „Von Goethe bis Homer: Diese Literaturklassiker und Weltautor*innen sollte man kennen“. Da ist es wieder: das sollte. Die Liste: ein weiteres Who-is-Who der Klassikerlisten. Und dann erinnern wir uns an die Schulzeit und die Klassiker, zu denen wir dort gezwungen wurden. Wie hat sich das angefühlt? Ziemlich staubig, aber habt ihr nach Jahren nochmal daran gedacht? Unser Buchclub war sich neulich einig. In der Schule gehasst – ja. Aber heute plötzlich Lust drauf bekommen. Für mich wären manche Bücher damals kein Klassiker. Aber heute. Entscheide ich also, was ein Klassiker ist? Ich sage: Ja. Aber dazu musst du es auch erstmal gelesen haben.
Weltliteratur bezieht kulturelle und geografische Aspekte mit ein. Manche Regionen und Kulturen sahen sich Herausforderungen gegenüber, die es in anderen so nicht gab. Ich nehme da mal als Beispiel die Wohnungsknappheit in Russland und wie das in Der Meister und Margarita von Bulgakow thematisiert wird. An anderen Orten der Welt ist das nicht so das Problem, denke ich. Oder der Ton in dem viele der Bücher ostasiatischer Autor:innen von Kang, über Murakami bis Ogawa geschrieben sind, der sich (sicherlich subjektiv) von anderen unterscheidet. Das offenbart: es gibt mehr Aspekte als die Zeit und das reine Label Klassiker. Der Kontext in dem ein Klassiker Werk (von mir, von euch) gelesen wird, spielt eine Rolle. Genauso wie der Kontext, in dem ein Klassiker Literatur entstand. Es ist also weder zu erwarten, dass was für dich ein Klassiker auch für mich ein Klassiker ist. Daher sind solche ominösen Listen trotz der hochtrabenden Versprechen im Titel Literaturtipps. Aber keine Listen von Autoritäten, die Klassikerstatus vergeben.
Welche Klassiker sollte ich wirklich gelesen haben?
Da kann es nur eine Antwort geben. Die, auf die du Lust hast oder bei denen du vermutest, dass sie dich in irgendwelchen Belangen weiterbringen. Klassiker lesen sich am besten, wenn sie einem nicht durch die Geschmackspolizei aufgedrängt wurden, sondern wenn man einfach motiviert dafür ist. Vor kleineren Rückschlägen bewahrt das nicht. KuF ist das Lieblingsbuch einer Freundin, die einen ähnlichen Geschmack hat wie ich. Trotzdem ist es eher unwahrscheinlich, dass uns alles gleich gut gefällt. Und wenn es so wäre, hätten wir auch sehr wenig zum Reden. Auch war ich motiviert es zu lesen. Sh%t happens!
Suchbild: Bücher, die für mich Klassiker sind?
„Klassiker der Weltliteratur“ – Review: 3 von 5 möglichen Sternen. „War so lala“.
Das ist mein Fazit 😉 Und die Überschrift nicht ganz ernst gemeint. Seit meinen Leseerfahrungen dieses Jahr finde ich Listen angeblicher Literaturklassiker untragbar, woraus auch der Titel des Blogartikels hier rührt. Klassiker – es ist nicht tot zu kriegen, dass uns irgendwann irgendwer versucht zu erklären, warum etwas ein Klassiker ist und damit meint: warum man das Buch seiner:ihrer Meinung nach gelesen haben sollte. Gedanklich streiche ich die Überschriften solcher Geschmackspolizei-Artikel und ersetze sie mit „Hier ein paar Literaturtipps“ oder manchmal auch „Hier ein paar Tipps, falls ihr Lust habt alte Bücher zu lesen“. Letzten Endes ist Klassiker zwangsläufig ein unscharfer Begriff und das Lesen von Klassikern wie von allen Büchern bleibt ein hit & miss, abhängig vom Kontext. Was hatte ich für Erwartungen als ich anfing zu lesen? Wie ging es mir beim Lesen? Die Bedienungsanleitung für alle Bücher und Medien setzt voraus, dass man idealerweise mal in Betracht gezogen hat in welchem Kontext das Buch entstand. Mir wird nicht alles gefallen, was ich in Klassikern finde. Aber ist es nicht besser es gelesen zu haben und zu wissen: damals war das so, heute nicht mehr – und das ist gut so? Der Kontext macht den Klassiker wohl zu dem, was er ist. Natürlich gibt es Klassiker, die mich begeistert haben. Aber ich muss euch die nicht verraten. Weil 1. der Blog kennt die. Und 2. ihr könnt eure eigenen Klassiker finden, wenn ihr wollt.
Header image/photo credit: Janko Ferlič
Das war ein länglicher Rant auf einen unschönen Trend. Wobei Trend kann man es ja schon nicht mehr nennen. Die Debatte was ein Klassiker ist und die Empörung darüber gab es wohl schon immer und wird auch eher nicht abzuschaffen sein. Zumindest war es für mich mal ganz spannend mir über den Begriff des Klassikers Klarheit zu verschaffen und hat mir geholfen zu einem Fazit zu finden. Dem Strich und der Summe, einer für mich tragbaren Definition wie ich künftig mit dem empörten „Aber das ist ein Klassiker!“ umgehen will. Vielleicht war es auch für euch erheiternd oder erhellend. Lasst mich gern wissen wie ihr Klassiker definiert oder wie ihr die Debatte seht. Hier geht es übrigens zu allen anderen Literarischen Fundstücken.
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