Dem haben wir entgegen gefiebert. Zwei Freundinnen, die Science-Fiction lieben und in punkto Feminismus eine Meinung haben. Ich als Fan der bisherigen Filme Giorgos Lanthimos Filme und meine Begleitung, die selber gerade einen weiteren Take auf Frankenstein liest. Hat „Poor Things“ gehalten, was wir uns davon versprochen haben?
Max McCandles (Ramy Youssef) kann sein Glück nicht fassen. Nicht nur bemerkt sein Idol Dr. Godwin „God“ Baxter (Willem Dafoe) ihn, nein, er will auch noch, dass McCandles ihm assistiert. Das „Projekt“ stellt sich als Bella (Emma Stone) heraus. McCandles soll überwachen wie schnell sie Fortschritte macht. Ihr Verstand wäre auf dem Level eines Kindes, ihr Körper ist aber der einer Erwachsenen. Warum versteckt Baxter Bella aber so frenetisch? Wo kommt die junge Frau her?
Es braucht nicht lange bis McCandles erraten kann, was es mit Bella auf sich hat. Währenddessen macht Bella sehr schnell Fortschritte und vor Allem will sie in die Welt hinaus. Sich der Zwänge von Baxter befreien, eigene Entscheidungen treffen und nicht immer mit einem „das tut man in der feinen Gesellschaft nicht“ abgestraft werden. Es beginnt eine Reise Bellas, in der sie ihre eigene Sexualität erkundet, die Welt von ihren schönen und nicht so schönen Seiten sieht, sich emanzipiert und bildet und noch mehr Männern begegnet, die sie lieber einsperren oder entmündigen würden.
Giorgos Lanthimos verfilmte Alasdair Grays Roman desselben Titels nach einem von Tony McNamara adaptierten Drehbuch. Poor Things basiert lose auf Mary Shelleys Frankenstein oder Der moderne Prometheus. Die Geschichte ist das feministische Gegenstück zum Shelleys Frankenstein, welches das Thema der Emanzipation vom „Schöpfer“ und Erkennen des Selbst auf die Rolle der Frau in der Gesellschaft überträgt. In erster Linie die viktorianische Gesellschaft, in der das Frankenstein-Motiv Shelleys entstand. In der eine Frau, die ihren Kopf durchsetzt, mit Konventionen bricht und ihre eigene Leidenschaften und sexuellen Wünsche auslebt als von der Norm abweichend, gar als „Monster“ oder „Geisteskranke“ gebrandmarkt wird. Bella fügt sich nicht den üblichen Verhaltensweisen, die Männer der damaligen Zeit von Frauen erwarteten. Angetrieben durch die Anziehung zum Dandy Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) folgt sie ihm auf eine Reise durch Europa und Nordafrika und treibt ihn mit ihrer Haltung, geradlinigen Argumenten und non-chalanten Art fast in den Wahnsinn. Dabei sagt sie einfach nur was sie denkt.
In all dem steckt natürlich auch ein Take, der auch auf heutige Geschlechterrollen wunderbar passt. Nur weil sie Sex mag und nicht sofort heiraten will, wird sie als Hure beschimpft. Etwas das für die Männer in der Geschichte natürlich nicht gilt. Sie kann zwar mit ihrem Körper machen was sie will wie ihr auch einige Personen zugestehen, ist aber trotzdem ständiger Bewertung durch dieselbigen ausgesetzt. Im Laufe der Geschichte wird sie durch Femizid bedroht. Ihre offen rausgesagten Beobachtungen und Begründungen ihres Verhaltens sind genauso wie die Allgemeinheit sich das ja eigentlich wünschen müsste: vollkommen rational. Zumindest nach Bellas begrenztem Erfahrungsschatz. Emotionen hat sie nicht, sagt sie sogar an einer Stelle. Obwohl sie also nicht von Gefühlen geleitet argumentiert, sind alle unzufrieden mit dem, was sie von Bella hören. Niemandem kann man es recht machen als Frau. Deswegen versucht Bella das auch gar nicht. Der Teil des Films macht auf eine bittersüße Weise Spaß. Es hat im Saal einigermaßen für Gelächter gesorgt wie Bella beispielsweise mit Marc Ruffalos Duncan Wedderburn emotional und finanziell Schlitten fährt. Aber nicht alles tut der Botschaft gut.
Den Coming-of-age-Teil der Geschichte verliert der Film irgendwo zwischendrin. Es wirkt so als ob die Vorstellung, dass Bella die Freudschen Phasen der psychosexuellen Entwicklung von Kindern durchläuft, ein bisschen mit den Filmmachern durchgegangen ist (orale Phase etc). So sehr es auch notwendig ist, dass weibliche Sexualität und Selbstbestimmung über den eigenen Körper in Bild und Ton verewigt wird, so exzessiv wirkt die Ausführung. Das zweite Drittel des Films erweckt den Eindruck eines einzigen großen Male Gaze. Gibt es irgendeinen Winkel aus dem wir die nackte Emma Stone noch nicht gesehen haben? Ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass sie den Oscar schon alleine für die Überwindung bekommen muss, all diese Szenen an einem Filmset über sich ergehen lassen zu haben. Und das fühlte sich für alle mit denen ich nach dem Film gesprochen habe ähnlich an. Und ähnlich unkomfortabel.
Man kann sich das jetzt natürlich schön reden, indem man sagt, dass auch dieser Male Gaze und dieses „The Only One“ Trope etwas ist, dass eben auf Frauen projiziert wird. Was aber ein für mich notwendiger und spannender Aspekt war ist der des letzten Drittels, in dem sozusagen „der Spaß vorbei ist“ und sie wirklich ihr Glück selbst in die Hand nimmt und nehmen muss. Sehr sehenswert ist der Film auch wegen seines Gesamtpakets aus Optik, Soundtrack, Maske, Kostümen und Kameraeinstellungen. Weitwinkel und Fischaugenperspektive sind wieder cool. Alles sieht aus wie ein buntes, abstruses Märchen mit Jules Vernes Vibes. Die Himmel vor den abstrusen Dampfschiffen und Küstenorten erinnern an 90er Computer Wallpaper. Der Soundtrack von Jerskin Fendrix schafft Raum für die abstruse Welt, in die Bella hineingeboren wurde wie auch die ruhigen Momente. Definitiv eine Welt, die nicht unsere ist – und in der daher die am Ende gezeigt schöne Utopie eher möglich ist?
Poor Things, UK, 2023, Giorgos Lanthimos, 141 min, (8/10)
Wenn ihr raushört, dass ich nicht restlos begeistert bin, dann stimmt das. Ich möchte Gray, McNamara und Lanthimos gern als Male Allies sehen und höre daher an dieser Stelle auf mich zu fragen warum ich den Begriff „Male Gaze“ nicht aus dem Kopf bekomme. Ich habe mehrmals gesehen und gehört wie (v.A. männliche) Film-Podcaster meinten sich mehr auf den Film als auf „Barbie“ zu freuen, die Freizügigkeit erwähnten, es als das bessere „Barbie“ betrachten. Klar – in der Wahl seiner Mittel ist „Poor Things“ einfach mehr Arthouse, mehr kopflastiger, weniger Popcornkino.
Aber es ist auch sexueller und ist schon alleine von der FSK Freigabe (FSK 16) nicht für alle Altersgruppen geeignet. Für die die noch lernen wie die Welt funktioniert, tut es also nichts (ich meine Kinder, falls ihr euch fragt). Die (wunderbar) verkopften Motive tun nichts für den Vergleich, wenn der andere als Film für ein möglichst breites Publikum ausgelegt ist. Die Filme wollen etwas ganz anderes, erreichen das auf ganz unterschiedliche Mittel und für ein anderes Publikum. Wer in „Barbie“ (FSK 6) ging, hatte eine gute Zeit, hat viel gelacht und wahrscheinlich trotzdem verstanden, dass Geschlechterrollen zu aller Zufriedenheit zu verhandeln sehr schwierig ist. „Poor Things“ geht das ganz anders an. Der Vergleich im Sinne von „die bessere Barbie“ macht daher überhaupt keinen Sinn. Nur weil es mal zwei Filme innerhalb eines Filmjahres (2023) gab, die zufällig Feminismus adressieren.
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