Neulich im Kino … Filmbesprechung zu „Bones And All“

Hmmm. Ein Film, in dessen Zentrum ein Kannibalen-Pärchen steht. Wie leite ich jetzt zu Weihnachten um? Also Weihnachten, ja, da wird viel gegessen und …, ach. Lassen wir das. 😉 Die Besprechung ist spoilerfrei und das 14. Türchen im Booleantskalender.

Marens Vater (André Holland) ist abgehauen. Alles, was Maren (Taylor Russell) bleibt ist ihre Geburtsurkunde, die ihr ihren wahren Geburtsort und den Namen ihrer Mutter verrät. Er hat nie über sie gesprochen. Außerdem hat er eine seiner Jacken hinterlassen. Etwas zum wärmen, auf der Reise die Maren zwangsläufig bevorsteht. Und eine Kassette, auf der er eingesprochen hat, was sie längst vergessen hat. Dass sie Menschen isst. Maren begibt sich auf eine Reise quer durch die USA um zu verstehen, woher dieser innere Drang kommt und in der Hoffnung von ihrer Mutter Antworten zu bekommen. Dabei begegnet sie anderen „Eatern“ wie dem Landstreicher Sully (Mark Rylance) und Lee (Timothée Chalamet). Aber haben Beziehungen bestand, wenn man nicht nur Mitmensch, sondern auch gleichzeitig Jäger und Beute ist?


BONES AND ALL | Official Trailer | MGM Studios, MGM, Youtube

Die sehr grafische Darstellung des Kannibalismus beschränkt sich auf eine Handvoll markante Szenen. Die muss man abkönnen, um den Film zu genießen. Sully, Maren und Lee beißen jedenfalls ordentlich zu. Der Hunger überkommt sie und sie versuchen Lücken im System zu finden, in dem Kannibalismus der ultimative Vertragsbruch zu sein scheint. Während Sully eine ganz eigene Vorgehensweise hat, versuchen Maren und Lee damit durchzukommen Menschen von der Erde zu tilgen, die (vielleicht) nicht vermisst werden. Wie Bonny & Clyde verstecken sie sich vor der Polizei und düsen in geklauten Autos über amerikanische Landstraßen, lose auf der Suche nach Marens Mutter. Der Schock sitzt, als ihre Idee doch nicht so gut funktioniert. Auch treffen sie andere Eater und „Fanboys“, die so gar nichts schwieriges an dem Leben zu finden scheinen. Es halten sich hartnäckig Mythen davon jemanden komplett zu verschlingen – „bones and all“, mit Knochen und allem. Maren kann diese Welt noch nicht fassen, wird davon überwältigt, nur gehalten von Lee.

Fokus von Bones And All ist nicht das biologische Verzehren und ob Kannibalismus überhaupt möglich ist, sondern mehr das Gedankenspiel. Zwar zeigen die kreativen Köpfe hinter dem Film in Blut getränkte Kehlen und Bettlaken, das aber nur als stakkatohaften Blick in einen Abgrund. Mit fantastischer, schwelgerischer, manchmal bedrückender, manchmal rauschhafter Bildsprache. Stattdessen konzentriert sich der Film auf die Menschen darin. Maren und Lee mögen sich als gesellschaftliche Outcasts platzieren, nur eine Unaufmerksamkeit entfernt davon weggesperrt zu werden, aber sie können nichts für ihre Veranlagung. Sie haben neben dem Hunger auch ein Gewissen und vor Allem sind sie einander genug. Was Taylor Russell und Timothée Chalamet auf die Mattscheibe transportieren ist eine erschreckend schöne Liebesgeschichte von gegenseitigem Verständnis und sich halt zu geben. Wie dort unser Moralkompass reinpasst ist die eine Frage. Was die ultimative Metapher des Films ist, wohl die Antwort.


Timothée Chalamet & Taylor Russell Break Down a Scene from ‚Bones and All‘ with Luca Guadagnino, Vanity Fair, Youtube

Wenn der Kannibalismus nur eine vorgeschobene Metapher ist, dann wofür? Ein teil davon ist naheliegend – es steht für einen Hunger. Nicht zwingend den augenscheinlichen Kannibalismus, aber den Hunger nach fast unerreichbarer Freiheit und Verständnis. Eine Schwelle zu überwinden. Die metaphorische Schwelle ist für Maren wohl die Veranlagung, die sie nicht überwinden kann. Die dafür sorgt, dass sie stets verlassen wird – von ihrer Mutter, von ihrem Vater. Der ihr Freundschaften und bedeutungsvolle Beziehungen verwehrte. Die Beziehung zu Lee steht unter keinem guten Stern. Das zu haben, was die anderen haben, auch wenn es die Begleitumstände nicht zulassen. Und wenn wir mal tief in uns gehen, fallen uns allen sehr weltliche Schwellen ein, die uns schon von dem abhielten, was wir wollten.

Es gibt eine Stelle gegen Ende des Films in der Maren und Lee den Traum leben wie „die Leute“ zu leben. Fester Wohnsitz, Job, alles gut. Aber kann das funktionieren? Es gibt Menschen und Situationen für die sich dieser Hunger nie stillen lässt, bedrückend geschildert an ihnen allen, auch Sully. Der Film spielt mit diesem Wunsch, diesem Hunger. Sowohl in Trent Reznors und Atticus Ross Soundtrack. Es gibt dort einen Track, der heißt „I’m With You (Always)“. Das titelgebende sich Einverleiben eines Anderen bedeutet auch, dass diese Person ganz in einen übergeht, in Blut und Fleisch. Ist das die einzige Art für immer zusammen zu sein?

Hier ist eventuell auch der Missing Link, der mir trotz der erneut großartigen Bilder gefehlt hat. Zwar denke ich nicht, dass eine Adaption die Literaturvorlage 1:1 adaptieren kann oder sollte, aber allein vom ersten Schauen von Bones And All allein, hat sich eines nicht erschlossen, ist zwischen Frame und Synchro verloren gegangen. Erst bei der Recherche über Camille DeAngelis Buch, auf dem der Film basiert, fiel mir ein Detail auf. Da hieß es sinngemäß, dass Maren nur einen Hunger auf diejenigen verspürt, die sie liebt. Das ist etwas, das man aus dem Film lesen kann, aber Zuschauenden nicht geschenkt wird. Der wohl einzige Kritikpunkt an dem Film, der den Kannibalismus der „Eater“ manchmal als stärkend, als Notwendigkeit und als Rausch bezeichnet. Der das Verlangen der Einsamkeit zu entkommen dunkel genug zeichnet, um dem Wort Kannibalismus gerecht zu werden, aber das Dilemma der Einsamkeit ziemlich weit hinter Interpretation versteckt. Obwohl es ein großartiger Film ist, wird er denke ich viel Schulterzucken auslösen, was ein Jammer ist.

Bones And All, Italien/USA, 2022, Luca Guadagnino, 131 min, (8/10)

Sternchen-8

Achtung – schlechtes Wortspiel. Luca Guadagninos Filme sind nicht alle besonders leicht bekömmlich. Ich kann mich noch erinnern, dass ich eine Freundin in sein „Suspiria“-Remake geschleppt habe, die danach eher verstört war und der ich wahrscheinlich noch heute was dafür schulde. (Sorry nochmal!) Aber seine Filme haben was und scheinen jeweils sehr zu verstehen, was Menschen im innersten bewegt. Die Bildsprache mag ich sehr gern. Sorry für das etwas unweihnachtliche Thema. 🙂 Ich habe mich aber echt sehr auf den Film gefreut und es war schon ein Geschenk den noch dieses Jahr im Kino sehen zu können. War der Hype dann gerechtfertigt? Ich denke schon. Wie seht ihr das?

4 Antworten

  1. Haben ihn auch gerade gesehen und mochten ihn beide sehr 🙂 Ich fand auch die Suspiria Neuverfilmung klasse. Liebe Grüße, Sabine

  2. Avatar von donpozuelo
    donpozuelo

    Sein Suspiria mochte ich nicht, mit seinem Call me by your Name konnte ich auch nicht so richtig was anfangen. Aber Bones and All fand ich sehr toll. Schönes Road Movie, tolles Filmpärchen und eine interessante Geschichte mit teilweise sehr schönen und teilweise sehr verstörenden Momenten

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Suspiria kann ich verstehen ^^ Was hat dich an Call me by your Name gestört!? Also … ich fand das Buch besser, davon abgesehen mochte ich aber auch den Film sehr.
      Kennst du schon „I am Love“ bzw „Ich bin die Liebe“ oder so im dt. Verleih? Mit Tilda Swinton? Den fand ich eigentlich … von allen am besten.

      1. Avatar von donpozuelo
        donpozuelo

        Mich hat an Call Me by your Name nichts gestört, der Funke ist einfach nur nicht so richtig übergesprungen. Es ist ein schöner Film, Italien und Sommer haben sich nie greifbarer angefühlt, aber irgendwie hat diese Liebesgeschichte bei mir nicht so funktioniert…

        I am Love kenne ich nicht. Schreibe ich mir aber mal auf die Liste.

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