Das Zusammenleben der Menschen und gegenseitige Akzeptanz ist fragiler als wir denken. Es braucht nur einen Moment, ein „Versehen“ und schon scheint ein Leben am Abgrund zu stehen. Nachdem Tasukus Mitschüler:innen gesehen haben, dass er auf seinem Handy den Link zu einem Boys-Love-Anime hat, bekommt er ein Label. Und das scheint nicht weg zu gehen. Seine Mitschüler nennen ihn schwul und finden gar kein anderes Thema mehr. Tasuku hält das nicht aus, fürchtet sich vor jedem nächsten Schultag und erwägt ernsthaft Selbstmord. Da erscheint eine seltsame Frau, die sich nur Frau Jemand nennt und bietet ihm an, dass er ihr alles sagen kann. Sie würde auch nicht zuhören. Für Tasuku verwirrend, aber genau das richtige Angebot. Er kann sich ihr anvertrauen und aussprechen, was er noch nicht mal sich selber eingesteht. Frau Jemand lädt ihn an einen Ort ein, an dem Tasuku viele Gleichgesinnte findet, die Lounge.
Der Manga Wer bist du zur blauen Stunde? hat mich schwer beeindruckt. In meiner Kategorie für angefangene Mangareihen habe ich nur geschafft Band 1 und 2 zu besprechen, da hatte ich sie schon ausgelesen. Was an dem Manga so beeindruckend ist, ist v.A. seine Seltenheit. Auf einem großen Markt voller boys love und (weniger) girls love Titeln, ist er ein queerer Manga. Einer, der sich nicht den Tropen und typischen Mustern hingibt, sondern wirklich das queere Leben in Japan adressiert. Tasuku trifft in der Lounge verschiedene Personen, die verschieden lieben und sich unterschiedlich identifizieren. Sie sind trans, sie sind lesbisch, sie sind schwul und manche von ihnen sind noch dabei sich selbst herauszufinden. Wir erfahren welchen Hürden und Meinungen sie begegneten, welche Ängste sie ausstehen und was sie bewegt. Auch welche Plattformen es für die Community in Japan gibt. Ein Dienst, den Boys und Girls Love Manga meist nicht erweisen, weil sie sich auf den Aspekt romantischer bis hin zum erotischer Inhalten konzentrieren, wo das „echte Leben“ häufig neben der Fiktion auf der Strecke bleibt. Natürlich hat beides Daseinsberechtigung.
Wer bist du zur blauen Stunde? spielt außerdem auf sehr angenehme und künstlerische Art mit dem magischen Realismus. Mal wirkt es so als könne Frau Jemand in der Luft spazieren und wer oder was sie ist, erscheint anfangs nicht erklärbar. Es ist die perfekte Metapher darauf, dass Frau Jemand eine gewisse Leichtigkeit beherrscht und über den Dingen zu stehen scheint. Was wir in Band 1 noch nicht ahnen ist, dass die Leichtigkeit teuer erlernt ist. Auch die Bildsprache greift magischen Realismus auf, in dem Tasuku beispielsweise metaphorisch in Scherben zerbricht als er sich das erste Mal eingesteht, dass er schwul ist. Die Scherben enthalten aber auch Wünsche, Bedürfnisse und Abbilder des Mitschülers, in den er sich verliebt hat. Anders beispielsweise Misora, ebenfalls Besucher:in der Lounge. Tasuku braucht eine Weile um zu verstehen, dass Misora nicht nur der Junge in der Lounge ist, der ihn ab und zu anpöbelt, sondern auch das Mädchen, was dort ab und zu still sitzt und liest. Ob Misora einfach gern Mädchensachen trägt oder trans ist oder etwas ganz anderes, bleibt (vielleicht) offen. Denn es kostet Zeit sich seiner selbst gewiss zu werden. Das muss auch Tasuku lernen, der auf Teufel kommt raus versucht Misora zu „helfen“ Antworten zu finden. Seine Hilfe erzeugt aber mehr Reibung als gut tut. Misoras Geschichte wird oft assoziiert mit einem Goldfisch im Aquarium, denn Misora fühlt sich wie ein Ausstellungsstück, das alle ansehen und irgendetwas erwarten. Kamatanis Bilder sind metaphorisch, professionell, einfühlsam, wunderschön, nie zu schmerzhaft.
Kein Wunder, dass der in Deutschland in vier Bänden erschienene Manga als Slice of Life, Drama oder sogar Seinen (was sich mir noch nicht erschließt, Seinen=“Manga für junge und erwachsene Männer“) gelabelt wird anstatt als Romance, Boys/Girls Love, etc. Schließlich treten mehrere queere Personen inklusive ihrer Geschichten auf. So beispielsweise gleich zu Beginn die aufgeschlossene Haruko, die mit ihrer Partnerin zusammenlebt. Beide leiden aber darunter ihre Beziehung nicht publik machen zu können und unter Diskriminierung. Nach und nach werden wir die Geschichten aller Mitglieder der Lounge erfahren und der letzte Band war für mich enorm emotional. Mangaka Kamatani gehört selber x-gender an. Dabei handelt es sich um den japanischen Sammelbegriff für verschiedene nicht-binäre Identitäten.
Mit Wer bist du zur blauen Stunde? gelingt es Kamatani den Erkenntnisprozess über die eigene Sexualität einzufangen – in diesem Fall mit Tasukus anfänglicher panischer Angst und Verweigerung. Es zeigt auch die Ablehnung und Schranken der japanischen Gesellschaft in, das will ich nicht verschweigen, schmerzhaften, aber kurzen Sequenzen. Vor Allem tut Wer bist du zur blauen Stunde? aber etwas, das ich so das erste Mal in einem Manga gesehen habe und absolut wichtig finde. Es zeigt den gegenseitigen Halt der Menschen und wie sich die queere Community in Japan organisiert. Ganz nebenbei begleitet uns der Manga mit den Charakteren durch alle Jahreszeiten, Alter und Stadien von Selbsterkenntnis und Beziehungen – und das spielend leicht und ohne Kalkül. Wer bist du zur blauen Stunde? ist angenehm erzählt und baut unterschwellig Lokalkolorit der Region Onomichi ein, sodass man am liebsten sofort hinreisen möchte. Großer Tipp, dessen einziger (halb-ernst) gemeinter Kritikpunkt ist, dass zwei der Cover Spoiler enthalten.
Fazit
Sehr lohnenswerte und einfühlsame Reihe über die queere Community und queeres Leben in Japan.
„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂
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