ausgelesen: JH „The Horizon“ (engl. Ausgabe)

The Horizon begegnete mir im Laufe des Jahres 2023, wo es häufig von Webseiten als herausragende Manhwa-Reihe gepriesen wurde. Manhwa sind Comics aus Südkorea, bezeichnen aber eher den Stil als zwingend das Herkunftsland. Stilistisch sind sie mit Mangas (Comics japanischen Stils) zu vergleichen, werden aber in der auch hier üblichen Leserichtung gelesen. Als es The Horizon dann in mehrere Listen à la „Top-Comics 2023“ schaffte, war ich endgültig neugierig. Und las die dreibändige Reihe in kürzester Zeit weg. Sie folgt einem namenlosen Jungen und einem namenlosen Mädchen durch blutige Unruhen. Sie versuchen gemeinsam zu überleben und immer weiterzumachen, weiterzugehen, immer dem Horizont entgegen.

👉 Inhaltswarnung für Erwähnung von Tod, Gewalt, psychische Erkrankung, Suizid.

Ob es sich dabei um einen Krieg, eine Zombie-Apokalypse oder eine Pandemie mit gewalttätigen Ausschreitungen handelt, erfahren wir nicht. Wenn man das will, kann man Hinweise für alles davon sehen. The Horizon ist durchaus brutal, aber kein Torture Porn. Es hält bei Gore nicht drauf, aber deutet blutiges Spektakel wirksam an. Allerdings so effektiv und pointiert, dass man sehr genau versteht, was hier passiert. Als wir den Jungen auf den ersten Seiten des ersten Bandes kennenlernen, hat er den Verlust der Mutter zu beklagen und wird aufgrund der Brutalität ihres Todes in eine tiefe Krise gestürzt. Etwas in ihm kippt – vielleicht das Bewusstsein, dass seine Kindheit und das Leben wie er es kannte, vorbei ist. Dann der Schwenk auf seine Umgebung. Nur wenige Panels machen uns auf überwältigende Weise klar wie viele Opfer es forderte, was auch immer hier passiert ist.

Im Folgenden erinnert The Horizon an viele andere Medien wie The Road oder The Walking Dead, in denen nicht nur „die Sache an sich“, sondern v.A. Menschen die Bedrohung sind. Menschen, die versuchen zu überleben und dabei bereit sind andere Menschenleben zu opfern. Oder auch welche, die sich aufgrund psychischer Belastung nicht mehr im Klaren über ihre Taten sind. Der Grat zwischen Mitleid, Bedauern, Wut, Trauer ist bei der Reihe sehr schmal. In anderen Worten: man braucht nicht mal einen halben Comicband, um sie alle zu durchlaufen.

Nicht alle der Muster und erzählerischen Mittel sind neu. Man hat oft das Gefühl beim Lesen das schon so oder so ähnlich irgendwo anders gesehen oder gelesen zu haben. Aber die Summe dieser Teile ist effektiv zusammengeführt. Natürlich gibt es das Aufeinandertreffen mit Menschen, bei denen Hoffnung auf friedliche Koexistenz da ist, die vielleicht enttäuscht wird. Natürlich werden viele der Eventualitäten aufgegriffen, die passieren können, wenn man auf der Straße lebt: Hunger, Durst, Krankheit, etc. Oftmals sind in diesen Situationen der Junge und das Mädchen ein Sinnbild für verschiedene Meinungen. Sie, der Pazifismus. Er steht für den Willen zu überleben und dafür wenn nötig auch zur Waffe zu greifen. Es liegt ein seltsamer Trost darin, dass zumindest sie beide trotz ihrer unterschiedlichen Sichtweisen friedlich koexistieren können. Dass sie beide namenlos bleiben in Nicken in unsere Richtung: wir alle könnten sie sein. Cliffhanger und düsteres Foreshadowing wiederum beherrscht Autor:in und Zeichner:in JH definitiv. Die Bände enden stehts an Stellen, die einen emotional zerstören.

The Horizon setzt dabei auf wenig Text. Die drei Bände sind schnell gelesen. Die Stimmung wird aber maßgeblich durch die Bilder beeinflusst und lässt uns mehr fühlen als alles zu kommentieren. Show, don’t tell – par excellence. Da gibt es viele Totalen auf die Umgebung der Kinder und sie darin als kleinen Punkt am Horizont, allein auf weiter Flur. Das stellt sie als von der Welt verlassen dar, hat aber auch eine Note von Friedlichkeit und Sicherheit. Schließlich geht die Gefahr meist von den Menschen aus. Der Stil wechselt mit der Stimmung und Situation. In besonders düsteren und aufrüttelnden Szenen wird der Zeichenstil manchmal grob, die Strichführung wild – so wie wir uns innerlich fühlen. Dann aber gibt es in Momenten des Aufatmens auch mal einen Tupfen Farbe. Denn ja – The Horizon ist wie man es mehr von Mangas als von Manhwas kennt größtenteils in Grauschattierungen gehalten, was vermutlich am Thema liegt. Aber es gibt Farbseiten, die dann mit entsprechender Wucht mitten ins Herz treffen.

The Horizon erschien 2016 als Webtoon, d.h. Online-Comic, unter dem Titel 수평선 („Horizont“) u.a. auf der Plattform Webtoons. Für den englischsprachigen Markt wurde es u.a. von Tapas online vertrieben und als Printausgabe von Yen Press bzw. dessen Imprint Ize Press, die ich gelesen habe. In dieser Version ist der Comic in drei Bänden abgeschlossen. Eine deutsche Ausgabe scheint es bisher nicht zu geben und ist auch meines Wissens Stand heute nicht angekündigt.

Man findet nicht allzu viel über Urheber:in JH. Laut Anisearch (Stand 20.02.24) handelt es sich dabei um einen männlichen Zeichner, der auch unter dem Namen Ji-Hun Jeong arbeitet und bereits einige andere Reihen fertig gestellt hat. The Horizon erzählt keine neue Geschichte, sondern ganz im Gegenteil eine sehr alte. Sie handelt vom Überleben angesichts von Trauma, von Resilienz und davon Vertrauen in andere zu fassen. Was The Horizon aber meisterlich tut ist die emotionalen Stellschrauben zu bedienen. Ich durchlief im Grunde alle Gefühle beim Lesen. Am Ende steht die Frage, werden der Junge und das Mädchen in der Lage sein immer weiter zu machen, immer weiter zu gehen, dem Horizont entgegen? Das ist sehr bildlich, verbirgt aber eine große Metapher: wie lange kann und will man weiterleben angesichts so viel Trauma? Das Ende des Bandes findet dafür eine deutliche Antwort. Der Horizont ist schließlich auch nicht endlich.

Fazit

Sehr lohnenswerte, emotionale Reihe

„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm. mit ein.

2 Antworten

  1. […] Berliner-Club-Szene darin wurde ich anfangs nicht warm. Absolut großartig fand ich den Manhwa The Horizon. Ich weiß nicht wie viele von euch für Comics sind, aber den empfehle ich einfach […]

  2. […] vermisst hat und sich fragt, was ich eigentlich zuletzt so gelesen habe, denen kann ich „The Horizon“ sehr ans Herz legen. Ich war hin und weg von der kurzen Reihe. Davon abgesehen fing ich auch eine […]

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